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Philosophisch-theologische Streitsachen. Einleitung

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Christian Danz / Georg Essen

Am 16. April 1795 schreibt der kurz vor dem Ende seines Theologiestudiums an der Universität Tübingen stehende Friedrich Wilhelm Joseph Schelling an seinen ehemaligen Tübinger Kommilitonen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, er sei Spinozist geworden. Und kurz zuvor lässt er Hegel wissen: „Auch für uns sind die orthodoxen Begriffe von Gott nichts mehr.“1 Mit dieser Wendung greift der junge Schelling eine Formulierung auf, die Friedrich Heinrich Jacobi gut zehn Jahre zuvor in seiner Schrift Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn Gotthold Ephraim Lessing in den Mund gelegt hatte. Bei Jacobi heißt es: „Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr für mich; ich kann sie nicht genießen. En kai pan! Ich weiß nichts anders.“2 Die Formel indiziert einen grundlegenden Plausibilitätsverlust des überlieferten christlichen Gottesgedankens und seiner lehrmäßigen Bestimmungen unter den Gebildeten des späten 18. Jahrhunderts. Die Gründe für diesen Plausibilitätsverlust des Gottesgedankens der christlichen Lehrtradition sind freilich vielschichtiger Natur. Ein extramundanes Wesen, welches mit übernatürlicher Kausalität in der Welt wirkt, ließ sich am Ende des 18. Jahrhunderts nur noch schwer mit dem Selbst- und Weltverständnis des Menschen vermitteln. Voranschreitende gesellschaftliche Modernisierung und eine zunehmende Professionalisierung der Wissenschaften im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts machten eine Neubestimmung des Gottesgedankens unumgänglich.

Von keiner Epoche der Neuzeit geht bis heute eine solche intellektuelle Faszination aus wie von jenem relativ schmalen Zeitkorridor, der gemeinhin ‚Sattelzeit‘ der Moderne genannt wird. Gemeint ist die Zeitspanne zwischen dem Tode Lessings im Jahre 1781 und dem Tode Hegels, 1831, beziehungsweise Goethes im Jahre 1832. Mit Recht lässt sich, um diese Epoche mit weiteren symbolischen Daten einzuhegen, das gute halbe Jahrhundert von Kants Kritik der reinen Vernunft von 1781 bis Feuerbachs Wesen des Christentums von 1841 als die Epoche des ‚Streits um die Göttlichen Dinge‘ ansprechen.3 In diesem hochdramatischen Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, in dem das von jeher spannungsreiche Verhältnis von Philosophie, Theologie, Wissenschaft und Religion im Bezugsrahmen der kritischen Philosophie Kants neu verhandelt werden musste, ragen drei Kontroversen hervor, die zweifelsohne zu den ganz großen geistesgeschichtlichen Debatten der Philosophie- und Theologiegeschichte gehören: der ‚Pantheismusstreit‘ von 1785, der ‚Atheismusstreit‘ von 1798 / 99 und schließlich der ‚Theismusstreit‘ von 1811 / 12.

Worum ging es in diesen Streitsachen? Die entscheidenden Themen sind die Fassung des Gottesgedankens und dessen Begründung unter den veränderten Erkenntnisbedingungen der Moderne. Der Streit um die göttlichen Dinge, der mit dem Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn 1785 einsetzte, im Atheismusstreit um Fichte am Ende des 18. Jahrhunderts fortgesetzt wurde und schließlich im Theismusstreit 1811 / 12 zwischen Jacobi und Schelling kulminierte, darf nicht zuletzt als ein Streit um die Grundlagen der Deutung menschlichen Lebens in einer sich zunehmend ausdifferenzierenden modernen Gesellschaft verstanden werden. Einzigartig an diesen Grundlagendebatten ist bereits die Konstellation, die geistige Atmosphäre, in denen die Streitigkeiten jeweils ausgetragen wurden. Gerungen wurde um genuin theologisch-philosophische Themenstellungen, die in ganz unterschiedlicher Weise die Gottesfrage und alles mit ihr Verbundene berührten. Stets ging es – in immer neuen Anläufen – um die gedankliche Fundierung und Ausweisbarkeit des Gottesgedankens. Und doch lassen sich diese, auf höchstem spekulativen Niveau ausgetragenen Streitsachen nicht begreifen, wenn nicht die religiös-existentielle Dimensionen erfasst werden, die ihre Spuren in den Biographien jener hinterlassen haben, die an den Streitigkeiten beteiligt waren. In dem Streit um die göttlichen Dinge ging es stets auch um eine Selbstverständigung der Moderne über die Grundlagen des Verstehens sowie des Geltenden. Im Medium des Gottesgedankens wurde über Selbstdeutung des Menschen gestritten. Es ging also keinesfalls lediglich um die Frage der inhaltlichen Bestimmung des Gottesbegriffs, sondern eher darum, dass bestimmte Fassungen des Gottesgedankens eine Selbstdurchsichtigkeit des Menschen in seinem reflexiven Bezug auf sich selbst und seine Welt geradezu verhinderten. Darum verwundert es auch nicht, dass in diesen Konflikten die einschlägigen Autoritätsinstanzen beteiligt waren: die politisch-rechtlichen, die kirchlichen und die schultheologischen. Es ging eben nicht nur um das theoretische Problem einer gedanklichen Begründung des Gottesgedankens, sondern um das existentielle Problem, dass der zuvor sicher geglaubte Grund des Glaubens an einen personalen Gott unter den Erkenntnisbedingungen der Moderne hinfällig geworden ist. Die Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei,4 die Jean Paul im Jahre 1795 veröffentlicht, ist gewiss der dramatische Höhepunkt für die Bewusstseinslage dieser Zeit!

Die drei Streitigkeiten sind, worauf bereits Schelling in seinem Beitrag zum Theismusstreit im Jahre 1812 hingewiesen hat, als eine ‚Konstellation‘ (Dieter Henrich) zu begreifen, sofern die in ihnen verhandelten Streitsachen in dem ‚Denkraum‘ der Kantischen Philosophie und im Zusammenwirken von unterschiedlichen Denkern entstehen und ausgetragen werden. An diesen Diskurskonstellationen lässt sich die grundlegende Umgestaltung des Verhältnisses von Theologie, Wissenschaft, Religion und Philosophie ebenso ablesen wie die Umformung der Gesellschaft infolge des sich dramatisch beschleunigenden Modernisierungsprozesses. Die Auswirkungen dieser gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozesse auf die Kultur der Gegenwart dürften erst in Grundzügen abzusehen sein. In den drei Kontroversen aus der ‚Sattelzeit‘ der Moderne finden fundamentale Bedeutungsverschiebungen im Wissenschafts-, Natur- und Gottesbegriff statt. Zu diagnostizieren ist das Aufeinanderprallen sowohl von religiöser Tradition und neuzeitlicher Wissenschaft als auch von theologisch verantwortetem Glauben und philosophisch gesichertem Wissen. Die Analyse der Streitsachen erlaubt einen Einblick in die komplexen Prozesse der Umgestaltung und Ersetzung kulturell vermittelter Gewissheiten. In der Lektüre der Quellen werden wir überdies Zeuge über die beschleunigten und in hohem Grade kreativen Prozesse, in denen sich die Moderne über sich selbst im Medium ihres Verhältnisses zur Religion insgesamt und insbesondere zum Christentum verständigt hat. In der immensen Verdichtung der gedanklichen Konzeptionskraft, mit der diese Grundlagendiskussion stattgefunden hat, liegt die paradigmatische Bedeutung der Streitigkeiten.

Freilich ist die Beschäftigung mit den Streitsachen nicht nur aus philosophiehistorischen Gründen interessant. Denn genau genommen ist das Ringen um sie seither nicht mehr zur Ruhe gekommen. Vieles spricht zudem dafür, dass die aktuellen Religionskonflikte, die wir zeitdiagnostisch mit dem ‚11. September 2001‘ in Verbindung bringen, schon seit der Zeit ‚um 1800‘ dem Subtext der Moderne eingeschrieben sind. Die religiösen Lebenswelten und deren Semantiken unterliegen seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts einem dramatischen Wandel. Der Aufklärung folgt die Romantik auf den Fuß. Monotheismuskritische Schübe durchziehen seither die Debatten und mit ihnen das immer wieder neue Ausloten nach religiösen Alternativen. Jedenfalls wird inzwischen allenthalben ein spinozistisch gefärbter Kosmotheismus empfohlen angesichts der ‚Abrahamitischen Intoleranz‘, die dem Monotheismus innewohnen soll. Die Entzweiung von Vernunft und Glauben, von Wissenschaft und Religion ist ein Thema, das nahezu alle wissenschaftstheoretischen Grundlagendiskussionen des 19. und 20. Jahrhunderts durchzieht. Das Problem einer wissenschaftsförmigen Metaphysik ist nach wie vor aktuell und mit ihm die – inzwischen offenbar auch interreligiös – intrikate Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Glauben. Die drei Streitsachen der ‚Sattelzeit‘ der Moderne sind darin so exemplarisch, weil hier die Argumente vorgeführt und ausgelotet werden, die bis in die Gegenwart die einschlägigen, nun freilich interreligiös geführten Debatten bestimmen.

Im Folgenden soll zum Zwecke einer ersten Orientierung dem Leser ein kurzer Überblick über die in dem Band vor- und dargestellten Streitsachen gegeben werden. Den geistesgeschichtlichen Problemhorizont aller drei philosophisch-theologischen Streitsachen markiert die kritische Transzendentalphilosophie Immanuel Kants (1724 – 1804).5 Die Religionsphilosophie stellt eine vergleichsweise junge akademische Disziplin dar. Sie etablierte sich erst in der Folge der von Kant in der Kritik der reinen Vernunft von 1781 durchgeführten Kritik aller spekulativen Theologie. Die Resultate der Kantischen Erkenntniskritik hatten der überlieferten natürlichen Theologie vollständig die Grundlage entzogen, so dass der Gottesgedanke nicht nur aus dem Bereich möglicher Erkenntnisgegenstände ausschied, sondern auch über dessen Existenz ließ sich für Kant weder positiv noch negativ etwas ausmachen. Kants eigener Versuch einer Begründung der Religion im Rahmen der praktischen Vernunft geriet jedoch bereits in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts in eine Krise und wurde durch Neukonzeptionen von philosophischen Theologien abgelöst. Freilich setzen diese von Schelling und Hegel vorgelegten Konzeptionen von spekulativen Theologien die Vernunftkritik Kants voraus und arbeiten den Gottesgedanken auf dem Boden der kritizistischen Einsicht Kants aus.

Den äußeren Anlass des Pantheismusstreites bildete das von Friedrich Heinrich Jacobi (1743 – 1819) im Jahre 1785 veröffentlichte Buch Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelsohn.6 In diesem Buch berichtet Jacobi über ein Gespräch mit Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781) im Sommer 1780. In diesem Gespräch habe Lessing ihm mitgeteilt, dass seine religiös-metaphysische Weltanschauung am ehesten dem spinozistischen ‚Hen-kai-Pan‘ entsprechen würde. Auf Jacobis Mitteilung von Lessings angeblichen Pantheismus reagierte bereits im Oktober 1785 der jüdische Aufklärungsphilosoph und Freund Lessings Moses Mendelsohn (1729 – 1786) in seinen Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes, indem er einmal Jacobis Indiskretion monierte und zum anderen auf die Bandbreite des Pantheismus hinwies. Die Kontroverse weitete sich jedoch schnell über ihren unmittelbaren Anlass, Lessings Bekenntnis zum Spinozismus, aus zur Frage nach dem Gottesgedanken und seiner gedanklichen Ausweisbarkeit. Für Jacobi ist die Philosophie Spinozas die einzig konsequente Form eines philosophischen Rationalismus. Allein, sie hebe als Konsequenz die menschliche Freiheit auf und sei deshalb als Fatalismus und Atheismus einzustufen. Während Jacobi den Gottesgedanken allen gedanklichen Vermittlungen enthebt und ihn der reflexionslosen Unmittelbarkeit des Gefühls zuordnet, besteht Mendelssohn auf der gedanklichen Ausweisbarkeit des Gottesgedankens. Die von Jacobi in dieser Streitsache aufgemachte Alternative zwischen einem gläubigen Theismus und einem atheistischen Nihilismus vermochte jedoch die Zeitgenossen nicht mehr zu überzeugen. Vielmehr setzte die von Jacobi in seinem Buch Ueber die Lehre des Spinoza unternommene Widerlegung des Spinozismus und dessen Brandmarkung als Atheismus die Spinozarezeption erst in Gang. Die Philosophie des Spinoza übte ihre Faszination auf die Zeitgenossen nicht so sehr durch ihren rationalistischen Systemanspruch aus, sondern durch die in ihr liegende religionsphilosophische Grundoption. Sie eröffnete nämlich vor dem Hintergrund des in die Krise geratenen christlichen Gottesgedankens eine neue, dem Denken selbst nachvollziehbare Gewissheit der Immanenz des Transzendenten.

Im Jahre 1798 veröffentlichte Johann Gottlieb Fichte (1762 – 1814) in dem von ihm zusammen mit Friedrich Immanuel Niethammer (1766 – 1848)7 herausgegebenen Philosophischen Journal einen Aufsatz mit dem Titel Ueber den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung, der den sogenannten Atheismusstreit auslöste.8 Fichtes Aufsatz war ursprünglich gedacht als zusammenfassende und erläuternde Anmerkungen zu einem in demselben Band des Philosophischen Journals veröffentlichen Aufsatz von Friedrich Karl Forberg (1770 – 1848) mit dem Titel Entwickelung des Begriffs der Religion. In seinem Beitrag kritisiert Fichte Forbergs radikalisierende Interpretation von Kants Religionsphilosophie, in deren Zentrum die These steht, dass der Gottesgedanke ein Produkt des Wunsches sei. Die von Fichte der Religionstheorie Forbergs entgegen gestellte These von der Notwendigkeit des Gottesgedankens und v. a. die von ihm vorgenommene Identifizierung Gottes mit dem Gedanken einer moralischen Weltordnung sowie seine Kritik an der Vorstellung der Persönlichkeit Gottes erschienen freilich den Zeitgenossen als Atheismus. In ihren Augen nahm Fichte eine Depotenzierung des Gottesgedankens vor. Im Atheismusstreit geriet die überlieferte theistische Gottesvorstellung, die sowohl Jacobi als auch Mendelssohn im Pantheismusstreit noch selbstverständlich vorausgesetzt hatten, nun selbst in die Krise. Die durch Fichte in seinen Schriften zum Atheismusstreit ausgelöste Kontroverse um den Gottesgedanken darf als ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu einer denkerischen Erfassung von Religion und Gottesgedanken unter den Erkenntnisbedingungen der Moderne gelten. Auch wo der von Fichte vertretene moralphilosophische Gottesgedanke nicht mehr geteilt wurde, wie beim frühen Friedrich Schleiermacher (1768 – 1844), wurde dessen Kritik am theistischen Gottesgedanken doch als durchschlagend empfunden.

Sowohl der Pantheismus- als auch der Atheismusstreit brechen ab, ohne dass die in ihnen verhandelten Streitsachen zu einem allseits akzeptierten Konsens gelangen. Vielmehr ging der Streit um die Möglichkeit einer philosophischen, einer wissenschaftsförmigen Gotteserkenntnis ebenso weiter wie die Frage nach der inhaltlichen Bestimmung des Gottesgedankens. Erst im Theismusstreit wurde schlagartig klar, worum es untergründig stets ging.9 In diesem Streit werden der Theismus und seine gedankliche Ausweisbarkeit selbst zum Problem. Lässt sich, so die zwischen Jacobi und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775 – 1854) kontroverse und höchst unterschiedlich beantwortete Frage, der Begriff eines personal verstandenen und deshalb zu Schöpfung und Offenbarung freien Gottes überhaupt denken? Jacobi machte in seiner Schrift Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung aus dem Jahre 1811 offensiv gegenüber Schelling seine bereits im Pantheismusstreit vertretene und im Atheismusstreit erneuerte These geltend, Gott könne nicht gewusst, sondern nur geglaubt werden. Schelling replizierte auf diesen Angriff Jacobis, der seit 1803 schwelte10 im Jahre 1812 mit der äußerst polemischen Schrift Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen ec. des Herrn Friedrich Heinrich Jacobi und der ihm in derselben gemachten Beschuldigung eines absichtlich täuschenden, Lüge redenden Atheismus. Jacobi hat mit seiner Position, die er seit den Tagen des Pantheismusstreits vertreten hatte, die Dissoziation von Wissen und Gottesbegriff immer offensiver vertreten und in dieser Konsequenz selbst die Philosophie für atheistisch erklärt. Gegenstand der Auseinandersetzung ist folgerichtig die Frage, was unter einem theistischen Gott überhaupt zu verstehen und wie er eigentlich zu denken sei. In der Verhandlung dieser Frage zeigt sich, in welchem Maße das bis dahin für unerschütterlich gehaltene Fundament der theistischen Gottesvorstellung inzwischen brüchig geworden war.

Die drei großen Streitsachen aus der Sattelzeit der Moderne, die in diesem Band ausführlich in ihrem problemgeschichtlichen Horizont erörtert werden, belegen insgesamt zumindest dies, dass für alle an diesen Streiten Beteiligten die orthodoxen Begriffe von Gott nicht mehr zu genießen waren.

Philosophisch-theologische Streitsachen

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