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2 Das Dezennium der moralischen Religion

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(1) Der Terminus ‚Religionsphilosophie‘ ist zwar zuerst mit Bezug auf Kants Ethikotheologie in die Diskussion eingeführt worden; Kant selber aber hat seine ‚Religionsschrift‘ nicht allein unter einen anderen Titel gestellt,45 sondern ihn auch in seiner Schrift durchgängig vermieden46 und statt dessen von ‚philosophischer Religionslehre‘ gesprochen – wahrscheinlich, um zum Ausdruck zu bringen, dass es sich bei ihr nicht um eine ‚philosophische‘ Betrachtung der Religion als einer vorausgesetzten Gestalt der Wirklichkeit handelt, und deshalb auch nicht um einen Eingriff in die Domäne der theologischen Fakultät, sondern um eine eigenständige, zur ‚offenbaren Religion‘ parallele und dieser letztlich vorgeordnete Gestalt. Deshalb ist der Ansatz seiner „philosophischen Religionslehre“ weiterhin rein ethikotheologisch: Nachdem Kant zu Beginn der Vorrede bekräftigt, die Moral bedürfe „weder der Idee eines andern Wesens“ über dem Menschen „noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst“, führt er hier – auf der Grundlage der ‚dritten Kritik‘ – den Gedanken eines mit der moralischen Forderung kompatiblen Endzwecks ein, dessen Möglichkeit aber unter der Bedingung der Annahme eines heiligsten und allvermögenden Wesens steht, und so schließt Kant diesen Gedankengang mit der Feststellung ab: „Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert“47 – obschon auch damit der engere Rahmen der Ethikotheologie noch nicht verlassen ist.

Über diesen Rahmen geht Kant jedoch durch den Begriff des ‚rein moralischen Religionsglaubens‘ hinaus. Sein Inhalt ist zwar gegenüber der Ethikotheologie nicht erweitert: Gott als moralischer Gesetzgeber und Weltherrscher sowie Glaube an ein künftiges Leben.48 Doch erlaubt der Begriff des ‚reinen Religionsglaubens‘, die Brücke zwischen der Philosophie und der ‚gottesdienstlichen Religion‘, dem gemeinhin ‚Religion‘ genannten Phänomen zu schlagen, um den ‚reinen Religionsglauben‘ der ‚reinen Vernunftreligion‘ als innersten Kern auch des sonst so genannten ‚Glaubens‘ aufzuweisen und diesen damit der rein-moralischen Kontrolle zu unterwerfen – ein Unternehmen, das, wenn es geglückt wäre, einen tieferen Einschnitt in der Geschichte der christlichen Religion bedeutet hätte als die Reformation: die Vertilgung aller Momente des Christentums, die über den reinen Religionsglauben (einschließlich einiger Hilfestellungen zu seiner Etablierung) hinausgehen, also insbesondere einer über das Element der Moralität hinausgehenden Gottesverehrung und aller gottesdienstlicher Erweiterungen, ja alles „Religionswahns“ und „Afterdienstes“. (168)

Um sich der Berechtigung zu einem derart weitreichenden Schritt zu versichern, gibt Kant es als die „wahre erste Absicht“ schon des Stifters des Christentums aus, „einen reinen Religionsglauben […] einzuführen“. (131)49 Mit der Gründung eines „Volkes Gottes“, eines „ethischen Gemeinwesens“, (100) einer Kirche aber tritt nicht allein – auf Grund der Analogie mit dem „bürgerlichen Gemeinwesen“ – der Gedanke Gottes als des moralischen Gesetzgebers in den Vordergrund, als Anfang und Bedingung der reinen Religion; (181) v. a. lagert sich wegen der Schwäche der menschlichen Natur um den ‚rein-moralischen‘ Kern viel Historisches, Statutarisches ab, so dass es zu einer Dualität von Vernunftglauben und Offenbarungsglauben kommt, (163) von natürlicher, vernünftiger, rein-moralischer und von geoffenbarter, historischer, statutarischer Religion. Dies gilt insbesondere, wenn eine moralische Religion die geschichtliche Nachfolge einer „Religion des bloßen Cultus und der Observanzen“ antritt und als ein „in Erfüllung gegangenes älteres Vorbild dessen, was in der letztern der Endzweck der Vorsehung war, ausgelegt wird“. Kant ist hier sehr realistisch: „unter solchen Umständen kann es nichts fruchten, jene Erzählungen oder Ausdeutungen jetzt zu bestreiten, wenn die wahre Religion einmal da ist und sich nun und fernerhin durch Vernunftgründe selbst erhalten kann, die zu ihrer Zeit durch solche Hülfsmittel introducirt zu werden bedurfte.“ Doch müsse dagegen „mit aller Macht gestritten werden“, dass „das bloße Glauben und Nachsagen unbegreiflicher Dinge […] eine Art oder gar die einzige sei, Gott wohl zu gefallen“. (84f.) Gegen diese Verkehrung von Moralität und gottesdienstlicher Religion – dass zum Fundament gemacht wird, was anfangs nur die Introduktion erleichtern sollte (131) – streitet Kants ‚Religionsschrift‘ in der Tat „mit aller Macht“: „Wenn die Verehrung Gottes das Erste ist, der man also die Tugend unterordnet, so ist dieser Gegenstand ein Idol, […] die Religion aber ist alsdann Idololatrie.“ (185)

In diesen scharfen Wendungen spricht sich Kants fundamentale Überzeugung aus, dass Religion – und zwar alle Religion, nicht allein die christliche – im Kern reine Moral sei und lediglich auf Grund von ‚Unaufgeklärtheit‘ und „Schwäche der menschlichen Natur“ – mehr oder weniger – zu „Afterdienst“ und „Fetischglaube“ pervertiert sei. Ebenso deutlich wird aber eine Aporie: Um den – ja sehr wirkungsmächtigen! – historischen Glauben nicht bloß als verwerfliche Abweichung vom moralischen Wege charakterisieren zu müssen, spricht Kant ihm die Funktion zu, die ‚Introduktion‘ des moralischen Glaubens zu erleichtern, ja er bezeichnet ihn – mit einem damals beliebten apologetischen Topos50 – mehrfach als ein „Vehikel“ der rein-moralischen Religion. (106f. 118. 123) Es ist aber wenig überzeugend, diejenige Religion, von der Kant mehrfach bekräftigt, sie beweise sich selbst, sei allgemein verständlich und jedem einsichtig, von der historischen Religion befördern zu lassen, die eben dieser Vorzüge entbehrt, stets an beschränkte Bedingungen gebunden bleibt und deshalb nie allgemein gefordert werden kann. Die innere Dynamik der geoffenbarten Religion führt nicht zum reinmoralischen Religionsglauben, sondern zur Verfestigung des Geschichtlichen und Gottesdienstlich-Kultischen des Kirchenglaubens. Und deshalb weist Kant – angesichts der Dualität von moralischem und gottesdienstlichem Glauben – vielmehr jenem, unmittelbar in der Vernunft begründeten und von Überlieferung und historischer Gelehrsamkeit ebenso wie von der Schwäche der menschlichen Natur unabhängigen Glauben faktisch die Funktion zu, das Vehikel der Läuterung des historischen Offenbarungsglaubens zu bilden.

(2) Den auf Kants Religionsschrift folgenden Entwürfen einer ‚Religionsphilosophie‘51 ist zweierlei gemeinsam: Zum einen bewegen sie sich im Umkreis der Ethikotheologie Kants und verstehen die Religion als moralische Religion. Deshalb laborieren sie auch sämtlich an der Vermittlung der von Kant aufgeworfenen Dichotomien – von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit, von Moralität und Legalität, von Autonomie und Heteronomie sowie von natürlicher und geoffenbarter, moralischer und gottesdienstlicher Religion – und die Lösungen, zu denen sie jeweils gelangen, fallen sämtlich hinter die Strenge der Ethikotheologie Kants zurück. Dies gilt bereits für Fichtes, noch vor Kants ‚Religionsschrift‘ anonym publizierten und deshalb zunächst für ein Werk Kants gehaltenen Versuch einer Critik aller Offenbarung, eine umfassende, über Kant hinausgehende Klärung des Offenbarungsbegriffs.52

Zum anderen aber lösen sie sich von Kants strenger ethikotheologischer Grundlegung und rein moralischer Interpretation der Religion und suchen die Religionsphilosophie auf eine breitere Grundlage zu stellen. Am wenigsten zeigt sich dieser Fortgang über Kant hinaus – oder Rückgang hinter Kant zurück – in diesen Jahren in den Arbeiten Johann Heinrich Tieftrunks,53 ferner in dem ersten Werk, das unter dem Titel Philosophie der Religion erscheint: in der Religionsphilosophie Johann Christian Gottlieb Schaumanns.54 Schaumann nimmt die Religionsphilosophie – im Sinne einer Wissenschaft von den Prinzipien der moralischen Vernunft, die der Religion zu Grunde liegen, als eigenständige Disziplin in den Kanon der philosophischen Wissenschaften auf.

Programmatisch aber zeigt sich diese Tendenz zur Erweiterung über den strengmoralischen Begriff der Religion hinaus im gleichen Jahr in Karl Heinrich Heydenreichs Encyclopädischer Einleitung.55 Schon drei Jahre zuvor hat Heydenreich aus einer Kantischen Perspektive eine Philosophie der natürlichen Religion entworfen,56 in der er ebenfalls die Moralität als Fundament des Gottesgedankens bezeichnet: „Die Moralität allein ist es, welche uns Gottesglauben und Religion zu einem dringenden, von unserm Wesen unabtrennbaren Bedürfnisse macht. […] Der moralische Mensch bedarf eines moralischen Gottes, und kann sich keinen Gott denken, ohne den vollkommen guten Willen als Hauptmerkmal im Begriffe desselben anzunehmen.“ Von dieser moralischen Bestimmung geht er aber unmittelbar zu solchen Bestimmungen über, die Gegenstand der theoretischen Gotteserkenntnis, der theologia naturalis, gewesen sind: Gott sei „das allervollkommenste nothwendige, also von der Welt wirklich verschiedene, Wesen, dessen vollkommen guter Wille, vollkommene Schöpferkraft, vollkommene Weisheit und Macht den vollständigen Grund der Wirklichkeit der Welt, ihrer Erhaltung und Regierung erhält.“57

Darin deutet sich bereits Heydenreichs Interesse an einer Erweiterung des bloß moralischen Gottesbegriffs an, das er später mit der Bemerkung anspricht, dass er „von Kant in Rücksicht des moralischen Glaubensgrundes für Religion gewissermaaßen abweiche“. Der Mensch habe „ein gedoppeltes Bedürfniß, welches ihm religiöse Ueberzeugung aufdringt: a) ein contemplatives Bedürfniß; b) ein praktisches Bedürfniß der Religion.“ Kant gründe den Glauben an Gott bloß auf das zweyte; „mir scheint es, als ob die Natur ihn auch an das erste geknüpft habe, als ob die bloße theoretische Contemplation der Sittlichkeit zur Religion hinleite“.58 Der gegen Kant gerichtete Akzent der ‚Betrachtungen‘ Heydenreichs, der ja bereits aus dem Titelbestandteil ‚natürliche Religion‘ erhellt, liegt hier offen zu Tage. Im Folgenden stellt Heydenreich allerdings klar, dass in dieser Doppelung die praktische Fundierung das bestimmende und unverzichtbare Moment sei; und so ordnet er auch die Beweiskraft des physikotheologischen Arguments, das er in seinem zweiten Band ausführlich erörtert, der Beweiskraft des moralischen Beweises unter.

Drei Jahre später, in der Encyclopädischen Einleitung, nimmt Heydenreich diesen Ansatz wieder auf. Damit ist das Problem des Zusammenhangs von Ethikotheologie und Religionsphilosophie zwar keineswegs aufgehoben; es verschiebt sich aber durch die Einbeziehung der Anthropologie, oder, wie Heydenreich sagt, des Vorstellungs-, Begehrungs- und Gefühlsvermögens: Zu den Aufgaben derjenigen Wissenschaft, „welche die menschliche Natur als Inbegriff dieser Vermögen nach ihren ursprünglichen Gesetzgebungen schildert“, zählt es, die Vorstellungsart der Religion aus ihren Gründen zu entwickeln.59 Die (wenn man sie nicht in der Kantischen Weise vornehmen wollte) ungeklärte Stellung dieser damals wichtig gewordenen Disziplin zur Ethikotheologie ist für die neue Religionsphilosophie zumindest zunächst von Vorteil: Die anthropologische Orientierung präsentiert sich in Verbindung mit der ethikotheologischen, ohne sich über deren Begründungskraft oder auch Misslingen verbindlich auszusprechen. Sie gebraucht den Gottesbegriff unbefangen, ohne mit der anthropologischen Grundlegung ernst zu machen, und verbindet sich erneut mit der Physikotheologie.

Darin zeigt sich jedoch schon, dass der Schritt über Kants Ethikotheologie hinaus keineswegs fraglos als Fortschritt über Kant hinaus gelten kann – eher als eine Rücknahme der ‚rigorosen‘ Kantischen Position auf eine vermittelnde Position, die Kant zu Gunsten der rein-moralischen Begründung überbieten wollte, da jede Vermischung natürlich-theologischer oder anthropologischer Elemente mit rein-moralischen die Stringenz der letzteren untergrabe. Dennoch aber liegt im Versuch einer solchen, zwar im Kern moralischen, aber breiter angelegten, zugleich anthropologischen Fundierung der Religion und des Gottesgedankens die herrschende Tendenz der auf Kant folgenden Religionsphilosophie.

Auch Karl Heinrich Ludwig Pölitz geht aus von der ‚moralischen Religion‘ Kants, von ihrer Begründung durch die praktische Vernunft, und er formuliert sogar die wichtige Einsicht: Ohne die praktische Vernunft sei „nicht einmal eine Philosophie der Religion gedenkbar“.60 Pölitz spricht hier aus, was sonst nur vorausgesetzt wird: Für eine Philosophie, die sich als Vernunfterkenntnis versteht, steht die Möglichkeit einer Religionsphilosophie unter der Bedingung der immanenten Vernunft der Religion. Wäre die Religion nicht selber eine Gestalt der Vernunft, so könnte es keine Philosophie der Religion geben. Pölitz’ Interesse ist es jedoch, von diesem sicheren Boden der reinen Moral ausgehend einen größeren Kreis zu ziehen: von der philosophischen Deduktion der moralischen Religion aus nicht etwa zur ‚natürlichen Religion‘ (auf der Basis der alten Metaphysik) zurückzugehen, sondern zu einer ‚universellen Religion‘ fortzugehen, die durch die Kriterien ‚Allgemeinverständlichkeit und Allgemeinanwendbarkeit‘ charakterisiert ist, durch Einfachheit und Fasslichkeit der Lehren. Dieser Vorschlag ist motiviert durch ein Interesse an einer allgemeinen Aufklärung, die nicht im engen Umkreis philosophischer Studien verharrt, sondern das gesamte „Volk“ erfasst; die „universelle Religion“ soll deshalb „Volksreligion“ sein „und auf den Verstand und das Herz des Menschen zugleich angelegt seyn“.61 ‚Verstand und Herz‘ – diese Formel bildet das Schiboleth für die Bewegung der Absetzung von Kant. Und um das ‚Herz‘ einzuschließen, muss eine Theorie auch die Sinnlichkeit des Menschen ansprechen, etwa durch symbolische Darstellungen – selbst wenn der Gehalt der Lehre rein moralisch bleiben müsse. Außerdem könne die „universelle Religion“ – als „Volksreligion“ – nicht auf der Einsicht in die schwierigen Begründungsgänge der Moralphilosophie beruhen; sie müsse deshalb durch „Auktorität“ begründet werden – freilich nicht durch beliebige Autorität, sondern durch die Autorität Gottes als des moralischen Gesetzgebers, der sein Gesetz der menschlichen Vernunft selber auferlegt habe.

Für Pölitz ist die Religionsphilosophie bereits so fest im Gefüge der philosophischen Wissenschaften etabliert, dass er sie zu einem Kriterium für die Durchführung der theologischen Einzeldisziplinen erhebt. Dies gilt ähnlich für Ludwig Heinrich Jakob; er weist der Religionsphilosophie die – zunächst negative – Aufgabe zu, die Mängel der bisherigen Ansätze zur Religionsbegründung aufzuweisen. Weitere Ähnlichkeiten mit Pölitz bestehen darin, dass Jakob zwar nicht die ‚universelle‘, aber doch die ‚Allgemeine Religion‘ in den Mittelpunkt seines Ansatzes stellt. Gemeinsam ist beiden ferner die Frontstellung gegen die ‚natürliche Religion‘ – wegen ihrer früheren Verbindung mit der vorkritischen Metaphysik;62 ähnlich wie Pölitz weitet Jakob – im Ausgang von der Kantischen rein-moralischen Religion – die moralische Deutung auf die Religion überhaupt aus, und auch er fundiert die Religion in der – Kopf und Herz umfassenden – Natur des Menschen. Gleichwohl verbleibt der erste Teil seines Werkes, die ‚Darstellung der Gründe und des Inhalts der allgemeinen Religion‘, im Umkreis der Grundannahmen der ‚moralischen Religion‘: Gott wird vorausgesetzt als ‚Ursache einer durchgängigen sittlichen Ordnung‘ (einschließlich der Belohnungen und Bestrafungen), als Weltschöpfer (da sonst die moralische Ordnung nicht möglich sei), als Weltregierer und Weltrichter.63 Hier, wie auch sonst zumeist, steht die gröbere, auf den Lohn- und Strafgedanken setzende Version der Kantischen Kritik der reinen Vernunft im Vordergrund.

Charakteristisch für Jakobs Ansatz ist jedoch seine kritische Einschätzung der Vernunft. Er zitiert einen namentlich nicht genannten, „sehr einsichtsvollen Philosophen“, nämlich Pierre Bayle: „La raison humaine est un principe de destruction et non pas d’edification.“64 Sie sei deshalb nicht „Quelle und Mittel religiöser Erkenntnisse und Ueberzeugungen“, aber doch „Beurtheilerin und Prüferin der vorhandenen Erkenntnisse und Ueberzeugungen“. Jakob setzt deshalb der „bisherigen“ Theorie, die den Religionsglauben auf Beweise für Gott, Vorsehung und Unsterblichkeit stützen, nämlich durch die Mitteilung der Beweise religiöse Überzeugung hervorbringen wollte, seine eigene „Theorie“ entgegen, „daß gewisse Ursachen in der menschlichen Natur, den Religionsglauben hervortrieben, welche nicht durch Begriffe deutlich erkannt werden, oder deren Zusammenhang mit dem Glauben, wenigstens nicht sogleich eingesehen wird“, dass aber diese „inneren Ursachen […] vor der Vernunft hinreichende Gründe des Religionsglaubens“ sind und die Vernunft ein durch sie erzeugtes Fürwahrhalten billigen müsse, „ob sie es gleich durch Mittheilung der blosen Erkenntniß derselben, nicht in andern hervorbringen könne.“

Der Religionsglaube sei nicht „Folge der Erkenntniß“, die „wahre Religion“ nicht Folge der Theorie, sondern umgekehrt: die Religion sei „schon da, und ruhet auf sicheren Gründen, wenn man auch von der Theorie, und von den Ursachen des Glaubens, nicht das allermindeste weiß.“ Religion könne nicht auf eine Theorie, auf Beweise gebaut werden, sondern sie liege ihnen immer schon voraus; auch Kant liefere keinen Beweis für Gott und Unsterblichkeit, sondern „blos eine Erklärung der Entstehung des Religionsglaubens.“65 Ebenso bescheidet sich Jakob: Seine Theorie enthalte „blos eine psychologische Erklärung des vorhandenen Religionsglaubens“; sie sei deshalb nicht geeignet, ihn hervorzubringen, sondern folge erst auf die Religion. (IX–XIV) Die „sicheren Gründe“ aber, auf die er sich stützt, sind für ihn nichts anderes als die Vorstellung der Verbindlichkeit der Pflicht – und damit lenkt Jakob wieder in die Kantische, jedoch ihr gegenüber deutlich abgeflachte Bahn ein: „Aus dieser moralischen Natur des Menschen, entspringt die Idee von einem höchsten moralischen Gute das der Mensch, indem er sich den moralischen Gesetzen als unterworfen denkt, für möglich hält, und hiermit setzt er zugleich den Grund der Möglichkeit des höchsten Gutes, d. h. Gott, zum voraus. Der Mensch nimmt also Gott, vermöge einer Voraussetzung, an, wozu ihn seine moralische Natur antreibt, ohne dass er anfänglich den Zusammenhang davon einsieht.“

Der Religionsglaube also gehe „aus einer moralischen Gemüthsstimmung hervor“, und Jakob beansprucht für seine ‚Theorie‘ „nichts, als daß sie durch eine natürliche Erklärung die Religionsüberzeugung, dem Felde der Spekulation gänzlich entzieht, und die Quelle derselben in dem Herzen des Menschen aufdeckt“ – und eben hierdurch „Kopf und Herz wieder in Einstimmung“ bringt. Religion müsse also auf die Weise im Menschen hervorgebracht werden, „daß man zuerst, dem Kinde eine tiefe Achtung gegen Pflicht und Recht beizubringen sucht“ und dann „das Daseyn eines moralischen Weltregierers, ohne allen Beweis, voraussetzt, und stets so gegen sie [sc. die Kinder] redet, als ob dieses über alle Zweifel gewiß wäre“ und dies durch Hinweise auf „die zweckmäßige und vortrefliche Einrichtung“ der Natur unterstützt. (XV–XIX) Denn die Religion sei „mehr eine Sache des Herzens, als des Verstandes“. (XXI)

Trotz der kontinuierlichen Insistenz auf dem moralischen Religionsbegriff ist deshalb mit seiner Ausweitung durch Pölitz und Jakob zugleich seine Aufweichung und seine Indienstnahme für die Volkspädagogik verbunden. V. a. zeigt sie sich in der anthropologischen (bzw. durch Erziehungsmaßnahmen bewirkten) Begründung der Religion – statt in der praktischen Vernunft –, und sie setzt sich bereits in der Sphäre der moralischen Religion fort in der Wiedereinführung des Gedankens von Lohn und Strafe. Der sehr ausführliche zweite Teil der Allgemeinen Religion, die ‚Religiöse Betrachtung der Natur‘, d. h. die physikotheologische Suche nach Spuren der Macht, Weisheit und Güte Gottes in der Natur, um „Anschauung“ und „Rührung“ hervorzubringen (XXIVf.), entfernt sich schließlich nochmals weiter vom Begriff der moralischen Religion, und auch die Erörterung von ‚Schwierigkeiten, Einwürfen und Vorurtheilen, welche die moralische Religion betreffen‘, etwa des Theodizeeproblems, im dritten Teil, führt nicht wieder zur strengen Fassung der Kritik der praktischen Vernunft oder selbst nur auf die erste Kritik zurück. Doch um diese Zeit hat ja auch Kant selber beide Ansätze schon wieder aufgegeben.

(3) Das auf die Kritik der praktischen Vernunft folgende Schicksal des Kantischen Begriffs der Moralität ist insgesamt als zunehmende Einebnung der Dichotomien von Autonomie und Heteronomie sowie von Moralität und Legalität zu beschreiben. Ihre ersten Anzeichen finden sich bereits bei Kant selbst – schon in der Beanspruchung der Postulate zur Verstärkung der moralischen Triebfedern und explizit im Vergeltungsgedanken der Religionsschrift. Sie bleibt bei Kant aber stets eine Ausnahme vom strengen Begriff der Moralität. Fichtes ‚Offenbarungskritik‘ hingegen nivelliert – allen Bekenntnissen und verbalen Vorbehalten zum Trotz – diese Spannungen schon vom Ansatz her: Die bereits im Werk Kants angelegte, unaufgelöste Spannung zwischen Autonomie und göttlicher Gesetzgebung bricht auf; das Verlangen nach sittlicher Autonomie wird – um der größeren ‚moralischen‘ Effizienz der Heteronomie willen – in den Hintergrund gedrängt: Wenn wir die Befehle der Vernunft nicht nur „als völlig gleichlautend mit dem Befehle Gottes an uns“, sondern „unmittelbar als Befehle Gottes ansehen“, so werde dies „dem Gebote der Vernunft ein neues Gewicht hinzufügen“.66 Der Ursprung des moralischen Gesetzes in der Vernunft wird dann allerdings gleichgültig. Die Adressaten der göttlichen Offenbarung sind eben diejenigen, die des Übergewichts oder gar der Herrschaft ihrer Sinnlichkeit wegen keiner moralischen Handlungen fähig sind. Die Offenbarung kann deshalb nicht lediglich auf Verstärkung – sie muss auf Ersetzung der sinnlichen Triebfedern durch moralische abzielen. So aber lässt sich allein Legalität bewirken; Kants strenge Forderung der Moralität weicht dem Interesse an einer wohltätigen Wirkung.

(4) Diese Argumentationsfigur ließ sich indessen bequem in den Dienst der Restitution des traditionellen theologischen Lehrbestandes in seinem tendenziell bisherigen Umfang stellen – paradigmatisch in der Tübinger Orthodoxie, in Gottlob Christian Storrs und Friedrich Gottlieb Süßkinds Versuch einer schrankenlosen Repristination der traditionellen Theologeme mit Hilfe des moralischen Beweises. Hegel schreibt damals – als Schelling ihn darauf aufmerksam macht – nicht zu Unrecht an Schelling, zu diesem „Unfug“ habe „unstreitig Fichte durch seine ‚Kritik aller Offenbarung‘ Tür und Angel geöffnet“ – auch wenn er selber nur „mäßigen Gebrauch“ davon gemacht habe.67 Doch die von Fichte mehrfach eingesetzte Argumentationsfigur geht letztlich auf Kant selbst zurück – auf Kants Aufdecken der Bedingungen der Möglichkeit des höchsten Gutes. Wer – mit Kant – die Bedingungen der Möglichkeit von etwas bestimmt, für dessen Realisierung es ohne Voraussetzung dieser Bedingungen keinen Grund gibt und dessen Möglichkeit selbst dann prinzipiell nicht einzusehen ist, wenn man seine Wirklichkeit unterstellt, der darf sich auch berechtigt fühlen, das auf diesem Wege erschlossene göttliche Wesen mit all den Prädikaten auszustaffieren, die die Tradition ihm zugesprochen hat. Und Kants Satz, dass, wer den Zweck wolle, auch die Mittel wollen müsse,68 ließ sich leicht in den anderen Satz umformen, dass, wer das höchste Gut wolle, auch die einschlägigen Mittel wollen müsse. Wer an der Restitution der religiösen Vorstellungswelt interessiert ist, braucht diese dann nur noch als Mittel für den vorgesetzten Zweck anzupreisen, ja sie als im Interesse der Moralität unverzichtbar zu erklären. Wenn man Gott als sittlichen Gesetzgeber anerkennt, so legt es sich nahe, auch seine anderen Gesetze einzuhalten. So werden schließlich alle Lehrinhalte, die Sakramente und die Wunder als der Moral förderlich gerechtfertigt. Der Tenor dieses Tübingischen Dogmatizismus ist dabei sehr siegessicher: Wenn schon dieses als Postulat zugegeben ist – warum nicht auch jenes, da es doch ebenfalls der Moralität dienen könnte?69 Die Kantische Restriktion, Gott dürfe lediglich als Gesetzgeber vorgestellt werden, unabhängig von Lohnverheißung und Strafandrohung, enthüllen Storr und Süßkind rasch als sinnlos:70 Denn ein Gesetzgeber, der nicht zugleich für die Einhaltung seines Gesetzes sorgte, ist eine leere Vorstellung – er hätte sich die Mühe sparen können. Wenn es also im Interesse der Moralität erlaubt und sogar geboten ist, theologische Annahmen zu machen, so auch und gerade diese. Durch die permanente Repetition der Kantisch-Fichteschen Argumentationsfigur lässt sich letztlich jede beliebige religiöse Vorstellung als im praktischen Interesse geboten rehabilitieren – sei es auch nur um der Widerspruchsfreiheit der Religion willen: Es wäre ja eine Beeinträchtigung der Wirkungskraft der religiösen Tiebfeder, wenn man nicht die religiösen Lehren insgesamt akzeptierte, sondern einige zuließe und andere verwürfe. Wird Gott erst einmal zum Garanten der wohlproportionierten Glückseligkeit und zum Verstärker der moralischen Triebfedern erklärt, so ist die Entwicklung hin zur Orthodoxie der alten Tübinger Schule zwar philosophisch abenteuerlich, aber nicht ohne Konsequenz.

(5) Diese pauschale Vereinnahmung Kants im Interesse der Restitution der theologischen Lehrgehalte hat jedoch eine empörte Reaktion ausgelöst und dadurch mehr als die versuchte Weiterbildung durch Pölitz oder Jakob den raschen Niedergang der ‚moralischen Religion‘ ausgelöst.71 Die Auflehnung gegen eine derartige Verquickung des Kritizismus mit der Orthodoxie findet nirgends schärferen Ausdruck als in Schellings Schreiben an Hegel vom Dreikönigstag 1795: „Alle möglichen Dogmen sind nun schon zu Postulaten der praktischen Vernunft gestempelt, und wo theoretisch-historische Beweise nimmer ausreichen, da zerhaut die praktische (Tübingische) Vernunft den Knoten. […] O der großen Kantianer, die es jetzt überall gibt! Sie sind am Buchstaben stehen geblieben und segnen sich, noch so viel vor sich zu sehen. Ich bin fest überzeugt, daß der alte Aberglaube nicht nur der positiven, sondern auch der sogenannten natürlichen Religion in den Köpfen der meisten schon wieder mit dem Kantischen Buchstaben kombiniert ist. – Es ist eine Lust anzusehen, wie sie den moralischen Beweis an der Schnur zu ziehen wissen. Eh’ man sich’s versieht, springt der deus ex machina hervor –, das persönliche, individuelle Wesen, das oben im Himmel sitzt!“72 Wenig später wirft Schelling der kritischen Philosophie vor, sie habe durch den „Schleichhandel“ der Postulatenlehre durch die Hintertür wieder eingeführt, was sie durch die Vordertür hinauskomplimentiert habe; der Offenbarungsbegriff sei deshalb nur noch eine „hinterrücks wiedereingeführte Contrebande“.73

(6) Hegel hingegen bezieht zum Zeitpunkt dieser heftigen Kritik Schellings, in den ersten Monaten des Jahres 1795, also in der Mitte seiner Berner Hauslehrerjahre, fern von Tübingen und von Jena, dem neuen Zentrum der kritischen Philosophie, noch den Standpunkt der Ethikotheologie Kants – bis hin zu der Annahme, es lasse sich tatsächlich das Dasein eines persönlichen Gottes moralisch postulieren.74 Sein Zugang zum Problem unterscheidet sich deshalb von dem des Freundes: Seit dem Ende seines Studiums hat Hegel sich – wenn auch keineswegs ausschließlich – mit dem Phänomen der Religion befasst.75 Anders als die anderen ‚Religionsphilosophen‘ dieser Jahre entwickelt er seine Konzeption aus der Betrachtung der geschichtlich vorhandenen Religionen. Deshalb ist der Religionsbegriff, den die wenigen aus dieser Zeit, vermutlich aus Stuttgart sowie aus der frühen Berner Zeit (1793 – 1794) überlieferten Fragmente umrisshaft erschließen lassen, keiner der zeitgenössischen ‚religionsphilosophischen‘ Positionen bruchlos zuzuordnen. Dies ist zum Teil dadurch bedingt, dass er die systematische Durchbildung noch vermissen lässt und eklektische Züge aufweist. Die terminologischen Dichotomien, mit denen Hegel vornehmlich arbeitet, sind mehrfach als seine Spezifika missverstanden worden; sie haben jedoch ihren Ort sämtlich in der religionsphilosophischen Diskussion gegen Ende des 18. Jahrhunderts; sie bilden für Hegel aber lediglich Instrumente für die kritische Analyse der Religion. Der Kontrast von ‚positiv‘ und ‚vernünftig‘ ist damals Gemeingut der Diskussion gewesen; die Unterscheidung von Privatreligion und Volksreligion lehnt sich wahrscheinlich an Rousseaus Unterscheidung von ‚religion de l’homme‘ und ‚religion du citoyen‘ an; sie berührt sich aber auch mit der gängigen Unterscheidung von privater und öffentlicher Religion, die sich durch die aufklärerische Religionstheorie hindurch verfolgen lässt. Für die Entgegensetzung von subjektiver und objektiver Religion verweist Hegel selber auf Fichtes ‚Offenbarungskritik‘, doch ist sie damals auch von anderen Autoren so getroffen worden. Insbesondere mit Rousseau, aber auch mit Kant teilt Hegel die Ansicht, dass alles auf die subjektive Religion ankomme, da allein sie, nicht die objektive, uns angelehrte Religion, zur Beförderung der Moralität beitrage. Und selbst die scheinbar originelle Fragestellung, ob und unter welchen Bedingungen das Christentum sich zur Volksreligion eigne, wird damals in weiteren Kreisen erörtert, etwa auch von Pölitz – und fraglos nicht ohne Rückbezug auf die gleichzeitigen Diskussionen im revolutionären Frankreich.

Gleichwohl tragen die Fragmente aus dieser Zeit einen unverwechselbaren Charakter. Ihm wird nicht gerecht, wer Hegel als Rousseauisten, Lessingianer oder Kantianer deutet und die nicht in das jeweilige Bild passenden Züge als Inkonsequenzen verwirft. Die aus dem Diskussionszusammenhang der späten Aufklärung aufgenommenen Elemente verbinden sich zu einem Hegel eigentümlichen religionsphilosophischen Ansatz. Er beweist hinlänglich, dass schon der junge Hegel über selbständige Perspektiven zur Orientierung in den religionsphilosophischen Auseinandersetzungen seiner Zeit verfügte. Hegel nimmt Religion als Triebfeder der Moralität in Anspruch – im Gegensatz zwar zu Kants Kritik der praktischen Vernunft und zu seiner ‚Religionsschrift‘, jedoch in Übereinstimmung mit der ‚ersten Kritik‘. Den Grund für Hegels anfängliches Verharren auf Kants erster Position wird man darin zu sehen haben, dass sie die Religion in die Grundlegung einer Theorie der Sittlichkeit einbezieht. In dieses Konzept lässt sich die Religion auch dann noch integrieren, wenn sie, wie für Hegel und andere, aus Vernunft und Sinnlichkeit erwächst. Doch sucht Hegel die Position der Kritik der reinen Vernunft zu präzisieren. Sein Problem ist es, Kriterien der Eignung der Religion zur Übernahme der ihr zugeschriebenen Funktion zu erarbeiten. Wer die Religion als Triebfeder der Moralität in Anspruch nimmt, muss auch die Bedingungen angeben, unter deren Berücksichtigung allein Religion dieser wichtigen Aufgabe gerecht werden kann. Als objektiver Religion ist ihr dies nicht möglich; zur subjektiven Religion im Sinne einer rein-moralischen Religion andererseits können sich stets nur wenige Menschen erheben. Die Frage, wie Religion subjektiv werden könne, führt deshalb – auch wenn Hegel den Übergang nicht prägnant herausarbeitet – zum Gedanken der Volksreligion und näher zur Frage, wie eine Volksreligion beschaffen sein müsse. In dieser Perspektive erscheint die Volksreligion zunächst bloß als ein Mittel, die Kluft zwischen moralischer Religion und Fetischglauben zu überbrücken – doch dieser Anschein entspringt allein der Unklarheit im Verhältnis von subjektiver moralischer Religion und Volksreligion. Denn diese ist es, die Hegels Religionsbegriff entspricht und an der er letztlich interessiert ist, insofern sie aus Vernunft und Phantasie erwächst, da die Phantasie stets die des Volkes und nicht die des Einzelnen ist. Wie Hegel bereits hier, im Fragment 32, die Entgegensetzung von Moralität und Legalität durch die Einführung des Gedankens der Liebe überwindet, so gilt ihm auch schon die im Begriff der rein-moralischen Religion gelegene Abtrennung der Sinnlichkeit des Menschen anthropologisch gesehen als Fehlentscheidung.

Aus den etwas späteren Überarbeitungen76 dieser frühesten Fragmente zu Anfang des Jahres 1795 lassen sich zwei Tendenzen hervorheben: die Anzeichen eines intensivierten Kant-Studiums und die fortschreitende Klärung des Begriffs der Volksreligion. V. a. auf Grund dreier Argumente bestreitet Hegel die Eignung der christlichen zur Volksreligion. Sie sei ursprünglich und wesentlich Privatreligion, und die Verwirklichung der christlichen Ethik im Leben eines Volkes hebe sie unmittelbar auf. Sodann wertet Hegel die historischen Elemente in der Begründung des Christentums als schwerwiegenden Einwand zunächst gegen dessen Eignung zur Volksreligion, da dem Historischen keine allgemeine Überzeugungskraft zukomme. Schließlich nehmen insbesondere die Fragmente 46 und 48 verstärkt Lessings Problem des Verhältnisses von Vernunft und Geschichte auf. Sie formulieren den prinzipiellen Einwand gegen eine historische Begründung der Religion, dass die historischen Momente dem Sittengesetz den Primat streitig machen. Voraussetzung der Triftigkeit dieses Arguments ist, dass die Funktion der Religion weiterhin in der Beförderung der Moralität gesehen wird. Hegel betont jetzt zwar das der Religion offenbar nicht bedürftige, unwiderstehliche Fortschreiten der Vernunft zur Verwirklichung der Moralität. Man wird hierin eine Folge der vertieften Kant-Lektüre sehen müssen, von der auch Hegels Briefe aus dieser Zeit berichten. Dennoch beharrt er zunächst auf dem Standpunkt der ‚ersten Kritik‘ und akzeptiert die Religion weiterhin als Triebfeder der Moralität – obgleich er nun auch die Gegenrechnung aufmacht, wieweit das Christentum als historischer Glaube der Moralität geschadet habe.

Es hat mehrfach Anlass zur Verwunderung geboten, dass Hegel nach dieser Verwerfung des Christentums als einer Volksreligion ein Leben Jesu schreibt, das die bisherigen Fragestellungen nicht weiter verfolgt, sondern anscheinend unmotiviert auf die Position einer rein-rationalen, rein-moralischen Religionsdeutung zurückfällt. Die Motive zu dieser Korrektur lassen sich in der Tat nicht dem Text dieses Fragments entnehmen. Ihre strenge Konsequenz erhellt jedoch aus Hegels Briefwechsel mit Schelling. Den unmittelbaren Anlass zur Revision bilden die Tendenzen der religionsphilosophischen Kontroversen dieser Jahre. Durch Fichtes ‚Offenbarungskritik‘ – die Hegel in der Perspektive von Süßkinds neoorthodoxer Reklamation dieser Schrift deutet – sieht er die alten dogmatischen Manieren wieder begünstigt – anders als Schelling, der Fichte wegen dessen Wissenschaftslehre näher steht. Den Ausschlag zum Konzeptionswandel gibt diese Inanspruchnahme der Kantischen Religionslehre durch Hegels früheren Tübinger Lehrer Storr: dessen Versuch, mittels der Postulatenlehre traditionelle, sonst der Kritik verfallende loci in Postulate der praktischen Vernunft umzumünzen. An dieser apologetischen Verfälschung Kants gewinnt Hegel die Einsicht in die Gefahr der Missdeutung, die auch seinem eigenen bisherigen Ansatz innewohnt. Wer mit der Kritik der reinen Vernunft annimmt, dass die herrlichen Ideen der Sittlichkeit ohne Glauben an Gott und Unsterblichkeit keine Triebfeder zur Beförderung der Moralität zu sein vermöchten, der öffnet – nicht anders als Fichte – dem theologischen Unfug Tor und Tür.

Es ist jedoch nicht allein diese Gefahr, die Hegel auf den revidierten Standpunkt Kants zwingt. Auch das Resultat seiner frühen Berner Studien setzt insofern neue Akzente, als es in der kritischen Darstellung der Frühgeschichte des Christentums die Notwendigkeit der aus systematischen Erwägungen erfolgten Neubegründung der Ethik Kants aufzeigt. Die möglichen religiösen Triebfedern – Glaube an ewige Seligkeit, an Christum – erweisen sich, nicht als Mittel zur Beförderung der Moralität geeignet zu sein. Denn sie verselbständigen sich und ziehen das Interesse des Menschen von der Moralität vielmehr ab, als dass sie das Fortschreiten durch Legalität zur Moralität befördern.77 Deshalb bliebe Moralität unerreichbar, wenn das Sittengesetz zu seiner Verwirklichung religiöser Triebfedern bedürfte. Die Substitution des Glaubens an Christum als oberster Bedingung der Seligkeit wäre dann konsequent. Wenn hingegen die freie sittliche Selbstbestimmung als Triebfeder hinreicht und die Religion gleichwohl primär im Blick auf die Sittlichkeit entworfen wird, so muss Religion sich auf Tugendlehre beschränken – doch andererseits zeigt sich, dass sie dies nicht kann, wenn sie sich als Religion nicht aufgeben will.

Die Gegnerschaft gegen die Tübinger Inanspruchnahme Kants ineins mit den eigenen Bedenken hinsichtlich der Eignung der Religion zur Beförderung der Moralität erzwingen eine allein auf die praktische Vernunft und ihre Formulierung des Sittengesetzes gegründete Verehrung Gottes. Nur dieser Anspruch ist geeignet, die Ansprüche der Orthodoxie in die Schranken zu weisen. Er gerät jedoch in eine doppelte Schwierigkeit: Er muss die Entwicklung von der angeblich reinen Tugendreligion Jesu zum positiven Christentum unserer Tage begreiflich machen, und er muss sich der Frage stellen, ob nicht die Eliminierung der Elemente ‚Phantasie‘ und ‚Sinnlichkeit‘ den Religionsbegriff so sehr verkürzt, dass er ungeeignet zur Erfassung religiöser Phänomene wird.

Mit der Ausarbeitung des Leben Jesu sucht Hegel Klarheit darüber zu gewinnen, wieweit die christliche Religion sich als rein-moralische Religion deuten lasse – und damit zugleich: ob Kants Behauptung zutreffe, dass Jesus eine rein-moralische Religion gelehrt habe78 – und wieweit eine solche rein-moralische Religion überhaupt noch als Religion anzusprechen sei. Und es zeigt sich, dass beide Fragen negativ zu beantworten sind. Selbst Hegels fast kompromisslos herbe, ‚moral-zentrierte‘ Darstellung zeigt, dass Jesus nicht der reine Tugendlehrer ist: Seine Rede vom himmlischen Vater, seine Gebete usf. lassen sich nicht als Momente einer bloßen Tugendlehre verstehen. Nicht allein die Zeugnisse anderer Religionen, sondern selbst die neutestamentlichen Texte bleiben also resistent gegenüber dem Versuch ihrer rein-moralischen Deutung. Und dennoch führt von der moralischen Darstellung des Schicksals Jesu, von der Erwähnung seiner „Eltern Joseph und Maria“ bis zur Schilderung des Kreuzestodes kein Weg zu einer Religion: Jesus wird vom Kreuz abgenommen und noch rechtzeitig vor dem Fest beigesetzt, „an dem es nicht erlaubt gewesen wäre mit Todten zu thun zu haben“79 – und damit endet die Erzählung. Auf dieses rationalistisch-moralistische Leben Jesu lässt sich keine Religion gründen. In den folgenden Studien kommt Hegel deshalb nicht mehr auf die rein moralische Deutung zurück.

In ihnen expliziert Hegel stattdessen die in seinem Leben Jesu gewonnene Einsicht in die Unangemessenheit der Dichotomie von rein-moralischer Religion und – schlechter – Positivität; er sucht einen Religionsbegriff zu entwickeln, der sich nicht in der Deutung der Religion als Tugendlehre erschöpft und dennoch Religion nicht als bloß Positives fasst. Positivität bildet ein konstitutives Moment von Religion, ohne das Religion eben bloße Moral, aber nicht wirkliche Religion ist. Zugleich sucht er die geschichtliche Entwicklung einer solchen Religion zur zeitgenössischen Positivität des Christentums verständlich zu machen. Er unterscheidet einen philosophischen Standpunkt gegenüber der Moralität, ferner den einer positiven Sekte – d. h. des gegenwärtigen Christentums – und schließlich den eigentlich religiösen Standpunkt, die Religion Jesu. Sie hält einerseits das positive Prinzip des Glaubens und der Erkenntnis des göttlichen Willens fest, doch erkennt sie als das Wesentliche des Glaubens die Tugendgebote. Dass Jesus so viel von sich spricht und Glauben an sich fordert – was doch das Leben Jesu strikt ignoriert! –, ist zwar auch als Akkomodation zu erklären: Die bloße Berufung auf die moralische Vernunft wäre damals in ihrer Wirkung der Fischpredigt des Hl. Antonius vergleichbar gewesen. Doch diese Positivität entspringt nicht lediglich einer Akkomodation; sie folgt ebenso sehr aus dem Religionsbegriff überhaupt, wenn anders er von bloßer Tugendlehre unterschieden bleiben soll. Deshalb erklärt sich auch die spätere Verhärtung der Positivität zwanglos aus diesem Religionsbegriff: Was über die Tugendlehre hinausgeht, macht erst Religion zu Religion, doch zugleich bildet es den Kristallisationspunkt künftiger Positivität.

Dieses Ergebnis wirft erhebliche Probleme auf. Spätestens Hegels Darstellung der Frühgeschichte des Christentums zeigt ungewollt, dass eine Religionskonzeption, die das Charakteristische der Religion in die Vermittlung von Moralität und Positivität setzt, ein hölzernes Eisen ist. Wenn die – die moralische Vernunft mit Positivität vermittelnde – Religion Jesu sich historisch zur krassen Positivität entwickelt, wenn die immanente Dynamik einer Religion zur Verstärkung und zur Verhärtung der positiven Elemente treibt, so kann die positive Religion auch nicht – wie für Kant – als ‚Vehikel‘ der rein-moralischen fungieren. Vom moralischen Religionsbegriff aus lässt sich deshalb weder der Ursprung der Religion erhellen noch deren aktuelle Aufgabe erläutern noch deren Geschichte begreifen. Die Konsequenz dieses offenkundigen Scheiterns seiner religionsphilosophischen Bemühungen zieht Hegel in Fragment 55: Insbesondere von diesem, aus der Einsicht in die Aporie des eben so notwendigen wie unmöglichen Verzichts auf Positivität erwachsenen Konzept gilt, dass es die spätere Religionskritik Feuerbachs ansatzweise vorwegnimmt. Diese Erfahrung des Widerstands, den die wirkliche Religion ihrer Reduktion auf Moral entgegensetzt, hat jedoch Folgen auch für den rein-moralischen Gottesbegriff: Ist Religion nicht im Wesen Moral, so ist auch Gott nicht – zumindest nicht primär – ein moralischer Gott.

Philosophisch-theologische Streitsachen

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