Читать книгу Europa - Группа авторов - Страница 11
Kreis und Kugel
ОглавлениеBeginnen wir diese Geschichte der Darstellungen Europas und der Welt durch die europäischen Kartografen um 1300 mit dem Beispiel einer auf Pergament gezeichneten und in der Kathedrale von Hereford in England aufbewahrten Weltkarte. Der Verfasser der Hereford-Karte – vielleicht Richard von Haldingham und Lafford, der sie signiert hat – hat die Welt als einen von Wasser umgebenen Kreis gemalt. Innerhalb dieses Kreises siedelt er alle Arten von Erinnerungen an, biblische, klassische und auch solche jüngeren Datums. Eden, ein Paradies, das von Mauern und Gräben umschlossen ist, damit die Menschen nicht hineinkommen können, befindet sich ganz oben im Kreis, direkt unter einem allsehenden Gott, was erklärt, warum der Osten oben lokalisiert ist. Auf der anderen Seite des Kreises hat der Maler die Säulen des Herakles von Gibraltar platziert, unter denen ein provokant nackter Satan drei Feuerzungen ausspeit. Das zeigt uns zur Genüge, dass der Kartograf von Hereford in der Absicht, die Welt zu kartografieren, in Wirklichkeit eine Karte von Erinnerungsorten gemalt hat, die sowohl biblische wie nicht biblische Stätten umfassen, die beide der Welt der Europäer jener Zeit einen Sinn verliehen.
Im Mittelpunkt der Hereford-Karte ist ein anderer, mächtiger Erinnerungsort, den die europäischen Kartografen regelmäßig als Fundament wählten: die Heilige Stadt Jerusalem. Von diesem Angelpunkt aus entfaltet sich die Welt in drei ungleiche Teile, ein Erbe der Noah zugeschriebenen Erdteile (man erkennt im Nordosten von Jerusalem die gestrandete Arche). Das Asien von Sem nimmt die obere Hälfte des Kreises ein; die untere Hälfte teilt sich auf der Ebene des Mittelmeers zwischen dem Afrika Hams und dem Europa Jafets – ein übliches, TO-Karte (Terrarum Orbis) genanntes Format, das damals als Gedächtnisstütze für eine umfassende biblische Kosmologie diente. Jerusalem war weniger ein christlicher Ort – ohne vom Mittelpunkt der christlichen Welt sprechen zu wollen – als ein christliches Gedächtnis. Während zwei Jahrhunderten haben die Kreuzfahrer vergeblich darum gekämpft, aus dieser Stadt das Zentrum des Christentums zu machen. Vielleicht hat die Erinnerung an diese ewige Hoffnung beziehungsweise dieses ewige Scheitern Richard von Haldingham und Lafford dazu ermuntert, die Welt unter diesem Blickwinkel zu zeichnen.
Obwohl der Platz, den Jerusalem auf der TO-Karte einnimmt, um 1300 emblematisch war, nährte das wachsende Interesse am verlorenen Wissen älterer mediterraner Kulturen ein anderes Weltgedächtnis. Der griechische Theologe Maximos Planudes (um 1260–1310) befasste sich genau zu dieser Zeit mit den überlieferten Aufzeichnungen von Claudius Ptolemäus, einem in Kairo lebenden griechischen Geografen des 2. Jahrhunderts, um die Karte der drei Bereiche von Jafet, Ham und Sem zu zeichnen, wobei er dem Mittelmeer und dem Indischen Ozean optisch die gleiche Bedeutung zumaß. Es handelte sich nicht mehr um die Weltsicht, die entlang einer Achse von den Heraklessäulen zum Garten Eden organisiert ist. Sie konnte sogar ohne Rekurs auf die Bibel bestehen, auch wenn Planudes nicht die Absicht hatte, das Bild der Welt zu säkularisieren. Die ptolemäische Weltkarte versuchte ebenfalls, eine Projektion, das heißt eine systematische Formel, zu entwickeln, die es erlaubte, die Erdkrümmung, wie man sie vom Weltraum aus hätte sehen können, darzustellen. Das konnte nur eine partielle Wiedergabe sein, da Planudes über keinerlei Information über die Teile der Kugel verfügte, die er nicht vor sich hatte. Indem er aber die Erdoberfläche jenseits unserer Sichtweite an ihrem Rand krümmte, fand er einen optischen Trick, um denen, die seine Karte betrachteten, zu zeigen, dass die Erde eine Kugel ist. Daran schlossen die Kartografen an, die alle neuen Informationen, die im 16. Jahrhundert von überallher eintrafen, in ihre Arbeit einbeziehen wollten, und nahmen den Kampf auf, um der Welt eine erkennbare Form zu geben.