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ОглавлениеI ‚Um 1800‘ – Religionsphilosophische Sattelzeit der Moderne
Walter Jaeschke
1 Die Entstehung der Religionsphilosophie
Von Gott und den Göttern hat die Philosophie von Beginn an geredet, doch fast stets in zumindest ambivalenter, wenn nicht in überwiegend kritischer Weise. Den Göttergestalten der griechischen Volksreligion wirft sie ihren Anthropomorphismus und die Vergöttlichung körperlicher Charakteristika vor: Die Stiere und Löwen würden – wenn sie nur Hände hätten – ihre Götter stier- und löwengestaltig bilden, und den Stumpfnasigen und Schwarzen sehen sie stumpfnasig und schwarz aus, den Blauäugigen und Blonden hingegen blauäugig und blond.1 Dem Spott über diese naive Weise, in welcher der Mensch seine Götter nach seinem Bild erschafft und im Gegenzug sich von ihnen nach ihrem Bild erschaffen lässt, liegt unausgesprochen bereits der Projektionsbegriff zu Grunde. Und wo die Philosophie sich solcher Verspottung der Götter der Volksreligion enthält, enthält sie sich auch des Urteils: Ob es Götter gebe oder nicht, so Protagoras, wisse er nicht zu sagen, „denn vieles hemmt uns in dieser Erkenntnis, sowohl die Dunkelheit der Sache wie die Kürze des menschlichen Lebens.“2 Uneingeschränkt affirmativ bezieht sich die Philosophie auf das Göttliche allein dort, wo es nicht in der Weise der Religion, sondern in der ihr eigentümlichen Form einer philosophischen Theologie gestaltet ist.
Doch ob Kritik oder Affirmation: Gegenstand der Philosophie sind stets die Götter, nicht die Religion. Sie tritt allenfalls marginal in den Blick, sofern eben vornehmlich in ihr von Gott oder vom Göttlichen die Rede ist; sie selber ist jedoch kein Gegenstand philosophischer Erkenntnis. Auch der antike Text, der noch am ausführlichsten auf Formen des religiösen Lebens eingeht, handelt eben De natura Deorum und nicht De natura religionis. Und wie in der Antike, so auch bis zum Ende der Aufklärung – obschon aus entgegen gesetztem Grund: Für die antike Philosophie ist die Volksreligion kein Gegenstand vernünftiger Erkenntnis – allenfalls in dem Maße, in dem ihre Götter durch Allegorese in Vernunftform transformiert sind. In christlicher Zeit hingegen ist die Religion kein Gegenstand philosophischer Erkenntnis, da sie als auf übernatürlicher, göttlicher Stiftung beruhend gedacht wird. Somit bildet sie eine Sphäre, die vom lumen naturale als dem Erkenntnisorgan der rationalen Philosophie nicht erhellt werden kann – und auch gar nicht erhellt zu werden braucht.
Aus diesem Grunde ist die Religionsphilosophie zwei Jahrtausende lang nicht im Kanon der ‚philosophischen Wissenschaften‘ vertreten, trotz der erstaunlichen Ausdifferenzierung, die er bereits bei Aristoteles gewonnen hat und die ja auch schon die Poetik als eigene Gestalt umfasst. Die Religionsphilosophie hingegen erhält erst an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine nicht nur schemenhafte, sondern greifbare Gestalt – und dies ist schwerlich ein bloßer Zufall. Deshalb sei hier nach den geschichtlichen und systematischen Bedingungen gefragt, die zur Genese einer eigenständigen Religionsphilosophie innerhalb des Corpus der ‚philosophischen Wissenschaften‘ geführt haben – und damit zu einer Form, die sich, wenn auch unter mannigfachen Veränderungen, bis in die Gegenwart bewahrt hat. Leitend bei dieser Frage ist die Vermutung, dass die Erkenntnis der Bedingungen, unter denen sich ‚um 1800‘ die Religionsphilosophie als eigenständiges Gebiet philosophischen Fragens etabliert, zur Erkenntnis der Religionsphilosophie selber beiträgt: zur Erkenntnis ihrer Möglichkeiten, aber auch ihrer Grenzen; ihrer Irrwege und vielleicht auch eines gangbaren Weges.