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Die Schwäche des Bürgertums der Habsburgermonarchie

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Der Börsenkrach von 1873 und die anschließende langwierige Wirtschaftskrise erschütterten das Vertrauen in die angeblich so segensreichen Kräfte des freien Marktes ebenso wie das Vertrauen in die liberale Politik. Dazu kam schamlose Korruption in den Kreisen der liberalen Abgeordneten, die als Belohnung für die Verabschiedung von diversen Eisenbahngesetzen gleich mit Aktien der neuen Eisenbahngesellschaften ausgestattet wurden.13

Die antiliberale Kritik bezeichnete die bürgerlichen Liberalen als Privilegienritter, die Bauern, Kleingewerbler und Arbeiter ausbeuteten und ihnen überdies noch ihre politischen Rechte verwehrten. Waren sie nicht Nutznießer dieses Staates, dessen obrigkeitliche Orientierung dem (von der Theorie her) so stark auf Selbständigkeit und die Freiheit der Person ausgerichteten Bürgertum in Wahrheit sehr zustatten kam, insofern als dieser Staat dem Bürgertum alles bereitstellte, was dieses brauchte – wie einen großen gemeinsamen Markt, Schutz des Eigentums und parlamentarische Budgetkontrolle? Diese Kritik verband sich mit antisemitischen Haltungen, die sowieso noch wegen der kirchlichen Verurteilung der Juden als „Christusmörder“ bei vielen Katholiken fortlebten. Im katholischen „Vaterland“ vom 20. Dezember 1871 werden die liberalen Wirtschaftsgesetze (Aufhebung der Zünfte, Gewerbefreiheit, Mobilisierung des bäuerlichen Besitzes, Aufhebung der „Wuchergesetze“ usw.) als Niederreißen „aller Schranken“, welche das „christliche Volk schützten“ zugunsten der Juden kritisiert: „Der Arbeiter- und Handwerkerstand wandert in die Fabrik, der Grundbesitz in die Hände, die Häuser in das Eigentum und das Vermögen der Völker in die Taschen der Juden […].“14

Die Verteidigungsposition, die der bürgerliche Liberalismus ab etwa 1875 bezog, hing auch mit den Zahlenverhältnissen zusammen. Für die Zeit um 1870 hätte man mit den damals Wahlberechtigten in Städten und „Industrialorten“ wahrscheinlich den größten Teil des Bürgertums umschreiben können. Später wurde das, als Folge von Wahlrechtserweiterungen, immer weniger möglich. Nimmt man an, dass „Bürgerlichkeit“ ein gewisses Einkommen voraussetzte, dann ermöglicht die Statistik der 1896 eingeführten Personaleinkommensteuer eine erste Annäherung. Der Anteil der Steuerpflichtigen an allen Berufstätigen lag damals bei 6,5%. Sicher bürgerlich dürften jene etwa 33 Prozent der Steuerpflichtigen gewesen sein, die mehr als 2.400 Kronen Einkommen hatten, also etwa 300.000 Einkommensbezieher. Die bürgerlichen Schichten umfassten daher, bei Annahme einer durchschnittlichen bürgerlichen Haushaltsgröße von vier Personen mindestens 1,2 Millionen Menschen oder ca. 4,6 Prozent der im Jahre 1900 etwa 26 Millionen Gesamtbevölkerung des österreichischen Reichsteiles. Auf die Kleinheit der österreichischen Mittelschichten verwies auch der prominente liberale Politiker Ernst von Plener (1841–1923) während der Debatte um das allgemeine Wahlrecht 1905/06 – nach seinen Berechnungen waren in Österreich 3,4 Prozent, hingegen in Preußen 9 und in Sachsen sogar 13 Prozent der Bevölkerung einkommensteuerpflichtig.15

Dieses Bild ändert sich, wenn man die westliche Reichshälfte der Habsburgermonarchie („Zisleithanien“) mit dem Gebiet der Republik Österreich vergleicht. Das ist natürlich auf die Tatsache zurückzuführen, dass nach dem Zerfall der Monarchie das wichtigste bürgerliche Zentrum, die Metropole Wien, auf ihrem Gebiet zu liegen kam.

In Wien lebte um 1900 etwa ein Viertel aller Steuerpflichtigen, die ziemlich genau ein Drittel aller steuerpflichtigen Einkommen des alten Österreich verdienten. Noch deutlicher tritt die Dominanz Wiens bei den höheren Einkommensklassen hervor: Während Wien 1907 nur ein Viertel der Steuerträger in den unteren Klassen stellte, stieg dieser Anteil bei den „Reichen“ (mehr als 12.000 Kronen Jahreseinkommen) auf 45 Prozent (1906) bzw. fast 52 Prozent bei den sehr Wohlhabenden (über 40.000 Kronen Jahreseinkommen). Mehr als die Hälfte aller Spitzeneinkommen des alten Österreichs gelangten also in Wien zur Veranlagung!16

Wenn man die relativ kleine Zahl der bürgerlichen Existenzen ins Auge fasst, dann wundert die relative Schwäche der bürgerlichen Klassen im Gesamtsystem der Monarchie nicht sehr. Drei weitere Probleme schwächten die Kraft dieser Gruppen noch mehr:

1 1 Die insgesamt schon nicht großen bürgerlichen Klassen waren in wenige großstädtische (insbesondere Wiener) Konfigurationen und viele mittel- und kleinstädtische Gruppen geteilt, mit nur geringer Übereinstimmung in Vermögenslage, Kultur oder politischen Haltungen. Ein dichtes Netz von großen Mittel- und kleineren Großstädten wie in Deutschland (oder England) fehlte. Verstärkt wurde diese Differenzierung noch dadurch, dass das unbestreitbar wirtschaftlich dominierende Wiener Bürgertum nicht zu einer eindeutig das kulturelle und politische Leben der Monarchie beherrschenden Klasse wurde, wie etwa die Pariser Bourgeoisie. Denn dieses Wiener Bürgertum war einerseits bewusst deutsch – das verhinderte die Identifikation der nichtdeutschen bürgerlichen Klassen mit dieser führenden Bourgeoisie; und es wurde andererseits sehr stark als „jüdisch“ wahrgenommen – das schuf schon in Wien selbst eine erhebliche Kluft zwischen dem liberalen Großbürgertum und dem zunehmend antisemitisch eingestellten Mittel- und Kleinbürgertum. Darüber hinaus aber verhinderte diese Wahrnehmung die Identifikation der vielfach deutschnational-antisemitischen Mittel- und Kleinstädter mit dem Wiener liberalen Bürgertum.17

2 2 Die fortschreitende Demokratisierung des politischen Lebens bis hin zum allgemeinen Männerwahlrecht 1906 untergrub die wenig belastungsfähige und prekäre Vorherrschaft des deutsch-österreichischen Bürgertums noch mehr. Die nationalistischen, antisemitischen und sozialistischen Massenbewegungen bedrohten die bürgerlichen Positionen und trugen dazu bei, dass „bürgerlich“ von einem Kürzel für „fortschrittlich“ zu einer Metapher für vorsichtig, sicherheitsbedacht, fortschrittsskeptisch, defensiv gegenüber den Anforderungen weiterer politischer Modernisierung werden konnte. Vielleicht kam die Demokratisierung im alten Österreich tatsächlich nicht zu spät, sondern zu früh – vor der für eine moderne Demokratie notwendigen vorausgehenden „Verbürgerlichung“ der Gesellschaft.

3 3 Das Bürgertum differenzierte sich zunehmend in sprachnational orientierte bürgerliche Klassen. Damit war jede einzelne nationale bürgerliche Konfiguration automatisch in einen Mehrfrontenkrieg verwickelt: gegen die Agrarier (Adel und Bauern) und ihre starken Durchsetzungsmöglichkeiten im politischen System; gegen die zunehmend erstarkende Arbeiterbewegung; gegen die jeweils andere nationale Bewegung; gegen die kleinbürgerliche, zumeist antisemitische Kritik aus den Städten; unter Umständen auch gegen den Staat.

Dennoch blieb bis 1914–18 allen diesen bürgerlichen Klassen gemeinsam, dass sie ganz offensichtlich am wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben und sehr beträchtliche Vermögen erwirtschaften konnten. Die Jahrzehnte vor 1914 waren, wie dies Roman Sandgruber so treffend formulierte, eine „Traumzeit für Millionäre“18. Das alte Österreich hatte zwar 1896 eine „progressive“ Einkommensteuer eingeführt, der höchste Steuersatz lag allerdings bei 5 Prozent. Wer eine gute Hand für das Geldverdienen hatte, konnte enorm reich werden. Es blieb daneben auch ein gewisses Vertrauen in Aufstieg und Sekurität sowie in die Fortschritte von Technik und Wissenschaft. Und es blieben auch, über alle nationalen und sozusagen religiösen Trennlinien hinweg, Formen des Anstands, der Höflichkeit, der Alltagskultur, der Sommerfrische und der Aufenthalte in den renommierten Badeorten, kurz: einer eigentlich übernationalen Bürgerlichkeit, bestehen. Ökonomisch ging es in den bürgerlichen Klassen allgemein aufwärts, und vielleicht würde der materielle Aufstieg auch der nichtdeutschen Bürgerlichen irgendwann einmal ein Abschleifen der nationalen Konturen und einen neuen Konsens ermöglicht haben.

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