Читать книгу Philosophisch-theologische Streitsachen - Группа авторов - Страница 10

1.2 Zwischen natürlicher Theologie und Ethikotheologie

Оглавление

(1) Solche ‚deutliche, vernünftige, philosophische und gelehrte Erkenntnis Gottes‘ bildet in der rationalistischen Schulphilosophie bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die höchste Spitze der Metaphysik, genauer: der ‚speziellen Metaphysik‘, die auf die ‚allgemeine Metaphysik‘ oder Ontologie folgt und drei ‚rationale‘ Wissenschaften umfasst: Psychologie, Kosmologie und Theologie. Diese Metaphysik aber wird durch Immanuel Kant restlos und unwiderruflich zerstört. Das ‚Ende der Metaphysik‘ ereignet sich – wie Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm Friedrich Hegel sehr wohl gewusst und auch dezidiert ausgesprochen haben – nicht erst im Vormärz, sondern in Kants Kritik der reinen Vernunft (1 1781, 2 1787). Die ‚allgemeine Metaphysik‘ ersetzt Kant durch seine ‚transzendentale Logik‘; die drei Teildisziplinen der ‚speziellen Metaphysik‘ hingegen bilden den Gegenstand seiner ‚transzendentalen Dialektik‘, also der Aufdeckung des ‚transzendentalen Scheins‘. Dass die Vernunft nicht so weit reicht, Gegenstände zu erkennen, die über den Rahmen der Erfahrung hinaus liegen, ist im Grunde schon von der ‚transzendentalen Logik‘ her plausibel. Doch mit dieser äußeren, vom Boden der Transzendentalphilosophie aus vorgetragenen Kritik begnügt Kant sich nicht: Die drei Disziplinien der ‚speziellen Metaphysik‘ werden von ihm auch in immanenter Kritik als Pseudowissenschaften entlarvt, die ihre vermeintliche Evidenz Fehlschlüssen verdanken, und deshalb werden sie von ihm irreversibel zerstört. Hinsichtlich der ‚natürlichen (bzw. rationalen) Theologie‘ prüft Kant die „Beweisgründe der spekulativen Vernunft, auf das Dasein eines höchsten Wesens zu schließen“ – den ontologischen, den kosmologischen und den physikotheologischen Beweis vom Dasein Gottes –, und sie halten sämtlich nicht stand. Deshalb stellt er schließlich sein Résumé unter den sprechenden Titel ‚Kritik aller Theologie aus spekulativen Prinzipien der Vernunft‘. Kant zieht hier die Folgerungen aus seiner Kritik der Gottesbeweise; er stellt fest, „daß alle Versuche eines bloß spekulativen Gebrauchs der Vernunft in Ansehung der Theologie gänzlich fruchtlos und ihrer inneren Beschaffenheit nach null und nichtig sind; daß aber die Prinzipien ihres Naturgebrauchs [der auf Gegenstände möglicher Erfahrung geht] ganz und gar auf keine Theologie führen.“ (KrV B 664)

‚Null und nichtig‘: Diese harte Formulierung steht in einem Zusammenhang mit anderen Wendungen, in denen sich die Dämmerung der neuzeitlichen Ontotheologie ankündigt – wenn Kant etwa schreibt, die Gegenstände Gott, Freiheit und Unsterblichkeit hätten ein nur geringes spekulatives Interesse, und die theoretische Gotteserkenntnis sei „eine ermüdende, mit unaufhörlichen Hindernissen ringende Arbeit, von der gleichwohl wenig nützlicher Gebrauch zu machen sei“. (KrV B 826) Die – trotz aller ebenso ausführlichen wie minutiösen Kritik! – in diesen Wendungen manifeste, für viele damalige Ohren vermutlich empörende Unbeschwertheit Kants bei der Verabschiedung der zuvor schlechthin gültigen Transzendentaltheologie verdankt sich zu einem geringeren Teil seiner Annahme, dass die spekulative Theologie doch nicht so ganz ‚null und nichtig‘ sei. Sie sei nämlich, „aller ihrer Unzulänglichkeit ungeachtet, dennoch von wichtigem negativen Gebrauche“ oder von „regulativem Gebrauch“ – falls es nämlich auf anderem Wege möglich sei, dass „die Voraussetzung eines höchsten und allgenugsamen Wesens, als oberster Intelligenz, ihre Gültigkeit ohne Widerrede behauptete“. (KrV B 668) Dann nämlich könne die transzendentale Theologie „ihre Unentbehrlichkeit, durch Bestimmung ihres Begriffs und unaufhörliche Zensur einer durch Sinnlichkeit oft genug getäuschten und mit ihren eigenen Ideen nicht immer einstimmigen Vernunft“ unter Beweis stellen. Und Kant deutet in mehreren Vorblicken auch schon den Weg an, der zur Gewissheit der Existenz eines solchen höchsten Wesens führe: den moralischen Weg, den Weg einer praktischen Neubegründung der philosophischen Theologie. (KrV B 669. 664. 668)

(2) Es mag eine Konsequenz der – nach einem Wort Moses Mendelssohns – ‚alles zermalmenden‘ Radikalität von Kants Kritik der spekulativen Theologie sein, dass er es auch in der Kritik der reinen Vernunft weder bei der bloßen Negation noch auch bei solchen Andeutungen belässt, sondern bereits auf diese, für die philosophische Theologie konstitutive Leistung der praktischen Philosophie vorausgreift. In der ‚Methodenlehre‘ formuliert Kant die drei Fragen, in denen sich „alles Interesse“ der Vernunft vereinige: „1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?“ (KrV B 833) Die zweite Frage, was zu tun sei, beantwortet Kant durch das schlechthin, ohne Rücksicht auf empirische Beweggründe – wie etwa die Glückseligkeit – gebietende Sittengesetz. Hierfür ist es keineswegs erforderlich, Gott als Urheber dieser Gesetze vorauszusetzen. Die Prinzipien der reinen Vernunft selbst schreiben a priori das Gesetz des Handelns vor. Zwar ist das Sittengesetz heilig und göttlich – aber nicht, weil es von Gott gegeben wäre, sondern weil es schlechthin verbindlich ist (KrV B 847).16

Den Schritt zur Rückgewinnung des zuvor bezweifelten Daseins Gottes durch die Ethikotheologie vollzieht Kant mit der Annahme, in der Idee der reinen Vernunft sei das System der Sittlichkeit unzertrennlich mit der Glückseligkeit verbunden (KrV B 837): Wie die moralischen Prinzipien nach der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch notwendig seien, ebenso notwendig sei der Vernunft in ihrem theoretischen Gebrauch, „daß jedermann die Glückseligkeit in demselben Maße zu hoffen Ursache habe, als er sich derselben in seinem Verhalten würdig gemacht hat“. Kant leitet diese Behauptung mit einem geradezu biblischen Pathos ein: „Ich sage demnach“, (KrV B 837) und er beschließt sie mit der Konklusion: „Gott also und ein künftiges Leben sind zwei von der Verbindlichkeit, die uns reine Vernunft auferlegt, nach Prinzipien eben derselben Vernunft nicht zu trennende Voraussetzungen.“ Doch Kant räumt zugleich ein: „die angeführte notwendige Verknüpfung der Hoffnung, glücklich zu sein, mit dem unablässigen Bestreben, sich der Glückseligkeit würdig zu machen, kann durch die Vernunft nicht erkannt werden, wenn man bloß Natur zum Grunde legt, sondern darf nur gehofft werden, wenn eine höchste Vernunft, die nach moralischen Gesetzen gebietet, zugleich als Ursache der Natur zum Grunde gelegt wird.“ (KrV B 838)

Hierfür führt Kant den Begriff des ‚höchsten ursprünglichen Gutes‘ ein – und er bekräftigt: „Also kann die reine Vernunft nur in dem Ideal des höchsten ursprünglichen Guts den Grund der praktisch notwendigen Verknüpfung beider Elemente des höchsten abgeleiteten Gutes, nämlich einer intelligiblen d. i. moralischen Welt, antreffen. […] Gott also und ein künftiges Leben, sind zwei von der Verbindlichkeit, die uns die reine Vernunft auferlegt, nach Prinzipien eben derselben Vernunft nicht zu trennende Voraussetzungen.“ (KrV B 838f.)

Der erste Satz trifft fraglos zu – aber auch er nur partiell: Allein die Voraussetzung des höchsten ursprünglichen Gutes berechtigt zur Hoffnung auf die Verwirklichung des höchsten abgeleiteten Gutes. Hingegen trifft es nicht zu, dass die Verknüpfung beider Elemente „praktisch notwendig“ sei. Was berechtigt dann aber dazu, die Voraussetzung des höchsten Gutes zu machen und den im zweiten Satz folgenden Schluss zu ziehen? Kants Argument wäre schlüssig, wenn – wie er behauptet – die Verbindlichkeit, die die praktische Vernunft uns auferlegt, nicht allein eine Verbindlichkeit zum sittlichen Handeln wäre, sondern gleicherweise die Verwirklichung der unserer Sittlichkeit angemessenen Glückseligkeit von uns verlangte. Doch die Verbindlichkeit der Vernunft ist eine Verbindlichkeit zum sittlichen Handeln; sie erstreckt sich nicht auf die Verwirklichung unserer künftigen Glückseligkeit – zumal wir hierfür in der Lage sein müssten, uns selber die unserer Glückswürdigkeit proportionierte Glückseligkeit zuzumessen! Deshalb lässt sich aus der Verbindlichkeit der Vernunft auch nicht das Gegebensein der Voraussetzungen erschließen, die für die Verwirklichung der wohlproportionierten Glückseligkeit erforderlich sind. Die Erwartung künftiger Glückseligkeit ist vielmehr eine zwar verständliche, aber für sich genommen leere und allein unter der Voraussetzung des Daseins Gottes plausible Hoffnung. Ein Schluss von einer Hoffnung auf die Proportion von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit, die allein unter der Voraussetzung des Daseins Gottes plausibel ist, auf das Gegebensein dieser Voraussetzung ist ein bloßer Zirkelschluss.

Kant lässt es aber nicht einmal bei diesem Zirkelschluss bewenden. Im Interesse der Sicherung des Daseins Gottes stellt er sogar die Verbindlichkeit der moralischen Forderung in Frage: Die der Sittlichkeit angemessene Zuteilung der Glückseligkeit sei „nur möglich in der intelligiblen Welt, unter einem weisen Urheber und Regierer. Einen solchen, samt dem Leben in einer solchen Welt, die wir als eine künftige ansehen müssen, sieht sich die Vernunft genötigt anzunehmen, oder die moralischen Gesetze als leere Hirngespinste anzusehen, weil der notwendige Erfolg derselben, den dieselbe Vernunft mit ihnen verknüpft, ohne jene Voraussetzung wegfallen müßte.“ (KrV B 839)

Damit unterwirft Kant die Verbindlichkeit der moralischen Forderung dem Eintreten eines ‚Erfolgs‘, der in der Verwirklichung nicht von Moralität besteht, sondern der – zwar verständlichen, aber keineswegs von der Vernunft gebotenen – Glückseligkeitserwartung dessen, der moralisch handelt, und er bindet sogar noch den Begriff des sittlichen Gebots an die Realisierung eines solchen ‚Erfolgs‘: „Daher auch jedermann die moralischen Gesetze als Gebote ansieht, welches sie aber nicht sein könnten, wenn sie nicht a priori angemessene Folgen mit ihrer Regel verknüpften, und also Verheißungen und Drohungen bei sich führten.“ (KrV B 839)

Damit aber knüpft Kant die Verbindlichkeit der moralischen Forderung an den erhofften ‚Erfolg‘, und damit macht er die moralische Forderung der Vernunft nicht allein vom Dasein Gottes, sondern ausdrücklich von der Wirklichkeit göttlicher Verheißungen und Drohungen abhängig. Gäbe es kein von der Welt unterschiedenes Urwesen und wäre unsere Seele nicht unsterblich, so verlören die moralischen Ideen und Grundsätze alle Gültigkeit. (KrV B 496) Statt also von der gesicherten Grundlage der in der Vernunft begründeten sittlichen Forderung aus auf das Dasein Gottes zu schließen, hebt Kant im Interesse der Vergewisserung dieses Daseins die Strenge der Vernunftforderung auf; er bindet sie an die göttlichen Verheißungen und Drohungen; er unterwirft die Gültigkeit der Vernunftforderung der Wirklichkeit des Daseins Gottes – kein Gott, keine sittliche Forderung! – und erklärt sie sogar – in Ermangelung eines göttlichen Richters – zu einem „leeren Hirngespinst“.

(3) Die Schwäche der auf die Ethik ja erst vorausgreifenden ethikotheologischen Skizze der Kritik der reinen Vernunft hat niemand eher bemerkt als Kant selbst. Doch obwohl er bereits 1785, in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, einen in wesentlichen Punkten verbesserten Entwurf einer Ethik vorlegt, übernimmt er die vorausgreifende ethikotheologische Skizze der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft unverändert in die zweite Auflage (1787). Schon im darauf folgenden Jahr trägt er in der Kritik der praktischen Vernunft den Zusammenhang von Ethik und philosophischer Theologie in neuer Gestalt vor. Auch dort gewinnt er jedoch noch nicht die abschließende Form. Alle auf die ‚erste Kritik‘ folgenden Ansätze lassen sich interpretieren als eine Sequenz von Versuchen, der in der ‚ersten Kritik‘ aufgetretenen Probleme Herr zu werden. Dass sie sich jedoch immer tiefer in Aporien verstricken, war spätestens gegen Ende der 1790er Jahre bekannt.

Dem Rückblick von der strengen Ethikkonzeption der ‚zweiten Kritik‘ aus, von ihrer Erklärung, dass die Achtung vor dem moralischen Gesetz die einzige sittliche Triebfeder sei, erscheint die Moralkonzeption der ‚ersten Kritik‘ als zutiefst unmoralisch: göttliche Drohungen und Verheißungen als Triebfeder sittlichen Handelns lassen keine Achtung vor dem Sittengesetz aufkommen. Damit büßt der Gottesgedanke in der ‚zweiten Kritik‘ einen Teil der Bedeutung ein, die er für die ‚erste Kritik‘ gehabt hat. Und diese Bedeutung ließe sich auch nicht dadurch zurückgewinnen, dass man dem Gottesgedanken den Rang einer zusätzlichen Triebfeder zubilligte. Denn eine derartige zusätzliche Triebfeder neben der reinen Achtung vor dem Sittengesetz bewirkte allenfalls legales Handeln, nicht aber moralisches. Schon Kants Orientierungsaufsatz betont, die Moral hätte keinen Wert, wenn sie durch Religion oder durch die Annahme Gottes begründet wäre; ähnlich argumentiert die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten,17 und auch die ‚Analytik der reinen praktischen Vernunft‘ in der ‚Elementarlehre‘ der ‚zweiten Kritik‘ lässt nichts anderes vermuten. Deshalb überrascht es, dass Kant ihr zum einen eine ‚Dialektik‘ anfügt und dort, zur Auflösung der Dialektik der praktischen Vernunft, auf die Themen ‚höchstes Gut‘ (in einem veränderten Sinn) sowie auf ‚Gott‘ und ‚Unsterblichkeit‘ – als ‚Postulate der praktischen Vernunft‘ – zurückkommt. Kants Beweisgang lässt sich, etwas vereinfacht, auf die kurze Form bringen:

1 Das höchste Gut ist uns als letztes Objekt des sittlichen Willens aufgegeben.

2 Wir müssen es deshalb bewirken können.

3 Moralität und Glückseligkeit, die beiden Elemente des höchsten Gutes, sind aber durchaus heterogen.

4 Ihre Verbindung kann als wirklich gedacht werden nur unter der Voraussetzung Gottes als des Gesetzgebers sowohl der moralischen als auch der natürlichen Welt, und unter Voraussetzung der Unsterblichkeit.

5 Deshalb sind das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit als Postulate der praktischen Vernunft anzunehmen.

Auch hier hält Kant somit am Gedanken der ‚ersten Kritik‘ fest, dass die Glückseligkeitserwartung unzertrennlich mit dem System der Sittlichkeit verbunden sei. Er gibt ihm eine verbesserte, allerdings ebenfalls nicht schlüssige Form. Für sie ist das Verständnis des höchsten Gutes als eines Objektes des sittlichen Willens grundlegend. Doch: Wäre das höchste Gut von der reinen Vernunft als Objekt sittlichen Handelns aufgegeben, so folgte daraus nichts weiter als in vergleichbaren Fällen: Wenn wir das höchste Gut verwirklichen sollen, so müssen wir es auch können – dank der Kausalität durch Freiheit, deren wir uns als Mitglieder der moralischen Welt auszeichnen. Wie dies möglich sei, könnte uns gänzlich unerfindlich bleiben.

Doch über ein solches, durchaus – in anderen Kontexten – Kantisches Argument hinaus ist auch hier zu betonen, dass das höchste Gut gar kein Objekt des moralischen Willens sei. Dass die reine Vernunft ein aus dem Sittengesetz erwachsendes Handeln gebiete, schließt keineswegs ein, dass die Verwirklichung auch des zweiten, nachgeordneten Elements des höchsten Gutes, der Glückseligkeit, geboten sei. Geboten ist, die Glückswürdigkeit hervorzubringen. Diese aber liegt in nichts als eben in der Sittlichkeit. Dass diese nicht allein Bestimmungsgrund des Willens, sondern auch Objekt des sittlichen Handelns sei, ist allerdings nicht strittig. Es ist deshalb eine leere Behauptung, dass das höchste Gut Objekt des sittlichen Willens sei. Wäre das höchste Gut, und nicht allein die Sittlichkeit Objekt des sittlichen Willens, so müsste ich auch sein zweites Element, die Glückseligkeit, verwirklichen sollen und können. Beides trifft jedoch nicht zu: weder soll noch kann ich sie verwirklichen. In einer nicht-moralischen Welt ist sie – bestenfalls – eine eher zufällige Folge des Handelns, zumal die Intention des Handelnden nicht auf ihre Verwirklichung gerichtet sein darf, wenn anders das Handeln moralisch sein soll – ganz abgesehen davon, dass der Handelnde sonst über das Maß seiner (oder fremder) Glückseligkeit bestimmen müsste. Deshalb berechtigt nichts dazu, das zur realen Möglichkeit des höchsten Guts Erforderliche – das Dasein Gottes – vorauszusetzen. Aber auch dann gilt die sittliche Forderung unbedingt – sonst wäre der ‚kategorische Imperativ‘18 kein ‚kategorischer‘, sondern ein ‚hypothetischer‘, lediglich unter der Voraussetzung der Realisierbarkeit meiner künftigen Glückseligkeit gebietender Imperativ. Analoge Einwände sind gegen das Postulat der Unsterblichkeit zu formulieren.19

Die – trotz der Veränderungen in der Grundlegung der Moral in der ‚zweiten Kritik‘ – strukturelle Ähnlichkeit der neuen Argumentation mit der vorhergehenden, v. a. aber wohl die Dominanz des Kantischen Interesses an der Sicherung des Daseins Gottes zeigt sich auch darin, dass er hier wiederum die Argumentationsrichtung umkehrt und die Gültigkeit des Sittengesetzes an dieses Dasein bindet: „Ist also das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so muß auch das moralische Gesetz, welches gebietet dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein.“20

Von Kants Prämisse her ist dies korrekt: Geböte das moralische Gesetz die Beförderung des höchsten Gutes, so wäre es allerdings als in sich widersprüchlich und als Phantasterei entlarvt, wenn jenes nach praktischen Regeln unmöglich wäre. Doch nichts nötigt zu dieser Annahme – außer Kants Interesse an der Sicherung des göttlichen Daseins. Der Aufbau der Theologie auf die Ethik, ihr Erwachsen aus der Ethik ist nur in dem Grade plausibel, als die Theologie für die Verbindlichkeit der ethischen Forderungen konstitutiv ist. Ist die Ethik in sich geschlossen, so entfällt die Berechtigung, über sie zu einer Ethikotheologie hinauszugehen. Gewinnt hingegen die Annahme des Daseins Gottes eine konstitutive Bedeutung, so zerstört dies die Autarkie, und der kategorische Imperativ wird zu einem hypothetischen, nur unter der Voraussetzung dieses Daseins geltenden Imperativ. Darin liegt das Dilemma der Wiedergewinnung des Daseins Gottes mit den Mitteln der praktischen Philosophie: Sie gelingt nur unter Aufhebung der Verbindlichkeit des Fundaments, auf dem sie beruhen soll.

Zwei Jahre später, in der Kritik der Urteilskraft (1790), hat Kant seine Begründung für die theologische Erweiterung der Ethik nochmals – und wenn auch nur leicht, so doch in einem wichtigen Punkt – revidiert: Sie versteht das ‚Objekt‘, das durch unsere Handlungen wirklich gemacht werden soll, präziser als ‚Endzweck‘. Abgesehen von dieser Modifikation bleibt die Beweisstruktur jedoch unverändert: Von der Behauptung, dass das höchste Gut als Endzweck aufgegeben sei, wird nun auf das Dasein Gottes als die Bedingung der Möglichkeit des Endzwecks geschlossen21 – und gegen einen solchen Schluss sind die bisherigen Bedenken zu erneuern. Doch in zwei Punkten geht die ‚dritte Kritik‘ über die zweite hinaus: Zum einen legt schon die Rede von einem ‚Endzweck‘ die Annahme einer zwecksetzenden Instanz nahe – und diese ist bequem als ein verständiges moralisches und zugleich die Welt erschaffendes und regierendes Wesen zu deuten. Dann braucht man – wie später Schelling an Hegel schreibt – den moralischen Beweis nicht lange an der Schnur zu ziehen, bis das persönliche Wesen, das im Himmel sitzt, herausspringt.22

Zum anderen aber verrät die ‚dritte Kritik‘ sehr viel deutlicher, woher das Element der Glückseligkeit im Begriff des Endzwecks stammt. Nachdem sie zunächst, in den grundlegenden Partien, wiederum als ein sekundäres Moment erscheint, schiebt sie sich in der Durchführung des moralischen Beweises in den Vordergrund. Der Zweck des Handelns wird nun primär vom Glückseligkeitsstreben bestimmt: Glückseligkeit sei ein in die endlichen Wesen durch ihre Natur selbst gelegter „unwiderstehlicher Zweck, den die Vernunft nur dem moralischen Gesetze als unverletzlicher Bedingung“ unterwirft, wodurch sie „die Beförderung der Glückseligkeit in Einstimmung mit der Sittlichkeit zum Endzwecke macht“. „Endzweck aller vernünftigen Wesen“ ist „Glückseligkeit, so weit sie einstimmig mit der Pflicht möglich ist“.23 Trotz Kants Rede von ‚Einstimmung‘ ist das Gewicht von Glückseligkeit und Moralität damit verschoben: Glückseligkeit folgt nicht der Moralität nach, und sie zu erstreben ist auch nicht vom Sittengesetz geboten. Sondern sie ist der von der Natur in uns gelegte Zweck, und unser Verlangen nach ihr wird durch Moralität lediglich in Schranken gehalten. Als Fundament des Zweckgedankens enthüllt sich das Glückseligkeitsstreben: „Die subjektive Bedingung, unter welcher der Mensch […] sich unter obigem Gesetze [sc. dem Sittengesetz] einen Endzweck setzen kann, ist die Glückseligkeit.“ Sie ist auch das höchste in der Welt mögliche physische Gut. Zwar steht sie „unter der objectiven Bedingung der Einstimmung des Menschen mit dem Gesetze der Sittlichkeit“24 – aber als einer sekundären Katharsis. Es geht nun weniger um die Frage, wie es als möglich gedacht werden könne, dass die vom Sittengesetz gebotene Glückseligkeit dem sittlichen Handeln auch wirklich folge, sondern primär darum, ob Aussicht bestehe, meine Glückseligkeit, an der ich ein natürliches Interesse habe, auch unter den Bedingungen des Sittengesetzes zu verwirklichen.

Und noch in einer weiteren Hinsicht setzt die ‚dritte Kritik‘ einen neuen Akzent. Kant betont nun mehrfach, was zuvor nur gelegentlich und verklausuliert anklingt: Die moralische Notwendigkeit zur Annahme Gottes sei subjektiv, Bedürfnis, zwar mit dem Bewusstsein der Pflicht verbunden, aber nicht selbst Pflicht.25 Nun heißt es, der Mensch bedürfe einer moralischen Intelligenz, um für den Zweck seiner und der Welt eine Ursache zu haben. Es gebe ein rein moralisches Bedürfnis der Existenz eines verständigen und sittlichen Welturhebers. Dies aber beschränkt die Überzeugungskraft des moralischen Arguments auf die Ebene eines solchen Bedürfnisses, also auf spezifisch menschliche Voraussetzungen: Es ist ein Beweis nicht κατ’ ἀλήθειαν, sondern κατ’ ἄνθρωπον. In den Kontext dieser Abschwächungen gehören auch Kants neues Verständnis des „Vernunftglaubens“ als eines – praktisch nicht notwendigen – „moralischen Glaubens“ und die Bezeichnung Gottes und der Unsterblichkeit als „bloßer Glaubenssachen“.26

Doch entgegen dieser Tendenz führt Kant hier seinen zunächst überzeugendsten Beweis, der allerdings letztlich ebenfalls in Folge der Argumente scheitert, die zunächst seine stärkste Stütze sind. Die ‚dritte Kritik‘ weist deutliche Zeichen der bewussten Korrektur früherer Formulierungen auf. Die ‚erste‘ und die ‚zweite Kritik‘ binden jeweils die Geltung des Sittengesetzes an das Dasein Gottes überhaupt. Dies hat den ungewollten Effekt, dass man wegen der nicht aus anderen Quellen gesicherten Annahme Gottes auch das Sittengesetz preisgeben kann: als leeres Hirngespinst (KrV B 839) oder als phantastisch und falsch.27 Die ‚dritte Kritik‘ verfährt deutlich vorsichtiger: Wer sich vom Dasein Gottes nicht überzeugen könne, habe keineswegs das Recht, sich von der Verbindlichkeit des Sittengesetzes loszusagen – allein der Endzweck müsse dann aufgegeben werden. Kant behauptet jedoch weiterhin, das Sittengesetz gebiete, den Endzweck anzustreben. Wenn die Verwirklichung des Endzwecks aber ohne die Annahme des göttlichen Daseins als leere Forderung erscheint, so sind dadurch nicht bloß diejenigen sittlichen Forderungen hinfällig, die sich auf die Verwirklichung der Glückseligkeit vollziehen; wenn das Sittengesetz hier widersprüchlich wird, wirkt sich dies auch auf seine anderen Gebote aus. Auch hier also bedroht das Argument, das das Dasein Gottes sichern soll, den Verbindlichkeitsanspruch des Sittengesetzes.

Doch knüpft Kant die Berechtigung zur letzten Konsequenz an eine Bedingung: Weil der sittliche Anspruch schlechthin ergehe, sei es nicht statthaft, sich ihm dadurch zu entziehen, dass man den bloß problematischen Charakter des Daseins Gottes gegen ihn geltend mache und dadurch die sittlichen Forderungen in Widerspruch mit sich selbst stürze. Die Konsistenz der praktischen Vernunft nötige, diese problematische Annahme aus praktischen Gründen zu teilen. Von ihr entbinden könne einzig die „völlige Gewißheit“ der Vernunft, dass die Ideen Gottes und der Unsterblichkeit gänzlich nichtig seien. Eine solche dogmatische Gewissheit der Nichtexistenz Gottes ist aber – schon nach der Kritik der reinen Vernunft – ausgeschlossen. Da das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit zwar problematisch blieben, aber doch widerspruchsfrei gedacht werden könnten, während die Annahme der Nichtexistenz Gottes die praktische Vernunft in einen Widerstreit mit sich selbst treibe, seien diese Ideen um der Widerspruchsfreiheit der praktischen Vernunft willen anzunehmen.28

(4) Kants Versuch, das der theoretischen Vernunft nicht erweisliche Dasein Gottes mit den Mitteln der Ethik zu sichern, endet deshalb mit der Rede von einer ‚problematischen‘ Annahme dieses Daseins – doch eine bloß ‚problematische‘ Annahme ist auch der theoretischen Vernunft möglich. Und selbst dieser geringe Ertrag der ethikotheologischen Neubegründung der Überzeugung vom Dasein Gottes steht noch unter der Bedingung der – nicht einlösbaren – Behauptung, die sittliche Forderung schließe beide Elemente des höchsten Gutes ein, Glückswürdigkeit und Glückseligkeit. Doch das Streben nach Glückseligkeit entspringt – wie Kant in der ‚dritten Kritik‘ ja deutlich aufgezeigt hat – nicht der Forderung des Sittengesetzes, sondern der Natur des Menschen, und es wird lediglich unter die Bedingung der Sittlichkeit gestellt. Daraus aber ergibt sich keine interne Widersprüchlichkeit der praktischen Vernunft, zu deren Überwindung es erlaubt wäre, auf das Dasein Gottes zu schließen.

Es überrascht deshalb nicht, dass Kant in der Metaphysik der Sitten, in den ‚Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre‘, auf die ethikotheologische Begründung der Annahme des Daseins Gottes ganz verzichtet. Im ‚Beschluß‘ schließt Kant sogar „die Religionslehre als Lehre der Pflichten gegen Gott“ aus den „Grenzen der reinen Moralphilosophie“ aus. Religionslehre ist für ihn zwar „ein integrierender Theil der allgemeinen Pflichtenlehre“, doch liegt sie „außerhalb den Grenzen einer reinphilosophischen Moral“. Das „Formale aller Religion“ gehöre zwar zur philosophischen Moral, „indem dadurch nur die Beziehung der Vernunft auf die Idee von Gott, welche sie sich selber macht, ausgedrückt wird“. Und Kant nennt auch den Grund: „Wir können uns nämlich Verpflichtung (moralische Nöthigung) nicht wohl anschaulich machen, ohne einen Anderen und dessen Willen […], nämlich Gott, dabei zu denken. – Allein diese Pflicht in Ansehung Gottes (eigentlich der Idee, welche wir uns von einem solchen Wesen machen) ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst.“ Das Materiale der Religion jedoch mache keinen Teil der reinen philosophischen Moral aus. Und deshalb schließt Kant die ‚Tugendlehre‘ mit einem strikten Dementi seiner früheren ethikotheologischen Versuche: mit der doppelten Einsicht, „daß in der Ethik, als reiner praktischer Philosophie der innern Gesetzgebung, nur die moralischen Verhältnisse des Menschen gegen den Menschen für uns begreiflich sind“ und „daß die Ethik sich nicht über die Grenzen der wechselseitigen Menschenpflichten erweitern könne“.29

Philosophisch-theologische Streitsachen

Подняться наверх