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3 Das Ende der moralischen Religion
Оглавление(1) Diese – im Einzelnen sehr unterschiedlichen und auf unterschiedlichem Wege gewonnenen – Einsichten haben zur Folge, dass der zuvor so starke Impetus des moralischen Religionsbegriffs nach der Mitte der 1790er Jahre erlahmt. Dieser Begriff wird zwar weiterhin in zahlreichen Abhandlungen erörtert, die aber – außer geringfügigen Modifikationen – keine neuen Einsichten bieten.80 Charakteristisch für diese Jahre ist vielmehr die Auflösung der Einheit der Moral mit dem Gottesgedanken – und hierdurch verschärft sich nochmals die Krisenerfahrung, die schon in den 1770er Jahren, im Gegensatz von Orthodoxie und Neologie,81 oder in den 1780er Jahren, im Streit um Deismus und Theismus,82 aufgebrochen und durch Kants Kritik der natürlichen Theologie zugespitzt worden ist.
Auf der einen Seite dieses Auflösungsprozesses steht eine erstarkte, auf die Autonomie der praktischen Vernunft pochende Ethik – und auf dieser Seite mehren sich nicht allein die Zweifel am Gelingen der ethikotheologischen Grundlegung der Überzeugung vom Dasein Gottes: Aus den Zweifeln erwächst zudem das Interesse, das moralische Handeln nicht von der – problematischen – Überzeugung vom Dasein Gottes abhängig zu machen. Ergänzt werden sie durch die Befürchtung, dass der Gottesgedanke – auch wenn und indem er die moralischen Triebfedern verstärke – deren Reinheit vielmehr gefährde und somit wahrhafte Sittlichkeit behindere oder gar unmöglich mache. Wird aber die Fundierungsfunktion der Ethik für den Gottesgedanken bezweifelt, so tritt – nachdem die Kritik der reinen Vernunft eine Begründung des Gottesgedankens mit den Mitteln der theoretischen Philosophie emphatisch ausgeschlossen hat – neben den ‚Atheismus der theoretischen Vernunft‘ nunmehr der ‚Atheismus der moralischen Vernunft‘. In Heydenreichs Briefen über den Atheismus wird dieser zwar verbal bestritten, der Sache nach aber nahegelegt.83 Friedrich Karl Forberg hat die Konsequenzen aus der offenkundig gewordenen Misere der Ethikotheologie freimütig gezogen und sie nicht bloß, wie Heydenreich, fiktiven Briefpartnern andeutend in den Mund gelegt – doch damit hat er den Anstoß zum Atheismusstreit gegeben.
In diesen Jahren um 1800 erscheint der Atheismus erstmals auch in der deutschen Geistesgeschichte als eine mögliche, vielleicht ja gar unausweichliche Option – und dies als Konsequenz des sich abzeichnenden Scheiterns eben des ethikotheologischen Argumentationsganges, der den Gottesgedanken für alle Zeiten sichern sollte. In einigen Fällen – wie von Forberg – wird die Schwere dieses Verlustes durch die Annahme des Fortbestands der Religion sub specie atheismi überspielt, in anderen – wie in Jean Pauls Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei – durch die literarische Einkleidung, es handle sich bei dieser Vision lediglich um einen Traum, und die Seele habe nach dem Erwachen geweint „vor Freude, daß sie wieder Gott anbeten konnte“.84 Doch ist es kein Zufall, dass diese, Nietzsches Aphorismus Der tolle Mensch85 weit überbietende Vision in eben diesen Jahren literarisch ‚geträumt‘ wird, in denen Hegel erstmals „das Gefühl: Gott selbst ist todt“ nicht allein – christologisch – als das Gefühl anspricht, „worauf die Religion der neuen Zeit beruht“, sondern zugleich als einen Gehalt, der nun als „Moment, der höchsten Idee“ zu fassen sei, um „der Philosophie die Idee der absoluten Freyheit, und damit das absolute Leiden oder den spekulativen Charfreytag, der sonst historisch war, und ihn selbst, in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit“ wiederherzustellen.86
(2) Dieser Probleme wegen ist es verständlich, dass auf der Seite der Anhänger der traditionellen Religion die im Begriff der rein-moralischen Religion gedachte Einheit von Moral und Gottesgedanken im Interesse der Bewahrung des Gottesgedankens aufgekündigt wird: Johann Gottfried Herder wirft Kant – im Gegenzug gegen den Titel der ‚Religionsschrift‘! – eine Grenzüberschreitung vor: „jede Philosophie, die es unternimmt, eine durch schriftliche Urkunden bewährte Geschichte innerhalb der Grenzen der Vernunft a priori vestzustellen und zu deduciren“, habe „ihre eigne Grenzen verlohren“ und „sich also außer ihren Grenzen erlustigt, oder wie Einer der ersten Religionsphilosophen, Rabelais, es zu nennen beliebte, metagrabolisiret.“87 Herder wendet sich emphatisch gegen eine „freche Lehrmeinung, die unter neuen Beschönigungen wieder Platz zu greifen Lust hat“ – und er gewährt ihr diesen Platz: „aber nur um den stolzen Namen Philosophie der Religion als eine falsche Wort-Wechselbude auf immer zu bezeichnen.“88 In einer langen, gegen Kants ‚Religionsschrift‘ gerichteten Polemik, gegen ihren „zum Scherz personificirten Wortschall ‚radicales Böse‘, Satan, der dominus directus und Besitzer der Welt, Inhaber des menschlichen Gemüths u. f.“, räumt Herder ein, jedermann könne und dürfe „über die Religion philosophiren, sich also auch aus zusammengelesenen Worten der Schrift eine Dichtung bilden; da indeß der Religionsphilosophie alle Glauben gleich sind“, so hätte sie lieber gleich aus „den lustigen Mährchen der Kamtschadalen, die für sie eigentlich gemacht scheinen“, dichten sollen – denn in diesen sei „der böse Geist sehr mächtig und sehr scherzhaft“. Kants „scherzhafte“ Religionsphilosophie jedoch ende „in einen ewigen Proceß des Menschengeschlechts gegen Gott vor dem Tribunal des Satans“.89 Und indem sie „den Worten der Schrift, über die sie philosophirt, gar einen besseren Sinn unterlegen zu müssen meint: so wird sie gar zu scherzhaft“ – und es ergehe ihr wie der kabbalistischen Bibelauslegung der Rabbinen: „sie entblödeten sich auch nicht, in Jener [sc. der Bibel] Namen das Albernste zu sagen, wie die Rabbinische Religionsphilosophie, die Kabbala, zeiget“.90 Auch für Friedrich Heinrich Jacobi ist das moralische Gesetz „nur die für sich selbst leere Schale der Frucht; Religionsphilosophie nur ein Zeugniß der im Menschen gefundnen Religion“. Diese Formulierung beabsichtigt jedoch kein Plädoyer für eine anthropologische Grundlegung der Religionsphilosophie – denn diese im Menschen zwar gefundene, aber nicht vom Menschen geschaffene „Frucht“ ist für Jacobi eben göttlichen Ursprungs, „der gottgeschaffene Geist des Menschen“.91
(3) Die Ablösung der Religion von der Moral bildet auch die gedankliche Grundlage des neuen Ansatzes zur Deutung der Religion, den Hegel in seinen Frankfurter Jahren (1797 – 1800) vornimmt92 – im Umkreis des Frankfurt-Homburger ‚Bundes der Geister‘, der persönlichen und gedanklichen Verbindung insbesondere mit Friedrich Hölderlin und Isaak von Sinclair, über die wenig Gesichertes bekannt, aber um so mehr geschrieben worden ist. – Hegel begründet nun den Religionsbegriff im Begriff der Liebe. Das Göttliche liege in der Aufhebung der Entgegensetzung von Subjekt und Objekt, Freiheit und Natur, Mensch und Gott; und allein in der Liebe, nicht in theoretischen Synthesen oder in der praktischen Tätigkeit, finde wahrhafte Vereinigung statt. Liebe sei aber nicht schon Religion: „nur eine durch Einbildungskraft objektivierte Vereinigung in Liebe kann Gegenstand einer religiösen Verehrung sein“.93 Zur Bezeichnung dieser Vereinigung von Gott und Mensch führt Hegel hier den Geistbegriff ein, der – zunächst noch ohne die systematische Bestimmtheit, die er erst in Hegels Jenaer Zeit (ab 1801) erhält – fortan insofern grundlegend bleibt, als er die Interpretation des Verhältnisses von Mensch und Gott nach dem Modell von Subjekt und Objekt als der Religion unangemessen verwirft. Dass Religion eine der Liebe überlegene Struktur habe, begründet Hegel zunächst im Bedürfnis nach Religion – im Bedürfnis, Empfindung und Vorgestelltes, Allgemeines und Subjektives in einem Schönen, einem Gotte, zu vereinen. Andererseits birgt eben dieses Moment der objektiven Form, der Gestaltung der Liebe für die Vorstellung, zugleich den Keim zum Verfehlen des Religiösen durch eine neue Objektivität in sich. Der Begriff des Lebens, in dem Hegel deshalb den Liebesbegriff begründet, vermeidet diese Gefahr der Missdeutung, der auch die christliche Gemeinde erlegen ist: dass die Darstellung der Einheit von Subjekt und Objekt selbst wieder als Objekt entgegengesetzt wird. Das sogenannte ‚Systemfragment‘ schließlich bestimmt Religion als Erhebung vom endlichen zum unendlichen Leben.94 Hegel räumt ein, dass diese Erhebung nicht stets gelungen, und der Grad ihres Gelingens abhängig sei von der glücklichen oder zerrissenen Verfassung der Völker. Hiermit ist auch ein Ansatz gewonnen, Religion als ein gesellschaftliches Phänomen und zugleich die Vielfalt der historischen Religionen zu deuten. Eine eigentliche Religionsgeschichte aber lässt sich von hier aus nicht entwickeln, da die jeweiligen Formen der Vereinigung beliebig sind, nur vom Glück oder Unglück der Völker abhängen. Am wenigsten gelungen sieht Hegel diese Vereinigung in Israel. In einer Folge von Ansätzen zur Deutung der Gestalt Abrahams begründet er diese Einschätzung: Gott ist hier nicht die von der Einbildungskraft zum Wesen gestaltete Liebe, sondern das „unendliche Objekt“. Dem Ziel der Vereinigung näher sieht Hegel das Christentum: Das Wirken Jesu ziele ursprünglich allein auf die Verwirklichung des Zusammenhangs der Liebe. Selbst dem Abendmahl bestreitet Hegel den Charakter des Religiösen: Es sei eigentlich ein reines Liebesmahl, eine mystische Handlung. Erst der späteren Gemeinde wird Jesus zum Gott, sofern ihr Glaube an reines Leben auf ihn fixiert war und das Bedürfnis der Religion nach dem Tode Jesu seine Befriedigung in dem Auferstandenen, als der gestalteten Liebe, finde. Dieses Bild der vereinigenden Liebe kann sich jedoch nicht von den Reminiszenzen an Objektives, Individuelles, an eine Wirklichkeit befreien, „die dem Vergötterten immer wie Blei an den Füßen hängt“.95 Insofern legt schon diese Gestaltung das weitere Schicksal des Christentums fest: Das Bild, worin die vollkommene Vereinigung angeschaut werden könnte, wird selbst zu einem Positiven. Andere Faktoren – wie die historische Entgegensetzung gegen das Judentum oder der Umstand, dass mit der Ausdehnung der Liebesgemeinschaft ein unvermeidlicher Verlust an Leben einhergeht – tragen zur späteren Geschichte des Christentums bei.
Religion gründet also im Bedürfnis nach Vereinigung, das wieder im Begriff des Lebens als des metaphysischen Prinzips der Entgegensetzung und Vereinigung fundiert ist. In dieser Perspektive erscheinen die traditionellen Theologeme als Rückfall in die jüdische Entgegensetzung, die im Geiste Jesu bereits überwunden gewesen sei. Den Gedanken der Persönlichkeit Gottes lässt Hegel Jesum nachhaltig dementieren, da sie eine „entgegengesetzte Individualität“, eine „absolute Besonderheit“ des Seins wäre,96 nicht minder den gesamten mythischen Apparat der Eschatologie. In krassem Gegensatz zur Inkarnationslehre betont Hegel wiederholt, dass es keine Wesensverschiedenheit Jesu und seiner Freunde gebe. Wer die Gottessohnschaft als exklusives Verhältnis missverstehe, verfehle den Sinn dieses Gedankens.97 Der theologiekritische Effekt des normativen Religionsbegriffs dieser Entwürfe ist nicht minder scharf als in der späten, gegen die moralische Religion gerichteten Berner Konzeption, und er hat nun insofern an Überzeugungskraft gewonnen, als er sich nochmals enger an die biblischen Texte, insbesondere an das Johannesevangelium anschließt. Es ist jedoch fraglich, ob die Tauglichkeit des neuen Konzepts für das Begreifen der historischen Religionen höher zu veranschlagen sei als die des moralphilosophisch fundierten Religionsbegriffs. Es könnte scheinen, als sei die Beurteilung der einzelnen Religionen nach Maßgabe der in ihnen geglückten oder misslungenen Vereinigung Gottes und des Menschen ein nicht minder äußerliches Lineal, als es der von der Moralität her entworfene Religionsbegriff gewesen ist. Die Parallelisierung des alttestamentlichen Gottesgedankens und des Fichteschen Ich – so gelungen sie auch als Pointe erscheinen mag – bildet hierfür ein Indiz. Auch der neue Religionsbegriff wird weder dem Christentum noch Israel, noch der Religion Griechenlands gerecht, sofern es auch in dieser nicht darum zu tun gewesen ist, Bäche zu Göttern emporzulieben. So ansprechend Hegels Deutungen wirken, so sehr entbehren sie doch aller religionsgeschichtlichen Verifikation. Der ‚Geist des Christentums‘ wird deshalb ein Opfer nicht der jüdischen Unfähigkeit zu lieben, sondern des Hegelschen Religionsbegriffs.
Das Gewicht dieser Entwürfe liegt denn auch nicht darin, dass sie eine korrekte Deskription historischer Religionen geben, sondern dass sie die Möglichkeiten zur Formulierung eines Gottes- oder Religionsbegriffs ausloten. Dem Göttlichen, als der gestalteten Liebe, kann in den Frankfurter Entwürfen kein systematischer Sinn zukommen, der über das Streben nach Anschauung der Vereinigung hinausginge. Allein hierin hat es seine Wahrheit. Eine Konsequenz dieses Ansatzes ist Hegels zu wenig beachtete Entgegensetzung von Wirklichkeit und Wahrheit. Religion ist ein Verhältnis des Geistes zum Geiste, ohne Rückgriff auf eine getrennt davon bestehende ‚Wirklichkeit‘. Argumente, die diese ‚Wirklichkeit‘ betreffen, können der Wahrheit des Göttlichen weder abträglich noch förderlich sein; sie berühren sie gar nicht. Aus der Belanglosigkeit der historisch zu erfassenden ‚Wirklichkeit‘ für die Wahrheit der im Göttlichen vorgestellten Vereinigung folgt zwingend die Unangemessenheit einer historischen Behandlung religiöser Texte. Diese Konsequenz tritt krass hervor am Problem der Auferstehung Jesu. Die historische Frage nach ihrem Geschehensein ist nicht nur gleichgültig: Sie ist Ausdruck eines Missverständnisses des Religiösen. Dass Religion sich nicht auf Geschichtswahrheiten gründen könne, war damals – zumindest seit Lessing – bekannt. Zu fragen ist nicht, ob die Auferstehung ‚wirklich‘ geschehen sei, sondern ob die dergestalt angeschaute Vereinigung gelungen sei – und dies ist, Hegel zu Folge, in der christlichen Vorstellung des Auferstandenen nicht der Fall. Er führt jedoch – in Verbindung mit der Mythos-Diskussion seiner Zeit – eine neue Pointe in die Debatte ein, die auch später noch seine Stellung zum historischen Verfahren in der Theologie bestimmt: Entscheidend ist nicht, dass der Glaube nicht auf historische Wahrheiten begründet werden kann – denn es gibt hier gar keine historischen Zeugnisse. Eine historische Entscheidung über die ‚Wirklichkeit‘ der Auferstehung auf Grund biblischer Aussagen wäre, abgesehen von ihrer Belanglosigkeit für die wahrhafte Religiosität, eine petitio principii: Denn die biblischen Zeugnisse sind Zeugnisse des Geistes, die sich erst dessen Ausgießung verdanken, und nicht historische Dokumente. Jeder Rückschritt hinter das ‚kerygmatische Geschichtsbild‘ ist ebenso unnötig wie unmöglich.
(4) Diese Frankfurter Entwürfe Hegels spiegeln insofern die damalige Debatte um den Gottesgedanken und um die Religion, als sie prägnante Zeugnisse für das Ende des moralischen Gottes- und Religionsbegriffs sind. Sie sind damals aber unveröffentlicht und somit zu ihrer Zeit auch wirkungslos geblieben. Wenig Aufmerksamkeit hat damals anscheinend auch der – anonym publizierte – Ansatz von Johann Christian August Grohmann gefunden, der damals – und bis in die heutige Forschungsliteratur – mehrfach (irrtümlich) Schleiermacher zugeschrieben worden ist. Im Anschluss an Kants allegorische Bibelauslegung98 versteht Grohmann die Offenbarung als „ein Werk der Vorsehung, in dem sich der Mensch selbst dichtet und sein Portrait für die Ewigkeit aufzeichnete. […] So geht es mit allem, was der Mensch thut, wirkt, denkt, empfindet: alles ist einmal eine gewisse Offenbarung“ – und insofern steht auch die biblische Offenbarung auf einer Stufe mit aller anderen ‚Offenbarungsmythologie‘, vornehmlich der Kamtschadalen. Im Alten Testament stehe – wenn man es ohne das übliche religiöse Vorurtheil betrachte – auch nichts anderes als sonst in den Offenbarungsvorstellungen roher ungebildeter Völker; die Offenbarung des Neuen Testamentes sei als „Evangelium von moralischen Wahrheiten“ zu betrachten, aber auch in ästhetischer Rücksicht sowie „in Rücksicht ihres übersinnlichen Gewandes“. Sie sei letztlich „Dichtung“, und zwar ein wunderbares Gemälde, geprägt durch ein für Dichtung und Mythologie notwendiges Individualisieren. Auch Christus sei eine „gedichtete Gottheit“ – und dies nicht etwa willkürlich, sondern nach der Notwendigkeit einer vor seiner ‚Erscheinung‘ vorhandenen Erwartungshaltung, durch die das überlieferte ‚Geschehen‘ vorgeprägt gewesen sei, so dass alles so ‚geschehen‘ musste.99 – Mit dieser Ablösung der ‚Offenbarungen‘ von der rein-moralischen Interpretation, mit ihrer Deutung als eines nach immanenten Gesetzen individualisierend gestalteten Handelns des menschlichen Geistes geht Grohmann aber – trotz seines Anschlusses an Kants hermeneutische Prinzipien – weit über dessen Religionsverständnis hinaus – und insbesondere dadurch, dass er diese ‚Offenbarungen‘ in den Kontext einer allgemeinen Bewusstseinsgeschichte einordnet, die er als Geschichte der Selbsterziehung versteht: „Der menschliche Geist in seinem Handeln muß erst von einer Dämmerung anfangen. Endlich bricht der MorgenWind aus seinen Höhlen, schwebt und kreiset über die Menschheit. Das Roth des Osten geht auf, Licht und Dämmerung vermischt sich.“100
Wirkungsmächtig – wenn auch nur in begrenzter Perspektive – ist hingegen Friedrich Schleiermachers Deutung der Religion geworden. Niemand hat damals die Eigenständigkeit der Religion, ihre Unabhängigkeit von ‚Metaphysik und Moral‘, mit größerer Emphase betont als er in seinen Reden Über die Religion.101 „Metaphysik und Moral“ – diese Reizworte durchziehen die erste und die zweite der Reden, und sie bilden hier die Kontrastfolie, vor der Schleiermacher sein Bild der Religion entwirft. Um dieser Religion ansichtig zu werden, fordert Schleiermacher, „von allem, was sonst Religion genannt wird“, abzusehen und nur auf „einzelne Andeutungen und Stimmungen“ zu achten, die sich „in allen Äußerungen und edlen Thaten Gottbegeisterter Menschen“ finden. (201f.) Insbesondere am Ende der ersten Rede sucht Schleiermacher die Religion aus der Dienstbarkeit gegenüber der Ethik, aus ihrer Funktion der ‚Triebfederverstärkung‘, zu befreien. Hierzu schließt er sich zunächst den Anwälten einer reinen – nicht-religiösen – Moral an: „Wenn die Sittlichkeit durch jeden Zusaz ihren Glanz und ihre Festigkeit verlieret, wie viel mehr durch einen solchen, der seine hohe und ausländische Farbe niemals verleugnen kann. Doch dies habt Ihr genug von denen gehört, welche die Unabhängigkeit und die Allgewalt moralischer Gesetze vertheidigen“ – doch dann wechselt er die Seite: „ich aber seze hinzu, dass es auch die größte Verachtung gegen die Religion beweiset, sie in ein anderes Gebiet verpflanzen zu wollen, dass sie da diene und arbeite.“ Diese „Erniedrigung“ der Religion, der „Himmlischen“, weist Schleiermacher weit und überaus ironisch von sich, und er geht dabei so weit, einen derartigen ‚Nutzen‘ in Zweifel zu ziehen, um den Nutzenkalkül zu diskreditieren: „ich glaube nicht dass es so arg ist mit den unrechten Handlungen welche sie verhindert, und mit den sittlichen welche sie erzeugt haben soll“. Der Religion gehöre vielmehr „eine eigne Provinz im Gemüthe“, von der aus sie „die Edelsten und Vortreflichsten“ bewege – und dies gänzlich unabhängig von Metaphysik und Moral oder einem aus beiden hergestellten Gemenge. (203f.)
Gleichwohl behauptet Schleiermacher, dass Religion mit Metaphysik und Moral „denselben Gegenstand“ habe, „nemlich das Universum und das Verhältniß des Menschen zu ihm“, dass sie ihnen aber dennoch auf eine bestimmte Art entgegengesetzt sei. Doch was sie sei, kann er nicht durch Rückgriff auf die geschichtlichen Religionen, auf ihre Erscheinungsform, ihre Dogmen und Lehrsätze erklären, da „die Religion nie rein erscheint“ und der historischen Betrachtung nur eine äußere Schale darbietet; „in geistigen Dingen“ sei „das Ursprüngliche nicht anders zu schaffen, als wenn Ihr es durch eine ursprüngliche Schöpfung in Euch erzeugt, und auch dann nur auf den Moment wo Ihr es erzeugt“. Das „Wesen“ der Religion sei „Anschauung und Gefühl“, „Sinn und Geschmak fürs Unendliche“. Religion, „Anschauen des Universums“ – dies bedeute, „alles Einzelne als einen Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen“, „Alle Begebenheiten in der Welt als Handlungen eines Gottes vorstellen“. (207 – 214)
Allerdings bedarf die Religion eigentlich gar keines Gottes: „Den mehrsten ist offenbar Gott nichts anders als der Genius der Menschheit“, der Mensch „das Urbild ihres Gottes“ – doch Religion strebe „nach einem Universum“ – und „ein Gott, der nur der Genius der Menschheit wäre“, könne somit nicht „das höchste meiner Religion sein“, und somit müsse zugegeben werden, „daß eine Religion ohne Gott beßer sein kann, als eine andre mit Gott“. In der Religion stehe „die Idee von Gott nicht so hoch als Ihr meint“, und wahrhaft religiöse Menschen hätten „mit großer Gelassenheit […] das, was man Atheismus nennt, neben sich gesehn“. (243 – 245)
Auch wenn Schleiermacher in der fünften der Reden wieder zur christlichen Religion zurücklenkt: Hier, in der zweiten, ‚Über das Wesen der Religion‘, zieht er die Konsequenzen aus den krisenhaften Erscheinungen des zeitgenössischen ‚Atheismus der spekulativen und der moralischen Vernunft‘. Und er nennt auch selber den Denker, dessen Bild hinter der von ihm verkündeten Religion der „Anschauung des Universums“ sichtbar wird: „Opfert mit mir ehrerbietig eine Loke den Manen des heiligen verstoßenen Spinosa! […] das Unendliche war sein Anfang und Ende, das Universum seine einzige und ewige Liebe, […] voller Religion war Er und voll heiligen Geistes.“ (213)
Und Schleiermacher dementiert hier nicht allein den höchsten Begriff sowohl der natürlichen Theologie als auch der moralischen Religion, den Begriff der Persönlichkeit Gottes; er verwirft auch noch das zweite Postulat der Ethikotheologie, die Vorstellung der persönlichen Unsterblichkeit: Ihr übliches Verständnis sei „ganz irreligiös, dem Geist der Religion gerade zuwider“, da die „scharf geschnittnen Umriße unsrer Persönlichkeit sich erweitern und sich allmählich verlieren sollen ins Unendliche“. Doch den Menschen, die „ängstlich besorgt um ihre Individualität“ sind, ruft Schleiermacher zu: „Strebt darnach schon hier Eure Individualität zu vernichten, und im Einen und Allen zu leben“. „Mitten in der Endlichkeit Eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick, das ist die Unsterblichkeit der Religion.“ (246f.)
Die Religion, wie Schleiermacher sie hier darstellt, ist eine Fiktion und sicherlich eine bemerkenswerte Fiktion – entworfen im Interesse, sie der traditionellen metaphysischen und moralischen Deutung zu entziehen und, wie Schlegel in einer Notiz zu den ‚Reden‘ sagt, „als Incitament für die Religionsfähigen“. Die im Interesse der Reinheit dieser Religion vollzogene absichtsvolle Zerschneidung aller Verbindungslinien zu den geschichtlichen Religionen entzieht den ‚Reden‘ jedoch die Berechtigung, das, was sie in gewandter Apologetik empfehlen, als Religion zu bezeichnen: eine ganz in das „Innere des Gemüths“ gesetzte „Anschauung des Universums“, (227) entkoppelt nicht allein von Metaphysik und Moral, sondern ebenso von aller ‚Positivität‘, von allem ‚Statutarischen‘, Kultischem und selbst vom Gottesgedanken. Diese Negationen machen es jedoch schwierig, solche Religion näher zu charakterisieren. Friedrich Schlegel spricht deshalb nicht zu Unrecht von einer „Undarstellbarkeit der Religion“; Hegel wendet ein, dass hierdurch „selbst dieses Anschauen des Universums wieder zur Subjectivität gemacht“ und auf alle Objektivität verzichtet werde, so dass „in einer allgemeinen Atomistik alle [sc. Anschauungsweisen] ruhig neben einander bleiben können“.102
(5) Parallel zu dieser Auflösung des Begriffs der moralischen Religion und zur Individualisierung, ja Privatisierung der Religion erfolgt Ende der 1790er Jahre die Ablösung des Begriffs der Religionsphilosophie vom Begriff der moralischen Religion. Und wie sich die Religion im damaligen Streit um sie vom bloß moralischen Inhalt löst, so löst sich auch die als Disziplin etablierte Religionsphilosophie von ihrem Fundament in Kants Ethikotheologie – offenbar auch in dem Interesse, den – wie Herder gesagt hat: ‚stolzen Namen Philosophie der Religion‘ nicht allein den Kantianern zu überlassen – zumal nun an den Universitäten nicht nur Theologen, sondern neuerlich auch Religionsphilosophen ausgebildet würden.103 Herder selber spricht auch von der aristotelischscholastischen (oder irgendeiner anderen) „Religionsphilosophie“; die „erste Religionsphilosophie in der Christenheit“ hätten die Gnostiker versucht und „nach morgenländischer Vorstellungsart […] ein gar anschauliches System“ entworfen, „das man sogar mahlte.“104 Die zuvor so „stolze“ Kantisch-moralische Religionsphilosophie wird nun – etwa für Friedrich Schlegel, zu Beginn der eben genannten Notiz über Schleiermachers ‚Reden‘ – zur bloß noch „sogenannten Religionsphilosophie der Kantianer“,105 und gleichzeitig notiert er in seinen ‚Philosophischen Fragmenten‘, dass Spinoza, Platon und Böhme die eigentliche Religionsphilosophie enthielten.106 Der Begriff ‚Religionsphilosophie‘ verliert damit seinen bisherigen prägnanten Inhalt; durch seine Rückübertragung auf frühere Epochen und Konstellationen und die damit verbundene inhaltliche Neutralisierung wird er frei zur Bezeichnung jeder beliebigen philosophischen Thematisierung unterschiedlicher Ausprägungen des religiösen Inhalts.
(6) Damit nehmen Herder und Schlegel die wenig spätere Historisierung der Religionsphilosophie vorweg: Wenn Religion letztlich in der Verfassung des Menschen oder gar in der einzelnen Subjektivität gründet, wird Religionsphilosophie zu einer freien, nicht durch ein religiöses Bekenntnis gebundenden Thematisierung solcher Religion oder sogar allgemein des Gottesgedankens. Und wenn zudem „alle Religionsideen philosophischen Ursprungs sind“, so bietet es sich an, die „Geschichte des freyen Nachdenkens über die Religion, oder die eigentliche Geschichte der Religionsphilosophie“ zu schreiben – in Abhebung von der „Geschichte der Offenbarungsreligionen“.107 Als erster hat Immanuel Berger eine solche allgemeine Geschichte der Religionsphilosophie verfasst: Nach der Einführung des Begriffs berichtet er im zweiten Buch über die „Vorbereitungen der Religionsphilosophie bey den Griechen“ (von Thales bis zu den Sophisten); im dritten Buch schreibt er die „Geschichte der ältern Religionsphilosophie“ (von Anaxagoras bis zu den Scholastikern) und im vierten Buch die „Geschichte der neuern Religionsphilosophie“ – und unter diesen Titel stellt Berger nun Montaigne, Charron, Hobbes, Cartesius, Spinoza, die Physikotheologen, Leibniz und Wolff, die Skeptiker und Naturalisten und schließlich die Kritische Philosophie bis hin zu Fichte. Berger bezieht den Terminus ‚Religionsphilosophie‘ aber nicht prägnant auf ‚Religion‘, sondern fasst ihn mehr im weiten Sinne einer ‚philosophischen Theologie‘– und so nähert sich, wegen der Omnipräsenz des Gottesgedankens in der Geschichte der Philosophie, seine Geschichte der Religionsphilosophie letztlich einer allgemeinen, wenn auch nur punktuell durchgeführten Philosophiegeschichte. Das philosophische Problem aber, um das seit Kant gestritten worden ist, ist durch seine historische Einordnung und Einebnung nicht allein entschärft, sondern preisgegeben.