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ОглавлениеJAKOB VOGEL
Einführung: Europa und die Welt, die Welt in Europa
Cartagena de Indias, Kalkutta, Macau oder Gorée – an wenigen Orten werden die globalen Verflechtungen der europäischen Erinnerungen in ihrer Komplexität und Vielfalt so deutlich wie in den alten Hafenstädten an der Karibik, am Indischen Ozean, am Chinesischen Meer oder am Atlantik. Knotenpunkte der weltweiten Handelsbeziehungen des frühneuzeitlichen Europas, Sprungbretter der kolonialen Expansion und des Imperialismus, oftmals Ausgangs- und Endpunkte des von Europäern über viele Jahrhunderte hinweg betriebenen Sklavenhandels – mit ihren alten, farbenfrohen Gebäuden aus der Kolonialzeit sind sie heute als Schmuckstücke einer globalisierten Tourismuskultur bei Besuchern und Einheimischen gleichermaßen beliebt. Viele von ihnen tragen deshalb das von den Vereinten Nationen vergebene Gütesiegel des Weltkulturerbes, das den Orten einer geteilten Geschichte Europas mit der nichteuropäischen Welt gleichsam den Status von globalen Erinnerungsorten verleiht.
In der Tat ist es unmöglich, eine Geschichte der europäischen Erinnerungen ohne jene Orte zu erzählen, die Europa mit der außereuropäischen Welt teilt, ohne die Episoden des europäischen Ausgreifens über den Kontinent, des Austauschs, aber auch der Abgrenzung und Unterdrückung. Denn vielfach wurden sich die „Europäer“ – wie die folgenden Beiträge deutlich machen – überhaupt erst im Kontakt mit den „Nicht-europäern“ der untereinander geteilten Kultur bewusst, traten außerhalb des eigenen Kontinents etwa nationale oder auch soziale Unterschiede hinter die gemeinsame europäische Herkunft und die gemeinsamen Erinnerungen zurück. Hiervon zeugt nicht zuletzt die strikte Abgrenzung der „europäischen“ Stadtviertel von jenen der „Einheimischen“, die bis heute das Erscheinungsbild vieler ehemaliger Kolonialmetropolen prägt.
Während vielerorts eine gewisse colonial nostalgia die Überreste der europäischen Präsenz in der Welt umweht, herausgeputzte Touristenorte ihre Bauwerke und Museen als Stätten des Austauschs inszenieren, brechen in den gemeinsam geteilten Erinnerungen von Europäern und Nichteuropäern immer wieder auch die Geschichten der Gewalt, Ausgrenzung und Unterdrückung hervor. Sklaverei und blutige Gewalttaten begleiteten nicht nur die europäische Expansion in der Welt, sie zeigen auch bis heute noch ihre tiefen Spuren im weltweiten Erinnerungsgeflecht.
Im öffentlichen Diskurs und in der Politik rufen beide Seiten der Geschichte des Ausgreifens Europas in der Welt immer wieder scharfe Auseinandersetzungen hervor. Demgegenüber haben Historiker und andere Sozial- und Kulturwissenschaftler seit Langem deutlich gemacht, dass es ein Missverständnis wäre, beide Aspekte gegeneinander auszuspielen. Tatsächlich zeigt sich gerade hier einmal mehr der schillernde, ebenso umstrittene wie ambivalente Charakter der globalen Erinnerungserzählungen Europas, die sich nicht auf einen einfachen Nenner bringen lassen. Diesen Ambivalenzen nachzuspüren, ist einer der besonders spannenden Aspekte einer globalen Erinnerungsgeschichte Europas.
Was im Lauf der Geschichte im Einzelnen als Teil der eigenen, „europäischen“ Erinnerungen angesehen wurde und was man umgekehrt als fremde, „einheimische“ Traditionen ausgrenzte, war nämlich keineswegs eindeutig oder unumstritten und überdies über die Zeit hinweg durchaus wandelbar: Ob etwa die „christlichen Wurzeln“ oder vielmehr eine laizistische Kultur der Aufklärung und der Wissenschaften als Anfang der „europäischen Zivilisation“ angesehen wurden, war stets abhängig vom Standpunkt der einzelnen Person. Dies gilt auch für die Einordnung der hybriden Mischkulturen in den Kontaktzonen zwischen Europa und der nichteuropäischen Welt, die nicht nur für die Hafenstädte weltweit schon immer charakteristisch war. Ebenso unklar war und ist die Zuordnung der Erinnerungen jener Einflusszonen an den Rändern des Kontinents, am Mittelmeer, gegenüber Russland oder rund um das Schwarze Meer: Allein der für das Geschichtsbild vieler Europäer zentrale Bezug auf die „Heiligen Stätten“ des Christentums, die am östlichen Mittelmeer heute in Israel/Palästina liegen, zeigt, wie unmöglich es ist, einen allein auf den geografischen „Kontinent“ bezogenen europäischen Erinnerungsraum abzugrenzen. Insofern kann es nicht verwundern, dass über die Einordnung der Krim, des Kaukasus oder auch eines über viele Jahrhunderte vom Osmanischen Reich dominierten Balkan in den Kreis der europäischen Erinnerungen auch unter Historikern heftige Dispute geführt wurden.
Die Beiträge dieses Bandes spüren in diesem Sinn den verschlungenen Wegen nach, die die europäischen Erinnerungen mit der Weltgeschichte verbinden. Sie machen deutlich, dass es unmöglich ist, die europäischen Erinnerungsräume nur von innen heraus zu definieren, denn immer schon besaß der Blick von außen einen wichtigen Anteil an der Beschreibung dessen, was Europa war und ist – selbst wenn dies teilweise eine gewisse „Provinzialisierung“ Europas (Dipesh Chakrabarty) mit sich brachte: In den Augen indonesischer, chinesischer oder auch arabischer Fürsten, Beamter oder Intellektueller konnte Europa mit seinen Erinnerungen und seiner Kultur über viele Jahrhunderte hinweg durchaus als weitaus weniger relevant erscheinen, als dies die Europäer selbst von sich dachten.
Eine wichtige Funktion besaß der Blick von außen, wie die Beiträge des Bandes zeigen, nicht zuletzt im Prozess der Ablösung der ehemaligen europäischen Kolonien: Indem sie ihre Unabhängigkeit erklärten, stellten sie ihre Gegenwart bewusst in eine „eigene“, von Europa getrennte Geschichte. Der Gebrauch der Selbstbeschreibung als „Amerikaner“ durch die ehemaligen Kolonisten aus England, Spanien und anderen europäischen Ländern des 18. und frühen 19. Jahrhunderts war in diesem Sinn ein deutliches Zeichen ihrer Abgrenzung vom europäischen Fürstenstaat und von jener von Europa aus gedachten Geschichte der Entdeckungen und Eroberungen, der der Kontinent „Amerika“ seinen Namen verdankte. Ebenso wie auch die spätere Dekolonisierung brachte die Unabhängigkeit damit ein eigenes, stark durch das nationale Paradigma geprägtes Geschichtsverständnis hervor, in dem Europa nicht mehr den dominanten Bezugspunkt darstellte.
Je mehr die Dekolonisierung der ehemaligen europäischen Kolonien in der Welt voranschritt, konnte es deshalb auch erscheinen, als ob sich eine europäische Geschichte allein auf dem Boden des „eigenen“ Kontinents abgespielt hätte, die Weltgeschichte nur unter den Stichworten der „Entdeckung“ oder des „Imperialismus“ zu fassen sei. Auch unter Historikern war dies lange Zeit ein verbreitetes Missverständnis, das erst durch die neue Welle globalhistorischer Forschungen der letzten 20 Jahre endgültig ausgeräumt wurde. Diese haben die zahlreichen Verflechtungen und Zirkulationen deutlich gemacht, die auch die Erinnerungsgeschichte Europas charakterisieren.
Vier Schritte markieren unsere Suche nach den weltweiten Verflechtungen der europäischen Vergangenheiten: Der erste Abschnitt „Erobern“ verfolgt die globalen Spuren des oftmals gewalttätigen Ausgreifens der Europäer über die Grenzen des Kontinents – jene Geschichte der Eroberungen und (vermeintlichen) „Entdeckungen“, der Sklaverei und des Humanitarismus, die lange Zeit den Kern der Erzählungen über die Weltrolle Europas bestimmte. Der zweite Teil „Benennen“ unterstreicht die dauerhaften Prägungen, die die Europäer durch ihre Präsenz in der Welt hinterlassen haben, und zwar sowohl immateriell in Karten, in den Namen von Orten, Ländern und Erdteilen oder in den Zeit- und Wissensordnungen als auch materiell in den Überresten und Wunden des Kolonialismus. Es wäre jedoch falsch, diese Prägungen der globalen Erinnerungen allein aus der europäischen Perspektive zu betrachten, denn auch die Nichteuropäer hatten stets Anteil an dieser Geschichte und ihren Erinnerungen. Welche vielfältigen, ja zum Teil widersprüchlichen Formen vor diesem Hintergrund die wechselseitigen Austauschbeziehungen annehmen konnten, zeigt der dritte Abschnitt „Exportieren“. Weit davon entfernt, eine Einbahnstraße von Europa in die Welt zu sein, erweist sich hier, wie sehr wesentliche Elemente der „europäischen Kultur“ außerhalb des Kontinents geprägt wurden: Erst in der Abgrenzung vom vermeintlich „anderen“ erhielten Europa und seine Erinnerungen ihr charakteristisches Erscheinungsbild – ein Prozess, in dem einzelne Mittlerfiguren und Intellektuelle von Mahatma Gandhi bis Léopold Sédar Senghor, von Mao Zedong bis Max Weber eine zentrale Rolle spielten. Der vierte Teil „Austausch“ schließlich demonstriert, welche elementare Bedeutung die globale Verflechtung seit Langem für die Kultur und den Konsum in Europa und in der Welt besaß: Das Verschwinden klarer kultureller Grenzen, das manche Autoren einer globalisierten Weltkultur des 21. Jahrhunderts zuschreiben, erscheint dabei als eine sehr alte Herausforderung für die Europäer, die ihren Ort in der Welt immer neu bestimmen mussten. Die globale Ausweitung der europäischen Erinnerungsräume führt den Betrachter insofern zu jenen Verschränkungen, in der sich „Eigenes“ und „Fremdes“ selbst vom Historiker kaum mehr entwirren lassen. Nicht nur in Literatur, Kunst und Film, auch in der weltweiten Konsumkultur, etwa bei der Einführung der Kartoffel, der Gewürze oder des Kaffees, zeigt es sich, wie schwierig es ist, den Beitrag des „anderen“ für die europäische Geschichte genau zu umreißen. Globale europäische Erinnerungen, Verflechtungen und Zirkulationen finden sich auch hier – und dies auch schon lange, bevor das Europa der Aufklärung seine Einzigartigkeit in der Welt behauptete.
Eine solche Spurensuche, wie sie der Band aufnimmt, kann naturgemäß nur einige der zahllosen Fährten verfolgen, die Europa in der Weltgeschichte gelegt hat. Das Kaleidoskop der Geschichten, das auf diese Weise entsteht, besticht ebenso durch seine Spannungen und Widersprüche, wie sie auch in den eingangs erwähnten Hafenstädten mit ihren farbenfrohen Kolonialbauten, Märkten und Museen auf der einen Seite und ihren Slums sowie den Zeichen von sozialer Segregation, Ausbeutung und Gewalt auf der anderen Seite zu finden sind. Weit davon entfernt, eine Erfolgsgeschichte Europas in der Welt zu präsentieren, verweisen die folgenden Beiträge zu den globalen Verflechtungen der Erinnerungen deshalb auf die tiefgehende Ambivalenz der Vergangenheit, die unsere Gegenwart in Europa und in der Welt prägt. Sich dieser europäischen Geschichte in ihrer ganzen Komplexität zu stellen, die tiefen Wunden der Vergangenheit ebenso wie die bunten Aspekte des Austauschs zu akzeptieren, ist jedoch der erste Schritt, um die alten Gegensätze in der Welt überwinden zu können.