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4.2 Die neue Mythologie
Оглавление(1) Im letzten Absatz seines Systems des transscendentalen Idealismus skizziert Schelling einen, über dieses System hinausführenden Gedanken: Er knüpft an das zuvor entwickelte Verhältnis von Philosophie und Kunst an: Allein die Kunst könne „mit allgemeiner Gültigkeit objectiv“ machen, „was der Philosoph nur subjectiv darzustellen vermag“ – doch hieraus zieht er den „Schluß“, „daß die Philosophie, so wie sie in der Kindheit der Wissenschaft von der Poësie gebohren, und genährt worden ist, und mit ihr alle diejenigen Wissenschaften, welche durch sie der Vollkommenheit entgegengeführt werden, nach ihrer Vollendung als ebensoviel einzelne Ströme in den allgemeinen Ocean der Poësie zurückfließen, von welchem sie ausgegangen waren. Welches aber das Mittelglied der Rückkehr der Wissenschaft zur Poësie seyn werde, ist im Allgemeinen nicht schwer zu sagen, da ein solches Mittelglied in der Mythologie existirt hat, ehe diese, wie es jetzt scheint, unauflösliche Trennung geschehen ist.“ In einer Fußnote hierzu notiert Schelling einen kryptischen Verweis auf „eine schon vor mehrern Jahren ausgearbeitete Abhandlung über Mythologie, welche nun binnen Kurzen erscheinen soll.“ Und dann schließt er – zwar aporetisch, aber doch mit einer exakten Problemstellung: „Wie aber eine neue Mythologie, welche nicht Erfindung des einzelnen Dichters, sondern eines neuen nur Einen Dichter gleichsam vorstellenden Geschlechts seyn kann, selbst entstehen könne, dieß ist ein Problem, dessen Auflösung allein von den künftigen Schicksalen der Welt, und dem weiteren Verlauf der Geschichte zu erwarten ist.“118
Dieser, nachträglich angefügt wirkende Absatz gibt mehrere Probleme auf – nicht allein das äußerliche, dass von der Schrift, auf die Schelling in dieser Fußnote verweist, jede Spur fehlt, und auch nicht so sehr das am Schluss explizit genannte, bereits aus der schellingianisierenden Systemskizze der ‚Differenz-Schrift‘ Hegels bekannte, sondern v. a. dieses: Es ist nur allzu ersichtlich, dass der ‚Schluß‘, von dem Schelling spricht, kein ‚Schluß‘ ist. Aus der Differenz von ‚objectiver‘ bzw. ‚subjectiver‘ Tätigkeit des Künstlers bzw. des Philosophen lässt sich nicht einmal der ‚Schluß‘ ziehen, dass beide künftig einmal zusammenfallen werden, geschweige denn ein ‚Schluß‘ auf eine ‚neue Mythologie‘. Denn warum sollte die Philosophie, selbst wenn sie einmal aus Poesie hervorgegangen ist, gemeinsam mit den anderen Wissenschaften nach ihrer Vollendung wieder ‚in den allgemeinen Ocean der Poësie zurückfließen‘ und in eine ‚neue Mythologie‘ eingehen? Schelling stützt sich, zur Einführung des Gedankens der ‚neuen Mythologie‘, wie selbstverständlich auf die Figur der mythischen Anaklisis, also auf das mythische Denkmodell, nach dem alles an seinem Ende wieder in den Ursprung zurückkehren müsse. Diese Annahme einer zwanghaften Rückkehr in den Ursprung ist ihm insbesondere aus der biblischen Eschatologie bekannt, aus dem Satz τà ἔσχατα ὡς τà πρῶτα“: Die letzten Dinge werden sein wie die ersten, das Ende kehrt in den Anfang zurück. Die Kreisstruktur dieses Modells hat das vorgeschichtliche Denken bestimmt; sie ist das vorzeitige Gegenstück zur Annahme eines irreversiblen Geschichtsverlaufs – und schon deshalb ist es ausgesprochen prekär, die Forderung einer ‚neuen Mythologie‘ auf dieses Modell stützen zu wollen.
(2) Der Ruf nach einer ‚neuen Mythologie‘ ertönt aber nicht nur hier am Ende von Schellings ‚System‘, sondern genau gleichzeitig in Friedrich Schlegels Rede über die Mythologie – also ebenfalls aus Jena und sogar aus dem Umkreis Schellings – aber auch schon drei Jahre zuvor, um die Jahreswende 1796 / 1797: „wir müßen eine neue Mythologie haben“.119 Dass damals eine derartige Forderung erhoben wird, ist fraglos nicht unabhängig von der Entdeckung des Mythos als einer spezifischen Gestalt des Denkens: von der ‚poetischen Auslegung‘ des Alten Testamentes durch Robert Lowth, von Christian Gottlob Heynes ‚Entdeckung der Eigenständigkeit und Universalität des Mythischen als einer notwendigen Entwicklungsstufe des menschlichen Geistes‘ und von der hieran anschließenden Einführung des Mythosbegriffs in die moderne Bibelwissenschaft.120 Erst durch diese Arbeiten stehen am Ende des 18. Jahrhunderts die Begriffe des Mythos und der Mythologie als möglicher Gegenstand einer Erneuerungsforderung zur Verfügung. In der Klassischen Philologie und in der Bibelwissenschaft haben sie jedoch ein begrenztes Anwendungsgebiet, und hinter ihnen steht eine spezifische Intention: angesichts der unvermeidlich gewordenen Preisgabe der Lehre von der Verbalinspiration der biblischen Texte eine neue Interpretationsweise zu begründen, die es erlaubt, diese Texte trotz all ihrer Unwahrscheinlichkeit und Unglaubwürdigkeit nicht einfach als falsch oder gar betrügerisch zu verwerfen, sondern sie als zu ihrer Zeit sinnvolle Produkte zu verstehen. Parallel hierzu wird das Thema ‚Mythologie‘ aber v. a. durch Herder aufgeworfen – und er redet wohl auch als erster von einer ‚neuen Mythologie‘: Man müsse die Kunst des Allegorisierens erlernen; in dieser Absicht eine Götter- und Heldengeschichte durcharbeiten und einige der vornehmsten alten Schriftsteller zergliedern –„das muß Poetische Genies bilden“. Doch da hierzu sowohl Reduktionsals auch Fiktionsgeist gefordert sei, „so sind hier viele Schwierigkeiten, uns gleichsam eine ganz neue Mythologie zu schaffen“; leichter sei es, „aus der Bilderwelt der Alten gleichsam eine neue uns zu finden wissen“.121 Auch wenn Herder hier nur eine streng auf die poetische Darstellung begrenzte ‚neue Mythologie‘ im Sinne hat, ist seine Rede von ihr auch ein Indiz dafür, dass die Aufgeschlossenheit zunimmt, derartige Wege einzuschlagen.
Doch trotz dieses frühen Belegs: Nur ein Jahrzehnt, bevor der Ruf nach einer ‚neuen Mythologie‘ erstmals erhoben wird, zur Zeit des Erscheinens der drei Kritiken Kants und der Briefe Jacobis Ueber die Lehre des Spinoza, wäre eine solche Forderung – mit einer Formulierung des Systemprogramms –„in keines Menschen Sinn gekommen“. Wie sehr sie in den Kontext der Auflösung des moralischen Gottes- und Religionsbegriffs gehört, aber zugleich über ihn hinausdrängt, zeigt die Anknüpfung an und die Abstoßung von Kant bereits im ersten überlieferten Satz des Systemprogramms: Die ganze Metaphysik falle künftig in die Moral, und Kant habe davon „mit seinen beiden praktischen Postulaten nur ein Beispiel gegeben“ – und wegen dieses bloßen Beispielcharakters sieht der Verfasser sich nun berechtigt, „ein vollständiges System aller Ideen, oder, was dasselbe ist, aller praktischen Postulate“ zu entwerfen. Auch diese vollmundige Formulierung und ihre weitere Anwendung auf unterschiedliche Bereiche der Philosophie berühren jedoch noch nicht die Frage der Mythologie. Vorbereitet wird ihre Einführung durch die Betonung der Notwendigkeit des „ästhetischen Sinnes“ und durch die erwartete Einsetzung der Poesie als „Lehrerin der Menschheit“ – im Interesse der Vermittlung der „Aufgeklärten und Unaufgeklärten“, des „großen Hauffens“ und des „Philosophen“.
Doch selbst die Forderung nach „Monotheismus der Vernunft und des Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst“ spricht der Mythologie eine allenfalls partielle – und zudem nicht sonderlich originelle – Bedeutung für die Kunst zu. Sie ist auch nicht weit entfernt von Goethes Dictum, wir seien „naturforschend Pantheisten, dichtend Polytheisten, sittlich Monotheisten“.122 Seine Kraft erhält das Programm der ‚neuen Mythologie‘ erst durch seine Gleichsetzung „ästhetisch d. h. mythologisch“ und v. a. durch das Oxymoron „Mythologie der Vernunft“. Darüber allerdings, wie die Ideen mythologisch gemacht werden und wie eine solche „Mythologie der Vernunft“ konzipiert werden könnte, schweigt sich das Systemprogramm aus – vermutlich schon, um seinen visionären Gestus nicht aufs Spiel zu setzen.
Denn vom Mythologischwerden der Ideen und dem Vernünftigwerden der Mythologie erwartet das Systemprogramm nicht weniger als die Überwindung des Gegensatzes von Aufgeklärten und Unaufgeklärten, das Aufhören des blinden Zitterns des Volkes vor seinen Weisen und Priestern und „allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister“, ja „ewige Einheit“. Durch diesen ‚gesellschaftlichen‘ Kontext unterscheidet sich die hier aufgestellte Forderung nach einer ‚neuen Mythologie‘ prägnant von dem mythischen Modell, auf Grund dessen Schelling am Ende seines Systems des transscendentalen Idealismus die Rückkehr von Philosophie und Wissenschaft gleichsam in den Mutterschoß der Mythologie vorhersagt. Von solcher Rückkehr verlautet hier, im Systemprogramm, nichts: Es geht ihm um die Vermittlung bestehender Gegensätze, nicht um die Restitution einer vorgeschichtlichen Gestalt und Denkform.
Und dennoch: Mit dieser Vision entlarvt sich das sogenannte Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus als das „Älteste Systemprogramm der politischen Romantik“. Es ist ein geradezu paradigmatisch-reiner Ausdruck der „politischen Romantik“, die Carl Schmitt durchaus treffend charakterisiert hat: Es verkündet zwar die Vision einer allgemeinen Vereinigung, doch liegt ihm kein wirklich „politischer Gedanke“123 zu Grunde, nicht einmal in seiner Forderung nach einem Aufhören des „elenden Menschenwerks“ des Staates. Auch wenn Carl Schmitt auf diesen ja erst zwei Jahre vor seinem Buch über die Politische Romantik veröffentlichten Text nicht eingeht: Insbesondere dieses Systemprogramm ist ein hervorragender Anwendungsfall für seine Bemerkung, die „Revolution der Romantiker“ habe darin bestanden, „eine neue Religion, ein neues Evangelium, eine neue Genialität, eine neue Universalkunst zu versprechen. Von ihren Manifestationen in der gewöhnlichen Wirklichkeit gehörte kaum etwas vor ein Forum externum.“ Das sogenannte Systemprogramm aber hat – damals – nicht einmal den Weg in die Journale gefunden, den Schmitt als die höchste Manifestationsform der politischen Romantik konzediert.124
Dennoch ist das Systemprogramm ein charakteristischer Beleg nicht allein für die damals einsetzende ‚politische Romantik‘, sondern ebenso sehr dafür, welche weite Distanz die sich in ihm aussprechende Denkungsart sowohl gegenüber der Aufklärung als auch gegenüber der christlichen Religion bereits gewonnen hat. Die letztere erscheint nur noch implizit, unter dem Titel des „Aberglaubens“ und des „Priesterthums, das neuerdings Vernunft heuchelt“, sowie im Modus ihrer Überbietung durch eine „neue Religion“; der christliche Gott hingegen ist weder Gegenstand der Erkenntnis noch moralischer Gesetzgeber; er hat alle bestimmende Kraft verloren.
(3) Diese innere Verbindung von politischer Romantik und Mythologie zeigt sich auch dort, wo zwar nicht die Forderung einer ‚neuen Mythologie‘ und ‚neuen Religion‘ erhoben wird, die daran geknüpften Hoffnungen jedoch mit nicht geringerem Pathos durch die Erneuerung der alten Religion erfüllt werden sollen. Insofern ist Novalis’ Fragment Die Christenheit oder Europa funktional ein Analogon der ‚neuen Mythologie‘. Auf Grund der Vorgeschichte steht es allerdings unter erschwerten Bedingungen: Im Interesse der Plausibilität einer an die Erneuerung des Alten geknüpften Vision muss die geschichtliche Wirklichkeit dieses Alten selbst in einen Mythos verwandelt werden – in den Mythos der Kirche, die „nichts als Liebe zu der heiligen, wunderschönen Frau der Christenheit“ gepredigt habe, des „weisen Oberhaupts der Kirche“, das sich mit Recht „frechen Ausbildungen menschlicher Anlagen auf Kosten des heiligen Sinns, und unzeitigen gefährlichen Entdeckungen, im Gebiete des Wissens“, widersetzt habe – wie dem Kopernikanischen Weltbild –, kurz, in den Mythos des „herrlichen Reichs“ der „ächtkatholischen oder ächt christlichen Zeiten“125 – oder wie Schelling despektierlich sagen wird: der
alten Zeiten
Da es nicht gab noch Zank noch Streiten
Waren alle Ein Mus und Kuchen
Thätens nicht in der Ferne suchen126
Doch diese Verklärung des Alten ist nur das Komplement einer ‚neuen Mythologie‘: der Erwartung einer „neuen Geschichte“, einer „neuen Menschheit“, eines „neuen Messias“, einer „neuen goldnen Zeit“, ja der Erwartung, dass in den anderen europäischen Ländern „ein neues höheres religiöses Leben […] zu pulsiren beginnen und bald Alles andere weltliche Interesse verschlingen wird“, während Deutschland ihnen „einen langsamen aber sichern Gang“ vorausgeht. Mit dieser Hinwendung „zu dem politischen Schauspiel unsrer Zeit“ erhält die ohnehin implizite dramatische ‚politische Romantik‘ dieses Fragments einen zusätzlichen explizit politischen Bezug. Er setzt sich noch verstärkt fort in der Behauptung, es sei „unmöglich daß weltliche Kräfte sich selbst ins Gleichgewicht setzen“; den „Palmenzweig“ des Friedens könne „allein eine geistliche Macht darreichen“: „Nur die Religion kann Europa wieder aufwecken und die Völker sichern, und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden in ihr altes friedenstiftendes Amt installiren.“ In der „Menge wahrhaft heiliger Gemüther“ werde die Sehnsucht wachsen, „den Himmel auf Erden zu erblicken“ und „heilige Chöre“ anzustimmen, und unter der Leitung der Kirche würden „alle nöthigen Reformen […] als friedliche und förmliche Staatsprozesse betrieben werden“.127
Es zählt zu den vergleichsweise harmlosen, ja vergnüglichen Wirkungen dieser von aller Wirklichkeit so abgehobenen, aber politisch sein wollenden Phantasien, dass Schelling durch sie „einen neuen Anfall von seinem alten Enthusiasmus für die Irreligion bekommen“ und „ein Epikurisch Glaubensbekentniß in HansSachsGoethens Manier entworfen“ hat.128 Er habe, wie es darin heißt, „so [Schleiermachers] Reden als [Novalis’] Fragment gelesen“ und
war schon über Kopf und Hals
In der Beschauung des Weltenalls
Als mich thät der Verstand gemahnen
Daß ich wär auf der falschen Bahnen
Auf die rechte „Bahnen“ gerät „Heinz Wiederporst“ alias Schelling alsbald durch „Wein und Braten“ wie auch durch den Umgang mit Frauen; hierdurch kommt er
ins Klare
Die Materie sey das Einzig wahre,
Unser aller Schutz und Rather,
Aller Dinge einziger Vater
Alles Denkens Element
Alles Wissens Anfang und End129
Schleiermacher hat – trotz der auch gegen ihn gerichteten Spitzen dieses ‚epikurischen Glaubensbekenntnisses‘ – bedauert, dass es damals nicht veröffentlicht worden ist; Schelling selber allerdings wird dies wenig später nicht unlieb gewesen sein, da er hier, aus Lust an der Polemik, doch weit über seine Position hinausgegangen ist; hierauf deutet auch der sorgfältig abgegrenzte, theologisch entschärfte Ausschnitt, den er ein Jahr später veröffentlicht hat.130
(4) Novalis’ Fragment Die Christenheit oder Europa erhebt keine Forderung nach einer ‚neuen Mythologie‘ – doch mit seiner Verkündung einer kommenden neuen Menschheit, Religion und goldenen Zeit ist es selber als ein Äquivalent solcher Mythologie zu betrachten, einer auf die alte Religion gestützten und sie verwandelnden Mythologie. Eine weitere explizite Forderung nach einer ‚neuen Mythologie‘ erhebt Friedrich Schlegel in seiner Rede über die Mythologie131 – und wohl nicht zufällig exakt zur gleichen Zeit mit Schelling. Doch anders als bei diesem erwächst Schlegels Forderung mit einiger Konsequenz aus seinen früheren eigenen literarischen Absichten: Im Juli 1798 schreibt er an Schleiermacher, es sei sein „höchster litterarischer Wunsch, eine Moral zu stiften“ – wobei fraglos nicht an eine Moral im Kantischen Sinne zu denken ist! –, und wenige Monate später träumt er davon, eine neue Bibel zu schreiben, Stifter einer neuen Religion zu werden, „auf Muhameds und Luthers Fußtapfen zu wandeln“.132 Man konnte sich aber schwerlich lange vor sich selbst verbergen, dass diese Hoffnung auf die Tat eines einzelnen sich nicht verwirklichte – und so tritt an ihre Stelle die Erwartung, dass eine ‚neue Mythologie‘ sich aus dem Geist des Zeitalters heraufführen werde – denn: „was nothwendige Gesetze für den Gang des Ganzen erwarten lassen, darin kann unsre Erwartung nicht getäuscht werden“.133
Anders aber als die bisher genannte anaklitische Konzeption Schellings134 und die ‚politische‘ des Systemprogramms wie auch Friedrich von Hardenbergs hat die ‚neue Mythologie‘ Schlegels ihr Zentrum im Bereich der Kunst, der Poesie: „Denn Mythologie und Poesie, beyde sind Eins und unzertrennlich.“135 Damit verliert sie aber keineswegs ihren ‚Religionscharakter‘ – denn „in der Welt der Kunst und der Bildung, erscheint die Religion notwendig als Mythologie oder als Bibel“;136 insofern ist auch Schlegels ‚neue Mythologie‘ noch eine Erscheinungsform von Religion. In seinen Vorlesungen über Transzendentalphilosophie (1800 / 01) rechtfertigt Schlegel diesen Zusammenhang: „Die Kritik der Begriffe von Glauben, Wunder, Offenbahrung“ könne „zwar ein philosophisches Geschäft seyn, aber sie führt nicht zur Philosophie der Religion.“ Denn die Religion sei „auf Begriffe gegründet, die so allgemein sind, dass man zweifeln könnte, ob sie der religiösen Sphäre eigen sind.“ Sie seien „keiner andern als einer symbolischen Darstellung fähig, dies leitete uns auf die Mythologie.“137
Die Betonung der Einheit und Unzertrennlichkeit von Mythologie und Poesie stellt beide jedoch nicht auf die gleiche Stufe. Die Mythologie bildet vielmehr den „mütterlichen Boden“, gleichsam die geistige Substanz der Poesie, die sich sonst in einzelne Schöpfungen aus dem Nichts auflöst. Dieses Verlangen nach einem „festen Halt“138 für das dichterische Schaffen unterscheidet Schlegels Forderung der Mythologie von der des Systemprogramms und Schellings. Es fehle, so Schlegel, „unsrer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie für die der Alten war, und alles Wesentliche, worin die moderne Dichtkunst der antiken nachsteht, läßt sich in die Worte zusammenfassen: Wir haben keine Mythologie. Aber setze ich hinzu, wir sind nahe daran eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, daß wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen“ – und Ludoviko alias Schlegel beschwört seine Freunde, „nur dem Unglauben an die Möglichkeit einer neuen Mythologie nicht Raum zu geben“.139 Schlegel sieht hierin ersichtlich weniger Probleme als Schelling – aber auch Schleiermacher nimmt an diesem Punkt Anstoß: Das Gespräch über die Poesie sei „voll sehr schöner Ideen, und gewiß das Klarste, was er [sc. Friedrich Schlegel] noch geschrieben hat. Nur die neue Mythologie hat mir so etwas sonderbares an sich; ich kann nicht begreifen wie eine Mythologie gemacht werden kann.“140
Allerdings räumt auch Schlegel ein, die „neue Mythologie“ müsse, anders als die alte, aus der „jugendlichen Fantasie“ hervorgegangen sein, „aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muß das künstlichste aller Kunstwerke seyn“.141 Deshalb brauche man aber nicht an seiner Möglichkeit zu zweifeln, denn auch der „Idealismus“ sei „gleichsam wie aus Nichts entstanden“, und durch ihn sei nun „auch in der Geisterwelt ein fester Punkt constituirt, von wo aus die Kraft des Menschen sich nach allen Seiten mit steigender Entwicklung ausbreiten kann“. Der Idealismus müsse „auf eine oder die andre Art aus sich herausgehn“, und so werde sich „aus seinem Schooß ein neuer eben so gränzenloser Realismus erheben; und der Idealismus also nicht bloß in seiner Entstehungsart ein Beyspiel für die neue Mythologie, sondern selbst auf indirekte Art Quelle derselben werden.“ Wegen dieses Ursprungs aus dem Idealismus werde der „neue Realismus“ „gleichsam auf idealischem Grund und Boden schweben“ und „als Poesie erscheinen“, „die ja auf der Harmonie des Ideellen und Reellen beruhen soll.“142
Demnach trägt die ‚neue Mythologie‘ ihren Namen nicht wegen eines analogen Inhalts mit der alten Mythologie, sondern wegen der funktionalen Äquivalenz mit ihr, der Fundierungsfunktion für die Poesie. Der – im alten Sinne – wenig mythologische Charakter der ‚neuen Mythologie‘ wird noch deutlicher dadurch, dass Schlegels Urbild des ‚neuen Realismus‘ kein anderes ist als – Spinoza. Im Hintergrunde seiner Konzeption des Zusammenhangs von Idealismus und Realismus steht der von ihm – damals – wenig geschätzte Jacobi: Dieser hat ja nicht allein in seinem David Hume143 das Thema ‚Idealismus und Realismus‘ zu einem zentralen Thema der damaligen Philosophie gemacht. Diese primär erkenntnistheoretische Entgegensetzung verschränkt sich damals mit der philosophiegeschichtlichen Entgegensetzung von (transzendentalphilosophischem) ‚Kritizismus‘ und ‚Dogmatismus‘ oder ‚Idealismus‘ und ‚Materialismus‘ – und da sowohl der ‚Idealismus‘ als auch der ‚Kritizismus‘ durch Fichte konnotiert sind und der ‚Dogmatismus‘ bzw. ‚Materialismus‘ durch Spinoza, so wird dieser zum Gewährsmann auch für den ‚Realismus‘. Jacobi hat den Fichteanismus ja auch als einen „umgekehrten Spinozismus“ bezeichnet,144 und ein ‚umgekehrter Idealismus‘ in diesem Sinne ist somit ein ‚Realismus‘.
Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzungen steht Schlegels Stilisierung Spinozas zum Repräsentanten des ‚Realismus‘. Er macht aber noch einen ihm eigentümlichen Schritt – oder wohl besser Sprung –: Auf Grund seiner, durch seinen eigenen Ausgang von Kant und eine spätere Nähe zu Fichte wie überhaupt durch die damalige philosophische Konstellation genährten Überzeugung, dass der Realismus „in Gestalt der Philosophie oder gar eines Systems […] nie wieder auftreten“ könne, behauptet er zu wissen, dass er sein „Ideal“ des Realismus „nur in der Poesie finden kann“. Er hält an der zentralen Bedeutung Spinozas fest, doch weil er sie nicht mehr in der Philosophie ansiedeln kann, weist er Spinoza eine „Wohnung im Tempel der neuen Poesie mit Homer und Dante“ zu und verweist alle gottbegeisterten Dichter an ihn. Man könne nicht Dichter sein „ohne den Spinosa zu verehren, zu lieben und ganz der seinige zu werden“145 – und mit der letzten Wendung spielt er an auf das von Jacobi überlieferte Wort Lessings aus dem ‚Spinoza-Gespräch‘ in Wolfenbüttel 1780.146 Ein Blick in Spinoza sei „ein tiefer Blick in die innerste Werkstätte der Poesie“; in Spinoza finde man als Dichter „den Anfang und das Ende aller Fantasie, den allgemeinen Grund und Boden, auf dem Euer Einzelnes ruht und eben diese Absonderung des Ursprünglichen, Ewigen der Fantasie von allem Einzelnen und Besondern muß Euch sehr willkommen seyn“; er sei „der allgemeine Grund und Halt für jede individuelle Art von Mystizismus“.147
Es ist ein Zeichen für den Umschwung, der sich damals in der Stellung zur Religion und zum Gottesgedanken vollzieht, aber ebenso sehr für die gegenläufigen Tendenzen, die starken inneren Spannungen der Zeit, dass Schlegel hier, im Jahre 1800 – also in dem Jahr, das durch Friedrich Leopold Graf zu Stolberg in die Annalen der Konversionsbewegung eingegangen ist – die ‚gottbegeisterten Dichter‘ an Spinoza verweist – also an denjenigen, der bis zu der von Jacobi unwillentlich ausgelösten ‚Spinoza-Renaissance‘ als Atheist verfemt worden ist –, übrigens ohne dass dies auf den Widerspruch oder doch wenigstens die verwunderte Nachfrage der Teilnehmer am Gespräch über die Poesie stieße. ‚Marcus‘ reibt sich zwar an der „barbarischen Form“ der Philosophie Spinozas, wird jedoch durch ‚Antonio‘ belehrt, dass es sinnvoll gewesen sei, „den Urquell der Poesie in den Mysterien des Realismus zu zeigen“, eben weil bei Spinoza „an keine Poesie der Form zu denken ist“. Seine Erhebung zum „Repräsentanten“148 der neuen Denkweise wird jedoch nicht zum religiösen oder theologischen Problem, ebenso wenig wie die Hommage an Spinoza in Schleiermachers ‚Reden‘, die nicht in der zeitgenössischen Diskussion, sondern nur in der kirchlichen Administration auf Widerspruch gestoßen ist. Nach dem Atheismusstreit und Schleiermachers ‚Reden‘ erscheint der Gedanke eines persönlichen Gottes in der ‚ästhetischen Religion‘ nicht mehr als eine zu erörternde Option; vom ‚Evangelium‘ ist nur noch die Rede als vom künftigen „Evangelium der Menschheit und der Bildung“, und auch die Welt wird nicht mehr als Gottes Schöpfung angesprochen, sondern als ein „ewig sich selbst bildendes Kunstwerk“.149
Damit sind aber nur die Referenten für die ‚neue Mythologie‘ genannt; sie selber ist noch nicht plastisch geworden. Schlegel gibt auch nur wenige Hinweise, um sie zu veranschaulichen – und einige von ihnen gehen in die Richtung des Vermittlungsgedankens des Systemprogramms, aber auch darüber hinaus. Ein „großer Vorzug“ der Mythologie liege darin: „Was sonst das Bewußtseyn ewig flieht, ist hier dennoch sinnlich geistig zu schauen“; es sei „der Anfang aller Poesie, den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen, für das ich kein schöneres Symbol bis jetzt kenne, als das bunte Gewimmel der alten Götter“ – und deshalb komme es auf den Versuch an, „einmal die alte Mythologie voll von Spinoza und von jenen Ansichten, welche die jetzige Physik in jedem Nachdenkenden erregen muß, zu betrachten“.150 Und als ‚Ludoviko‘, der ‚Redner über die Mythologie‘, seine eigene Ansicht des Realismus vortragen soll, meint er, dies könne nur auf die Art Dantes geschehen.151
Das Verlangen nach dem ‚festen Halt‘, mit dem die Rede einsetzt und das durch die ‚neue Mythologie‘ befriedigt werden soll, wird hier, an ihrem Ende, durch eine haltlose Vermischung unterschiedlichster Ingredienzien abgelöst. Ende Juli 1798 hat Schlegel noch an Schleiermacher berichtet, Novalis sei „dran, die Religion und die Physik durch einander zu kneten. Das wird ein interessantes Rührey werden!“152 Nun aber führt der Weg zur ‚neuen Mythologie‘ in Schlegels Sicht teils über die Vermittlung von Geistigem und Sinnlichem, teils über die Ersetzung der Vernunft durch Phantasie und teils über die Neuinterpretation der ‚alten Mythologie‘ im Lichte Spinozas und der „jetzigen Physik“, also der ‚romantischen Naturphilosophie‘, die für ihn „in Kosmogonie geräth, in Astrologie, Theosophie oder […] kurz in eine mystische Wissenschaft vom Ganzen“.153 Zur Beschleunigung der Heraufkunft der ‚neuen Mythologie‘ und mit ihr der „goldenen Zeit“ plant Schlegel nun auch noch die Wiedererweckung der „christlichen Mythologie“ Dantes und der „andern Mythologien“ – und insbesondere derjenigen des Orients. Der Orient oder gar der „ewige Orient“154 wird hier zur Chiffre des höchsten Romantischen. Bereits in seinen Notizen zu Schleiermachers ‚Reden‘, 1799, versteht Schlegel diese als ein „unerwartetes Zeichen des fernher nahenden Orients“, und in der Rede über die Mythologie führt er dies noch weiter aus: „Wären uns nur die Schätze des Orients so zugänglich wie die des Alterthums! Welche neue Quelle von Poesie könnte uns aus Indien fließen, […]. Im Orient müssen wir das höchste Romantische suchen“155 – aber in der „südlichen Gluth“ „Indiens“ und nicht etwa in dem mit der Vernunftreligion und Moral der Aufklärung assoziierten China. (5) Schelling beteiligt sich nicht an dieser Schatzsuche im Orient. Er sucht die Verbindung – und noch mehr: die ‚Verbündung‘ – von ‚Religion und Poesie‘ bei demjenigen, dessen Name auch Schlegel in der Rede über die Mythologie nennt: bei Dante. Allerdings sieht er ihn nicht, wie Schlegel, als einen Repräsentanten des ‚Realismus‘, aber auch nicht als den Vertreter eines ‚christlichen Weltbilds‘, sondern als denjenigen, der „die besondere Mischung des vorliegenden Stoffs der Zeit und seines Lebens gestaltet“ – zur Mythologie gestaltet.156 Denn Schelling sieht es als ein „nothwendiges Gesetz“ an, „daß das Individuum den ihm offenbaren Theil der Welt zu einem Ganzen bilde und aus dem Stoff seiner Zeit, ihrer Geschichte und ihrer Wissenschaft sich seine Mythologie erschaffe.“ Sie könne jedoch nicht Mythologie sein, „ohne universell zu seyn und alle Elemente der vorhandenen Bildung, die Wissenschaft, die Religion, die Kunst selbst, in ihren Kreis zu ziehen und nicht allein den Stoff der gegenwärtigen, sondern auch den der vergangenen Zeit zu einer vollkommenen Einheit zu verknüpfen“ – und dies habe Dante getan.157
Für Schelling ist die ‚neue Mythologie‘ nicht der ‚feste Halt‘ und ‚mütterliche Boden‘, aus dem die Poesie erwächst, wie in Schlegels Rede; sie ist das Resultat, die erst herzustellende „Ganzheit“ oder „Universalität“, der „allgemeine Ocean“, in den die einzelnen Ströme der Religion, Kunst, Geschichte und Wissenschaft zurückfließen; dies wird hier deutlicher als im Schlussabschnitt des Systems des transscendentalen Idealismus:158 Es geht nun nicht allein um die anaklitische Grundstruktur, um die Notwendigkeit der Rückkehr in den Ursprung, sondern es geht Schelling nun darum, die unterschiedlichen, von einander getrennten Bereiche des geistigen Lebens – Religion, Philosophie, Poesie – in einer Einheitsgestalt zusammenzufassen und ihrer zeitgenössischen Parzellierung entgegenzuwirken.
Zugleich zeichnet sich auch die „Auflösung“ des dort gestellten Problems ab, wie eine „neue Mythologie“ die „Erfindung“ nicht eines „einzelnen Dichters, sondern eines neuen nur Einen Dichter gleichsam vorstellenden Geschlechts seyn kann“:159 Dieses eine Individuum muss „durch die höchste Eigenthümlichkeit wieder allgemeingültig, durch die vollendete Besonderheit wieder absolut“ werden – und da diese Einheit in Dante wirklich geworden sei, „durch das schlechthin Individuelle, nichts anderm Vergleichbare seines Gedichts“, sieht er ihn als den „Schöpfer der modernen Kunst, die ohne diese willkührliche Nothwendigkeit und nothwendige Willkühr nicht gedacht werden kann.“160 Diese Bestimmung aber wirft ein neues Problem auf: Schelling spricht ja nicht allein dem Dichter solche ‚Modernität‘ zu; er spricht seinem Werk eine „Urbildlichkeit für die ganze moderne Poesie“ zu. Zu Beginn seiner kleinen Abhandlung führt er Dante jedoch als den Dichter ein, dessen Werke „längst die Heiligkeit des Alterthums bedeckt.“ Dadurch aber bricht ein Konflikt zwischen dieser „Heiligkeit des Alterthums“ und der behaupteten Modernität auf – und damit auch der Verdacht, dass eben diese Darstellung des Ganzen in mythologischer Form doch eher eine nicht-moderne, hier aber zur Modernität verklärte Gestalt sei. Diesen Konflikt aber thematisiert Schelling nicht – vielleicht weil er glaubte, die Lösung bereits in seiner Abhandlung Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt gegeben zu haben.
(6) Mit dieser Abhandlung161 führt Schelling die Thematisierung der Religion von ihrer Verknüpfung mit Poesie und Mythologie und aus dem Umkreis der Romantik wieder in den engeren Rahmen der Philosophie und der philosophischen Theologie zurück. Vom Ansatz und von ihrem Rahmen her ist sie eine heftige Polemik gegen Fichtes ‚Idealismus‘, und gerade auch gegen den Aufsatz, mit dem Fichte den Atheismusstreit ausgelöst hat.162 Seine Philosophie habe nur „der uralten Entzweyung eine neue Form gegeben“: „ein Enthusiasmus, der sich groß dünkt, wenn er sein Ich dem wilden Sturm der Elemente, den tausendmal tausend Sonnen und den Trümmern des Weltalls – in Gedanken – entgegenstellt, macht sie populär, und zu einer, übrigens tauben und hohlen, Frucht der Zeit, deren Geist diese leere Form eine Zeit lang emporgetragen hat, bis sie, wie seine eigne Ebbe eintritt, mit ihm zugleich zurücksinkt.“
Der im Atheismusstreit für Fichte zentrale Ausdruck „moralische Weltordnung“ sei „nur paraphrastisch, Ausdruck einer gleichen – nicht Sprach-, sondern philosophischen Armut“, und Fichtes nicht spekulative, sondern rein-moralische Fassung des Absoluten greife „auf Alles über“ und habe zur Konsequenz, „daß auch das Universum auf eine moralisch bedingte Welt reducirt und alle übrige Schönheit und Herrlichkeit der Natur in dergleichen Beziehungen aufgelöst wird“. Deshalb wirft Schelling der kritischen Philosophie vor, sie habe Gott nur angenommen, „um die moralischen Zwecke reimen zu können, also keineswegs um seiner selbst willen“ – und gegen eine solche Philosophie, die den Gottesgedanken in dieser Weise instrumentalisiert, setzt er seine „Naturphilosophie“: „weil wir eine Philosophie, die nicht in ihrem Princip schon Religion ist, auch nicht für Philosophie anerkennen, verwerfen wir eine Erkenntniß des Absoluten, die aus der Philosophie nur als Resultat hervorgeht“ – wie dies eben in der ethikotheologischen Begründung des Gottesgedankens der Fall ist. Von einer Philosophie kann man dann sagen, dass sie „in ihrem Princip schon Religion ist“, wenn sie den Gottesgedanken selber zum Prinzip hat. Hegel spricht diesen Gedanken gleichzeitig, etwas ausführlicher, so aus, dass es jetzt „Interesse der Philosophie ist, nämlich einmal wieder Gott absolut vornehin an die Spitze der Philosophie als den alleinigen Grund von allem, als das einzige principium essendi und cognoscendi zu stellen, nachdem man ihn lange genug neben andere Endlichkeiten, oder ganz ans Ende als ein Postulat, das von einer absoluten Endlichkeit ausgeht, gestellt hat“.163
Um aber von der philosophischen Theologie zur Religion zu gelangen, ist noch ein weiterer Schritt zu vollziehen: Er liegt in der Einsicht, dass es „uns unmöglich ist, Religion, als solche, ohne historische Beziehung zu denken“. Mit dieser Bemerkung leitet Schelling über zu einer quasi religionsgeschichtlichen Konstruktion im Mittelteil164 seiner Schrift – damit aber zugleich zu Stichworten, die der vorhergehenden ‚mythologischen‘ Diskussion angehören: Religion sei stets „unmittelbare Vergötterung des Endlichen, oder das Schauen Gottes im Endlichen. Dieser Gegensatz ist der einzig mögliche in der Religion, darum giebt es nur Heydenthum und Christenthum, außer diesen beyden ist nichts, als die, beyden gemeinschaftliche, Absolutheit.“165 Die religiöse und poetische Anschauung des Heidentums gehe aus vom Endlichen und ende im Unendlichen; die Blickrichtung der christlichen Religion sei hingegen zu charakterisieren als „Einbildung des Unendlichen ins Endliche, Anschauung des Göttlichen im Natürlichen“, als „Endlichwerdung des Unendlichen, durch ein Menschwerden Gottes“. Diese schematische Zuordnung der – heidnischen – Einbildung des Endlichen in das Unendliche und der – christlichen – Einbildung des Unendlichen in das Endliche verdeckt jedoch die fundamentale Asymmetrie beider Religionen: Denn Schelling fasst den Ausgangspunkt der griechischen Mythologie trotz der ihr unterstellten Bewegung als „angebohren“, aber als eine „unaufgehobene Identität“, die nur kurze Zeit dauern könne und unwiederbringlich verloren sei, den Ausgangspunkt der christlichen Religion hingegen zwar als Produkt der Freiheit, aber als „absolute Trennung“, als „Gefühl einer Entzweyung der Welt mit Gott“. Da aber „alle Entgegengesetzte es aufhören zu seyn, so wie jedes für sich in sich absolut ist, so ist nicht zu zweifeln, daß auch in der Richtung, die dem Christenthum vorgeschrieben ist, die andre Einheit, welche die der Aufnahme des Unendlichen ins Endliche ist, sich in die Heiterkeit und Schönheit der griechischen Religion verklären könne. Das Christenthum als Gegensatz ist nur der Weg zur Vollendung; in der Vollendung selbst hebt es sich als Entgegengesetztes auf; dann ist der Himmel wahrhaft wiedergewonnen, und das absolute Evangelium verkündet.“
Und da diese Vollendung somit die Aufhebung der für die christliche Religion charakteristischen Entzweiung voraussetzt, erwägt Schelling, ob der zeitgenössische Zerfall der „bloß äußern Formen des Christenthums“ nicht ein glückliches Vorzeichen für den Anbruch der „Zeit des wahren Evangeliums der Versöhnung der Welt“ bilde, die eben in der Rückkehr „zu der Heiterkeit und Reinheit der griechischen Naturanschauung“ bestehe, und zwar eine Rückkehr auf dem Wege „der Wiederherstellung der verlornen Identität durch die Speculation, und Wiederaufhebung der Entzweyung in einer höhern Potenz“ – eben durch die Naturphilosophie. Das Heil erwartet Schelling somit auch hier durch die Figur der Rückkehr zum Ursprung, freilich „in einer höhern Potenz“ – auch wenn er sie hier nicht mehr unter den Namen der ‚neuen Mythologie‘ stellt.
(7) Bei seiner Diagnose des – glücklichen – Zerfalls der äußeren Formen des Christentums berücksichtigt Schelling nicht, dass bereits einige Jahre zuvor, ebenfalls in der frühen Romantik, eine Wendung in Richtung einer Wiederbelebung der christlichen Religion eingetreten ist – also ebenfalls über die Verbindung von Kunst und Religion. Die Initiative zu ihrer Erneuerung geht von der Dichtung aus – und soweit sie durch den Namen Wackenroder gekennzeichnet ist, braucht an sie nur erinnert zu werden.166 Sie greift aber bald auf weitere Kreise über: Auch August Wilhelm Schlegel empfiehlt einen Bund der Kirche mit den Künsten:167 Aus der Welt, die sich von den alten griechischen Göttern abgewendet und „Geist und Wahrheit“ zugewandt hat, sind die Künste auf den Parnass geflohen, und das vom Himmel einherschreitende „hohe Weib“, die Kirche, geht hart mit ihnen ins Gericht: Sie sollten mit sich hadern,
Weil euer Zauber Reiz der Sünde lieh,
Und weil ihr auf des Irrthums Schlangenpfade
Die Sterblichkeit verlockt vom Ziel der Gnade.
Doch stellt sie den Künsten – ihre Buße vorausgesetzt – auch eine neue Zukunft in Aussicht:
Verlorne Schwestern, weiht euch meinem Dienste,
So führ’ ich euch zu himmlischem Gewinnste.
Und sie weist ihnen auch den Weg dorthin:
Wohlan! ihr Künste! es gebiert euch wieder,
Wenn ihr mein Thun hienieden würdig ziert,
Wenn ihr vom Himmel auf die Erde nieder
Die Heiligkeiten, bildlich deutend, führt.
Und nachdem sie die Künste zu ihrem je spezifischen Beitrag zur Verherrlichung der christlichen Religion aufgefordert hat, wird sie nochmals konkreter: Sie verpflichtet die Künste auf die große, ehemals weltliche, nun aber geistliche Stadt und ihren ‚Tempel‘ – auf Rom und die Peterskirche. (8) August Wilhelm Schlegels Gedicht steht somit bereits im Umkreis der damals einsetzenden Konversionsbewegung; das Jahr seiner Veröffentlichung – 1800 – ist das Jahr der Konversion Stolbergs. In der christlichen Religion scheint bereits der ‚feste Halt‘ gefunden, den Friedrich Schlegel – ebenfalls in diesem Jahr – noch in der ‚neuen Mythologie‘ gesucht hat. Und noch bevor er sich dem vom Bruder gewiesenen Weg – anders als dieser – ganz anvertraut, verschwimmen bei ihm beide Richtungen – auf das ‚ganz Neue‘ und auf das ‚ganz Alte‘, auf die ‚neue Mythologie‘ und auf die christliche Religion – mit einander: Es sei der „Zweck der neuen Philosophie“, „die herrschende Denkart des Zeitalters ganz zu vernichten, und eine ganz neue Literatur und ein ganz neues Gebäude höherer Kunst und Wissenschaft zu gründen und aufzuführen. Es kann und es darf gesagt werden, daß es ihr bestimmter Zweck sei, die christliche Religion wieder herzustellen, und sich endlich einmal laut zu der Wahrheit zu bekennen, die so lange ist mit Füßen getreten worden.“
Der ‚ausdrückliche Zweck der neuen Philosophie‘ schließt nun aber noch mehr ein als die Rückwendung zur christlichen Religion: Nun formuliert Schlegel das Ziel, „die altdeutsche Verfassung, d. h. das Reich der Ehre, der Freiheit, und treuen Sitte wieder hervorzurufen, indem man die Gesinnung bilde, worauf die wahre freie Monarchie beruht, und die notwendig den gebesserten Menschen zurückführen muß zu dieser ursprünglichen und allein sittlichen und geheiligten Form des nationalen Lebens“.
Und es ist eigentümlich, dass Schlegel in diesem Zusammenhang auch die Struktur der mythischen Anaklisis bemüht, die Schelling zunächst im System des transscendentalen Idealismus eingeführt hat, und zudem in einem Passus, der gegen die Rede vom ‚Erfinden‘ in Schellings Dante-Abhandlung zu polemisieren scheint: indem Schlegel nun prophezeit, dass der „neue bloß menschliche, d. h. durch Menschengeist und Menschenkunst erfundene und gebildete Idealismus, je höher gesteigert, je künstlicher vollendet, je reiner geläutert er sein wird, von allen Seiten zurückführen muss zu jenem alten, göttlichen Idealismus, dessen dunkler Ursprung so alt ist wie die ersten Offenbarungen, den man nicht erfinden kann, und auch nicht zu erfinden braucht, sondern nur zu finden und wiederzufinden, der überall in den frühesten und unwissendsten Epochen, wie in den verderbtesten und verwildertsten von Zeit zu Zeit hervortrat, die alten Offenbarungen durch neue Göttlichkeiten zu deuten und zu bestätigen, und dessen reichste Fülle himmlischer Erleuchtung sich besonders und vor allen herrlich in Einem deutschen Geiste der vergangenen Zeiten entfaltet hat. Zu diesen ältesten Geheimnissen göttlicher Wahrheit führt die vollendete Wissenschaft notwendig zurück, und so dürfen wir mit kühner Hoffnung alle die weiteren Entwicklungen erwarten.“168
In der Denkstruktur der mythischen Anaklisis fließen hier das Älteste und das Künftige, das Nahe und das Entfernte, die ‚neue Mythologie‘, die ‚Schätze des Orients‘ und die christliche Religion und die altdeutsche Verfassung und das nationale Leben undifferenziert zu einer konturlosen Gestalt der politischen Romantik zusammen.
Es verwundert nicht, dass dieser Vermischung kein dauerhafter Bestand beschieden gewesen ist. Doch ist es bemerkenswert, dass gerade die Kunst, näher die Malerei, ein wichtiges Ferment ihrer Auflösung geworden ist: In den Gemäldebeschreibungen, die Friedrich Schlegel in den Jahren 1803 und 1805 in seiner Zeitschrift Europa veröffentlicht, gewinnen die ‚christlichen Sinnbilder‘ den Vorrang über die antik-mythologischen Stoffe – und von anderen ist ohnehin nicht die Rede: In der alten italienischen Schule werde die „alte Mythologie nur als eine zu diesem leichten Zweck erlaubte Bildersprache gebraucht, für Allegorien, für Gedanken, mit dem es nicht so heiliger Ernst ist, als mit den höchsten des christlichen Glaubens“. Die Kunst dürfe „durchaus nicht abweichen“ „von der ursprünglichen Bestimmung, die sie in alten Zeiten überall hatte, die Religion zu verherrlichen, und die Geheimnisse derselben noch schöner und deutlicher zu offenbaren, als es durch Worte geschehen kann“. Nun betont Schlegel, dass die Kunst von der Religion „nie getrennt werden kann ohne sich selbst zu verlieren“; dadurch aber wird die Religion zur notwendigen Voraussetzung der Kunst.169 Die Verbindung von Kunst und Religion, die die Grundlage für das neue, nicht-moralische Verständnis der Religion bildet, ist damit zwar nicht aufgelöst, jedoch entscheidend modifiziert: Kunst – v. a. Poesie – und Religion sind nicht mehr ihrem Begriff nach so eng auf einander bezogen, dass die Grenzen zwischen ihnen verschwimmen, sondern der Kunst wird eine zwar wichtige, aber gleichwohl dienende Funktion zugewiesen: Sie veranschaulicht und verherrlicht den von der Religion gelehrten Inhalt, doch dieser ist ihr verbindlich vorgegeben. Und nun, da der lange gesuchte ‚feste Halt‘ endlich in der Religion gefunden ist, ist auch nicht mehr die Rede von einer ‚neuen Mythologie‘. Von daher versteht sich auch das Verdikt in Schlegels Fichte-Rezension: „fast die ganze Zeitgeschichte“ sei „ein fortgehender Beleg für jene Erscheinung einer bloß politischen, oder bloß ästhetischen Religion“ – einer „nur den Zwecken des Staats dienenden“ und einer „ganz oberflächlichen bloß ästhetischen Religion vager Gefühle“170 – die es nun endlich zu Gunsten der wahren Religion beseitigen gilt.
Die hier zunächst nur angedeutete neue Position baut Schlegel in den Kölner Vorlesungen Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern (1804 / 05) weiter aus: Im kritischen Durchgang durch Empirismus, Materialismus, Skeptizismus und Pantheismus begründet Schlegel seine neue Ansicht, dass allein der Idealismus auf dem wahren Wege sei; der „Ursprung der Intellektualphilosophie, die in der Geschichte am höchsten hin-aufsteigt, ruhet, so weit Geschichte und Tradition selbst führen, auf einer höheren göttlichen Offenbarung“. Die Religion sei „das Bestreben, den gesunkenen Menschen zum ersten Prinzip seines Daseins, zum göttlichen, unendlichen zurückzuführen“, und so müsse sie ihn „überall mit Andeutungen und Erinnerungen seines göttlichen Ursprungs ansprechen“.171 Auf einem langen Wege der Kommentierung der Geschichte der Philosophie gelangt Schlegel zu Spinoza; dieser beginne sein System „mit der unmittelbaren Gewißheit der unendlichen, allvollkommenen, und deswegen einzigen Substanz“ – und dies sei „zwar kein völlig unrichtiger Begriff der Gottheit“, aber „doch immer nur ein negativer Begriff und kann nichts Positives, sondern nur eine negative, spekulative Theologie daraus abgeleitet werden“. Denn ein „positiver Begriff des Unendlichen“ sei der Vernunft nicht möglich – und hieraus zieht Schlegel die Konsequenz: „will man also den positiven Begriff des Unendlichen, der Einheit und Mannigfaltigkeit nicht ganz aufgeben […], so bleibt nichts anderes übrig, als zu den übernatürlichen Erkenntnisquellen seine Zuflucht zu nehmen, aus denen, […] der positive Begriff der Gottheit sehr erklärlich ist“. Diesen „durchaus positiven Begriff der Gottheit als eines einigen, allmächtigen, allverständigen Wesens, aus dessen Fülle und Kraft alles hervorgegangen sei“, finde man auch schon in den „allerältesten Mythologien und Religionen, deren Alter gar nicht zu bestimmen ist“ und die sich „nur aus höherer Mitteilung und Offenbarung“ erklären lassen. Hier versteht Schlegel allerdings ‚Offenbarung‘ noch als einen rein geistigen Vorgang: Gott rege im Geist des Menschen selbst seinen Begriff an; die Offenbarung durch heilige Bücher hingegen gehöre der „positiven Theologie“ an.172 In seiner Rezension von Jacobis Schrift Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung wird er später Jacobi eben dies zum Vorwurf machen, dass er über die bloß „innere“, geistige Offenbarung nicht hinausgegangen sei, zur „positiven, im Christenthum gegebenen“ Offenbarung.173