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1.3 Religionsphilosophie in statu nascendi
Оглавление(1) Kants Kritik der natürlichen Theologie und sein – gemessen an der auf sie folgenden stürmischen Entwicklung der Religionsphilosophie ephemerer – Versuch ihrer Ersetzung durch eine Ethikotheologie verstehen sich nicht als – teils kritische, teils affirmative – Beiträge zu einer ‚Religionsphilosophie‘. Und doch bilden sie den Punkt, an dem der Umschlag von der philosophischen Theologie zur Religionsphilosophie erfolgt – zunächst nur terminologisch, mit wenigen Jahren Verzögerung auch der Sache nach. Seit dem August 1786, also im Jahr des Pantheismusstreits und auch mit Rückblick auf ihn, erscheinen Karl Leonhard Reinholds damals vielgelesene Briefe über die Kantische Philosophie. In ihnen stellt Reinhold – schon zwei Jahre vor dem Erscheinen der Kritik der praktischen Vernunft – diejenigen Passagen der ‚ersten Kritik‘ ins Zentrum der Kantischen Philosophie, in denen Kant die auf theoretischem Wege zerstörte Gewissheit vom Dasein Gottes durch eine Neubegründung von der praktischen Philosophie her zu erneuern sucht: In diesen Tagen des traurigen Zustandes der durch die Philosophen „zum metaphysischen Gedankendinge“ und durch die Schwärmer „zum mystischen Unsinne“ herabgewürdigten Religion hätten wir durch die Kritik der reinen Vernunft „ein Evangelium der reinen Vernunft erhalten, welches die Religion durch Vereinigung derselben mit der Moral rettet, indem es den Einzigen Erkenntnißgrund festsetzt, der von der Moral zur Religion durch den Weg der Vernunft führt; den Einzigen, der das Daseyn Gottes über alle Einwürfe hinaushebt, denen die bisherigen historischen und metaphysischen Beweise ausgesetzt waren; den Einzigen der alle religiösen Traditionen berichtiget und bewährt, allen metaphysischen Notionen von der Gottheit Zusammenhang, Haltung und ein Interesse giebt, das für Kopf und Herz gleichgewichtig ist; den Einzigen endlich, welcher der reinen Religion der Vernunft, die er unerschütterlich begründet, Einheit des Systems gewährt, und ihr, weil er für alle Menschen, für den gemeinsten, so wie für den aufgeklärtesten Verstand gemacht ist, ebendieselbe Ausbreitung verspricht, die der reine Lehrbegriff des Christenthums der Moral verschaft hat.“30
In diesem Kontext führt Reinhold den Terminus ‚Philosophie der Religion‘ in die Debatte ein: Durch diese Kantische Lehre gewönnen wir „nicht nur ein Vernunftsystem der reinen Theologie, […] sondern auch eine wahre, und systematische Philosophie der Religion, welche die Lehre von der Wirklichkeit und Beschaffenheit des zukünftigen Lebens neben der eigentlichen Theologie, und als einen eben so wesentlichen Bestandtheil umfaßt, und mit ihr aus einem und ebendemselben Grundsatze ableitet.“
Aus diesem „höchsten Grundsatz aller Philosophie der Religion“ gingen die „zwey Glaubensartikel“ hervor – das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele –, die auch sonst in der Geschichte der Religionen neben dem mythologischen und metaphysischen Beiwerk den Kern der Religion bildeten.31
Philosophie der Religion: Dies bedeutet hier noch nicht eine philosophische Erkenntnis der vorhandenen Religionen oder wenigstens der einen – christlichen – Religion; es geht vielmehr um die rein philosophische Erkenntnis derjenigen Gegenstände, die als die Hauptgegenstände auch der Religion erscheinen: das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele. Nach Absonderung alles Widersprüchlichen aus den bisherigen Erkenntnisgründen der Religion blieben „folgende drey Elemente der religiösen Ueberzeugung übrig: Erstens der nothwendige Vernunftbegrif, oder das metaphysische Ideal von der Gottheit; zweytens, die Unbegreiflichkeit des göttlichen Daseyns; und drittens das Geboth der praktischen Vernunft, welches den moralischen Glauben nothwendig macht. Dieses sind die Elemente des Vernunftglaubens“ und sie enthielten „von jeher den wahren Grund aller religiösen Ueberzeugung“.32
(2) Reinholds Rede von der Kantischen als der „wahren, und systematischen Philosophie der Religion“ deutet an, dass es auch eine ‚unwahre‘ Form gebe – und dies bestätigt seine spätere Bemerkung, dass „die Philosophie der Religion durch ihre bisherigen Blößen“ die Gegner zum Angriffe reize.33 Dies richtet sich gegen die Anhänger eines ‚metaphysischen Erkenntnisgrundes‘ der Religionswahrheiten – und vermutlich insbesondere gegen denjenigen, der den Terminus ‚Philosophie der Religion‘ – soweit bekannt – als erster verwendet hat: der Jesuit und Vertreter einer Wolffianischen Aufklärung im josephinischen Österreich, Sigismund v. Storchenau.34 Seine – anonym veröffentlichte, aber stets ihrem Autor zugeordnete – umfangreiche Religionsphilosophie ist jedoch noch keine philosophische Disziplin; in Band 1 enthält sie zwar eine natürliche Theologie; Band 3 erweist aber die Notwendigkeit einer Ergänzung der natürlichen Religion durch die geoffenbarte, und Band 7 widerlegt den Protestantismus als eine Quelle des Unglaubens. Diese erste ‚Religionsphilosophie‘ bildet als ganze ein Werk der katholischen Apologetik; sie dient dem Nachweis, dass die „ächte Philosophie, wohl angewendet, […] eine der mächtigsten Beschützerinnen der Religion“ sei.35
(3) Storchenau hat bis zur Aufhebung des Jesuitenordens 1773 als Professor für Logik und Metaphysik an der Universität Wien gewirkt; in diesen Jahren ist auch Reinhold in Wien Mitglied dieses Ordens gewesen und in v. Storchenaus Werk eingeführt worden, bevor er – nach der Aufhebung des Jesuitenordens – zunächst in den Barnabitenorden eingetreten und schließlich nach Weimar geflohen ist und sich von den geistigen Eindrücken seiner Wiener Vergangenheit distanziert hat.36 Im Jahr vor seinen Briefen über die Kantische Philosophie hat er sich emphatisch gegen v. Storchenaus Religionsphilosophie erklärt: Sie gehöre zu den „Schriften, in welchen die Augen der gesunden Vernunft mit gar zu viel Kunst, Behutsamkeit, und Geschicklichkeit verkleistert werden, als daß man den Verkleisterer für einen blinden Anhänger des blinden Glaubens halten könnte; Schriften, die den Aberglauben mit so viel Witz, Scharfsinn, schlauen Einkleidungen und neumodischen Tiraden aufstutzen, daß dem feineren Beobachter der Verstand und die Gewandheit eines Sykophanten, der die wahre Beschaffenheit seines Handels und die schwächsten Seiten seiner schlimmen Sache genau kennt, nothwendig daraus in die Augen springen muß.“37
Aus der Perspektive eines schlichten Glaubens hat auch lange zuvor schon Matthias Claudius Bedenken gegen v. Storchenaus, in den Dienst der Apologetik gestellte Metaphysik geäußert: „Der Titel wäre nicht viel sonderbarer wenn er umgekehrt würde, und die Religion der Philosophie hieße. Der selige Mosheim sagt an einem Ort, wo er von dem Gebrauch der Vernunft in der Theologie spricht: ‚Man solle die Magd hinausstoßen die gar zu gerne Frau im Hause sein will.‘ Der Rat ist nicht übel und die Kirchengeschichte scheint ihn zu empfehlen.“ Da „der Weg zum Christentum nicht über die Metaphysik geht, so sind dergleichen Bemühungen die Religion durch Philosophie zu stützen zwar gut, aber nur in Ermanglung eines Bessern“.38
Diese Kritik zielt auf die innere Spannung, in der für die Zeitgenossen – sowohl für die Anhänger einer schlichten Religiosität als auch für deren Kritiker – die beiden Titelbestandteile ‚Philosophie‘ und ‚Religion‘ mit einander stehen. Friedrich Nicolai, einer der Hauptvertreter der etwas militanten, überall Kryptokatholiken und -jesuiten witternden und anprangernden Berliner Aufklärung hingegen wendet sich später gegen den apologetischen, ja subversiven Charakter solcher ‚Religionsphilosophie‘: Er wertet v. Storchenaus Geistliche Reden als Versuch, widersinnigen Sätzen „ein philosophisches Mäntelchen umzuhängen“; v. Storchenau, „der Verfasser der Religionsphilosophie“, sei ein „großer Vertheidiger“ des blinden Glaubens, der „gern die ganze Welt im blinden Glauben erhalten möchte“; ihre Forderung nach „Abschlachten der Vernunft“ und ihre Methode der wechselseitigen Begründung der „Unfehlbarkeit der Kirche“ und der „Auslegung des Wortes Gottes“ entlocken Nicolai den Stoßseufzer: „Der Himmel bewahre uns vor so einer Religionsphilosophie.“39
(4) Diese zwar gegensätzlichen, aber gleichermaßen abwertenden Positionen kennzeichnen die Haltung zur ‚Religionsphilosophie‘ bis zum Jahr 1785. Erst Reinholds Briefe über die Kantische Philosophie entziehen die ‚Philosophie der Religion‘ sowohl der ursprünglichen apologetischen Intention als auch zugleich der polemischen Reaktion. Sie preisen Kants – erst in einigen, später von Kant revidierten Grundzügen erkennbare – Ethikotheologie als das Muster einer ‚wahren und systematischen‘ Religionsphilosophie an; damit aber fassen sie zugleich die Begriffe sowohl der Religion als auch der Religionsphilosophie sehr eng: Sie reduzieren die Religion auf die „zwey Glaubensartikel“ – Persönlichkeit Gottes und Unsterblichkeit der Seele –, und sie interpretieren die Religion rein-moralisch. Gegen diese Engführung wendet sich insbesondere Johann Friedrich Kleuker, ein Orientalist und Theologe aus dem Umkreis Friedrich Heinrich Jacobis: Er widmet den zweiten Teil seiner Neuen Prüfung und Erklärung der vorzüglichsten Beweise für die Wahrheit und den göttlichen Ursprung des Christenthums ausschließlich der „Kritik der neuesten Philosophie der Religion“ – und zwar sowohl der Kantischen Kritik als auch der Darstellung Reinholds –, weil man (d. i. Reinhold) aus einigen Sätzen der Philosophie Kants „ein ganz neues Ding von Philosophie der Religion zusammengesetzt hat, die man uns als ein ne plus ultra menschlicher Erkenntniß, Glaubens und Urtheils empfielt; als etwas, wodurch allen intellektuellen und moralischen Bedürfnissen der Menschheit auf einmal, und für alle künftige Zeitalter, abgeholfen seyn soll.“40
Kleuker richtet sich – wie es im Titel des ersten Teils heißt – gegen den ambitionierten Anspruch dieses ‚neuen Dings‘, „ein Evangelium Gottes durch Christum in ein Evangelium der menschlichen Vernunft zu verwandeln“: Die „Philosophie der Religion“ wolle uns lehren, „was reine Religion sey, und wie dieselbe beschaffen seyn müsse, wenn sie kein Gift, vielmehr ein Balsam für die Menschheit seyn soll; eben dieselbe lehrt uns auch, wie wir dazu gelangen, aus welchen reinen und sichern Quellen wir, was dahin gehört, schöpfen müssen, und allein schöpfen dürfen.“
Sie habe somit ein sowohl kritisches als auch dogmatisches Geschäft. Und Kleuker formuliert die fünf „besten Resultate einer Philosophie der Religion, welche in unsern Tagen nichts geringeres zum Ziele hat, als auf dem Wege der Vernunft zu vollenden, was der Stifter des Christenthums auf dem Wege des Herzens nur angefangen und eingeleitet haben soll“:
„1. Wahre Religion ist Vernunftreligion, und kann allein von der Vernunft des Menschen erfunden, durch diese allein bestimmt und festgesetzt werden. Keine Religion ist wahr, als die, welche die Vernunft allein zur Quelle, zum Urheber und zum einzigen Grunde ihrer Erkenntniß hat.
2. Alles was bis jetzt unter dem Namen der Religion galt, enthielt etwas Wahres, dabey aber sehr viel Falsches. Das Wahre kam von jeher aus der Vernunft,“ das Falsche aus dem Verlangen der Menschen nach anderen Quellen der Religion.
„3. Hieraus entstand denn ein historischer Glaube an Gottes Daseyn und eine unsterbliche Fortdauer des Menschen nach dem Tode“ – doch könne ein solcher Glaube gar nicht auf „Thatsachen einer sogenannten göttlichen Geschichte“ gegründet werden.
4. Dies gelte nicht allein von den heidnischen Religionen, sondern ausnahmslos von allen, also auch von der christlichen. Die Vernunft aber dürfe die auf eine historische Quelle gegründeten Nachrichten über eine „übernatürliche oder hyperphysische“ Offenbarung Gottes nicht anerkennen.
„5. Da folglich alles Historische oder Hyperphysische, wie und warum es auch sey, als Erkenntnißgrund von heilsamen Religionswahrheiten ausgeschlossen werden muß, so bleibt die Vernunft ALLEIN, als Erkenntnißgrund, übrig.“41 Gegen diesen Anspruch der kritischen Religionsphilosophie (formuliert in der Perspektive von Reinholds Briefen über die Kantische Philosophie), ein „Evangelium der Vernunft“ zu begründen, verweist Kleuker auf die Offenbarung und insbesondere auf die Bibel: Die menschliche Vernunft sei für sich allein keineswegs hinreichend, „wahre Religion aus und durch sich selbst zu sichern“; und „die Grundwahrheiten der Religion“ seien durch die Bibel „hinreichend gesichert“.42 Kleuker setzt sich aber auch ausführlich mit Kants Postulatenlehre auseinander – mit dem Resultat, „daß weder diese Philosophie ein hinreichender Erkenntnißgrund sey für die Wahrheit der Gegenstände eines religiösen Glaubens, noch daß ohne die Data, welche wir einer göttlichen Offenbarung verdanken, keine wahre Philosophie der Religion auch nur als möglich gedacht werden könne, und es mithin [sc. entgegen Reinholds Anpreisung] auch kein Evangelium der Vernunft, als Vernunft, gebe, das dem urkundlichen Evangelium Gottes durch Christum zum Ersatz dienen könnte, oder ihm gar vorgezogen werden müßte.“43
Mit dieser Kritik an Kant und Reinhold eröffnet Kleuker die Auseinandersetzungen um die neue ‚Philosophie der Religion‘. Dadurch aber trägt er, entgegen seiner Intention, nicht unerheblich zur Einbürgerung dieses von Kant selber nicht verwendeten Titels bei – ähnlich wie Jacobi zuvor mit seiner Kritik an Spinoza ungewollt eine Spinoza-Renaissance auslöst: Im folgenden Jahrzehnt, unter dem Eindruck sowohl der Kritik der praktischen Vernunft als auch der Kritik der Urteilskraft, erscheinen in rascher Folge mehrere Arbeiten, die den philosophisch-theologischen Horizont von Kants Ethikotheologie in Richtung auf die Religion überschreiten und sich auch unter den Titel ‚Religionsphilosophie‘ stellen. Man könnte es deshalb das Jahrzehnt des moralischen Gottes nennen.44