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Die ganze Erde darstellen
ОглавлениеWie die Hereford-Karte hielt die Piris kulturelle Erinnerungen fest, einerseits länger vergangene, andererseits jüngere. Man sieht darauf afrikanische Sultane auf dem Sultanssitz und Männer ohne Kopf mit Gesichtern auf der Höhe des Rumpfs, die alte Legenden exotischer und ferner Länder heraufbeschwören. Aber man sieht auch moderne Schiffe, die den Atlantik überqueren, und Dauen, die inmitten von Papageien in den Antillen segeln und so jüngere Erinnerungen aufbewahren.
Die herausragende Leistung Piris verdeckt die wirkliche Herausforderung, der er sich gegenübersah: Es war rein materiell unmöglich, mehrere Portolane aneinanderzufügen, um ein vollständiges, ganz und gar exaktes Bild von der Welt zu erhalten. In der Tat, je mehr Küstenlinien man hinzufügt, umso dürftiger ist das Ergebnis. Das Problem kommt von der Kugelgestalt der Erde. Wie konnte ein Kartograf eine dreidimensionale Kugel in einem zweidimensionalen Format ohne schreckliche Verzerrung wiedergeben? Während des ganzen 16. Jahrhunderts rauften sich die europäischen Kartografen die Haare, um eine geometrische Lösung für dieses Problem zu finden. Die mappa mundi, die Martin Waldseemüller (um 1470–1520) 1507 präsentierte, war ein kühner Versuch. Planudes’ Rekonstruktion von Ptolemäus stellte nur die Hemisphäre mit Europa und dem Indischen Ozean dar, während Waldseemüller das Ziel verfolgte, die ganze Erde zu zeichnen, wie man sie von einem Fixpunkt im Weltall aus (mehr oder weniger oberhalb von Kairo) hätte sehen können, und zwar in einer gekrümmten Form, auf der er alle neuen Kenntnisse der Welt, die er besaß, abbilden würde. Von den zwölf Blättern, die man aneinanderlegen musste, um diese immense Wandkarte zusammenzustellen, gibt das mittlere Blatt der zweiten Spalte von links die vertrauten Konturen Europas und Nordafrikas wieder, die die Europäer sicher auswendig kannten, sodass es im Vergleich zu den anderen Blättern vielleicht unwichtig ist. Rechts davon erstreckte sich Asien, bevor es ebenso plötzlich wie der Kreis auf der Hereford-Karte abbricht. Weiter rechts finden sich verstreute Inseln in der westlichen Hälfte des Pazifischen Ozeans. Waldmüller hat den Pazifik am rechten Rand der Karte eingezeichnet, wo er an die unscharfen Silhouetten der zwei amerikanischen Kontinente angrenzt. Er hat diese Karte sechs Jahre, bevor ein Europäer tatsächlich den Ozean von seinem östlichen Ufer aus sah, als Vasco Núñez de Balboa (1475–1519) den Isthmus von Panama überquerte, gezeichnet. Anders gesagt, es war nicht die Welt, an die sich irgendjemand hätte erinnern können, es war die Welt der Zukunft. Wenn sich heute noch jemand daran erinnert, dann die Amerikaner, denn es handelt sich um die erste Karte, auf der der Name America aufscheint, auf dem linken unteren Blatt.
Wenn die Karte Waldseemüllers das Problem, unbekannte Teile der Welt in ein bekanntes Ensemble zu integrieren, löste, so regelte sie nicht das Problem der Seefahrer, die eine zweidimensionale Karte benötigten, auf der sie die Seeroute eines Schiffs berechnen konnten. Dies war kein geringes Problem. Wenn man nämlich mithilfe eines Kompasses einer gleichbleibenden magnetischen Route folgt, wird das Schiff keine gerade Linie steuern, sondern eine Spirale, die entweder am Nordpol oder am Südpol ausläuft. Ausgenommen, dass man auf direkter Linie nach Westen, nach Osten, nach Norden oder Süden steuert, endet jede Route theoretisch an einem der Pole. Die Seeleute hatten verstanden, wie man die Küsten kartografiert, aber die neue Aufgabe überstieg ihre Möglichkeiten. Waldseemüller ging dieses Problem 1516 mit seiner carta marina an, auf der er die Welt in einem rechtwinkligen Koordinatensystem anordnete, sodass die Meridiane wie Breitengradlinien parallel zueinander verlaufen, während sie sich in Wirklichkeit krümmen und an den Polen zusammentreffen.