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Eine Gott vorbehaltene Sichtweise
ОглавлениеDiese neue Perspektive und dieses neue Modell waren wegen der raschen Zunahme des internationalen Seehandels notwendig geworden. Wenn man Europäern um 1600 das 1972 gemachte Foto der Erde gezeigt hätte, wären sie über ihr Aussehen nicht besonders erstaunt gewesen. Sie stellten sie sich bereits als Kugel vor und hätten die meisten Erdformen, die man darauf sieht, wiedererkannt. Wenn sie auch die Erde natürlich nicht vom Weltraum aus sahen, so sahen sie Karten, die die Geografen zeichneten, indem sie sich selbst in den Weltraum versetzten. Es genügte ihnen nicht, die Karten zu sehen, manche kauften welche trotz des hohen Preises, um damit ihre Wände zu dekorieren oder sie in Form von Globen auf ihre Tische zu stellen. Dieses Foto hätte jedoch die Menschen um 1300 erstaunt. Sie wären aber nicht ganz und gar überrascht gewesen: Wie wir sehen werden, wussten manche Europäer, dass die Erde rund ist, und sie hätten die ihnen vertraute Form des Mittelmeers wiedererkennen können; aber die Gestalt der Erde jenseits dieses Meeres wäre für sie ganz neu gewesen.
Denn wir haben die Welt nicht sehen sollen. Diese Sicht war den mittelalterlichen Kosmografen zufolge Gott vorbehalten; so wie sie heute den Astronauten vorbehalten ist. Bei klarer Sicht sehen wir weniger als fünf Kilometer weit. Um vom großen Maßstab dessen, was wir direkt vor Augen haben, auf den verkleinerten Maßstab der Karten überzuwechseln, muss man kreativ und erfinderisch sein. Obwohl wir alle, ausgehend von unseren täglichen Wegen, Karten in großem Maßstab zeichnen können, ist das Abbilden der Welt das Alpha und Omega der Geschichte der Kartografie. Deshalb erinnern wir uns, wenn wir uns an die Welt erinnern wollen, in Wirklichkeit an eine visuelle Begegnung mit einem Bild, das die Kartografen des 16. Jahrhunderts für uns erfunden haben. Die Karten produzieren Erinnerungen und reproduzieren sie gleichermaßen. Die beiden Vorgänge sind nicht voneinander zu trennen: Wir sehen, woran wir uns erinnern, und wir erinnern uns an das, was wir sehen, und keine der beiden Operationen kann je als Anfang bestimmt werden.