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5. Aktuelle, für Bürgergesellschaften gefährliche Trends

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Derzeit ist es leider keine Selbstverständlichkeit mehr, dass wir offenen politischen Streit nicht nur rechtlich zulassen, sondern obendrein gewährleisten, dass jeder seine Meinung in jeder Situation auch frei von Angst oder von auf Gewaltandrohung beruhenden Diskursstörungen vertreten kann. Es gibt nämlich wieder – wie schon so oft in der Geschichte – ziemlich strikte Gebote und Verbote politischen Denkens und Sprechens. Sie werden durch Tabubildung, Selbst- oder Fremdzensur sowie die Ausgrenzung und soziale Ächtung von Abweichlern gesichert. Entlang so durchgesetzter Kriterien politischer Korrektheit finden sich dann auch immer wieder Ansatzpunkte für politische Gewaltanwendung. Deren Formen beginnen unscheinbar, erreichen aber bald schon schlimme Eskalationsstufen. Die schrecken umso mehr, als sich politische Gewalt oft aus fraglos guten Absichten motiviert.

Es ist ein Ausgangspunkt vieler Erscheinungsformen freiheitsgefährdender Gewalt, dass man auf politische Positionen, die man nicht mag, mit einer Art „politischer Spinnenfurcht“ reagiert. Angeekelt und – echt oder scheinbar – angstgetrieben wird dann mit Worten, mit Trillerpfeifen oder mit anderen Mitteln gegen den Störenfried vorgegangen, obwohl dieser meist nur lästig ist, nicht aber wirklich gefährlich. Motiviert werden viele zu solchem Verhalten, wenn sie meinen, eine geschichtlich bekannte schlimme Lage zöge neu herauf, weshalb man sich engagiert ans „Wehret den Anfängen“ machen müsse. Wann immer ein Andersdenkender in einen auch noch so vagen Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus gebracht werden kann, entfaltet sich diese Reaktion besonders leicht. Dann entscheidet man sich meist nicht mehr für Kommunikation, sondern für Ausgrenzungspraktiken, die ihrerseits manche subtilen, manche sehr groben Techniken der Gewaltanwendung nutzen.

Es beginnen die für eine Ausgrenzung von Andersdenkenden verwendeten Verfahren mit dem eigenen Verzicht darauf, sein persönliches Denken infrage zu stellen und jene Zusammenhänge überhaupt nachvollziehen zu wollen, die dem Andersdenkenden wichtig sind. Weiter geht man mit solcher Ausgrenzung, wenn es als Zeichen besonderer Sachkompetenz gilt, alles das „wegerklären“ zu können, was dem Auszugrenzenden für seine politischen Positionen überhaupt Anlass gibt. Dann kann man sich etwa über „offensichtlich unbegründete“ Ängste lustig machen oder diese als „bloß vorgeschoben“ ausgeben – und die „eigentlichen Gründe“ in zweckgerecht düsteren Farben ausmalen. Noch mehr ist erreicht, wenn dem Gegner wichtige Begriffe weggenommen sind, oder wenn zumindest deren öffentlicher Gebrauch durch eine passende Ziehung von „Grenzen des Sagbaren“ unterbunden oder leicht skandalisierbar geworden ist. Dann nämlich lassen sich jene Unterscheidungen und Bewertungen, auf die es dem Andersdenkenden ankommt, nur noch gegen unmittelbar erhobenen Widerspruch vortragen – und setzt den Gegner allein schon seine Wortwahl ins Unrecht.

Die nächste Stufe des Ausgrenzens ist erreicht, wenn man seinem Gegner Etiketten anheften kann, von denen „ein jeder weiß“, dass sie jemanden wirklich als einen „schlechten Menschen“ ausweisen. Am besten beginnt man mit dessen Einschätzung als „notorischer Querulant“ oder als „Ewiggestriger“. In Deutschland macht es sich bei einer solchen „strategischen Kontextbildung“ besonders gut, wenn man jemanden als „Rechtspopulist“, als „Faschist“ oder – neuerdings populär – als „Rassist“ ausgeben kann. Und falls am Auszugrenzenden allzu wenig direkt erkennbar Übles auffällt, hilft meist die Rede vom „Extremismus der Mitte“, den der Auszugrenzende verkörpere. Außerdem ist es auf dem Weg zu nachhaltiger Ausgrenzung besonders nützlich, wenn man den Auszugrenzenden als die personifizierte Erscheinungsform eines für die Allgemeinheit gefährlichen Typus hinstellen kann. Dann nämlich richtet sich das Ausgrenzungsverlangen nicht mehr gegen einen – unter anderen Umständen vielleicht sogar sympathischen – Mitmenschen oder sein konkretes Tun, sondern schlechterdings gegen das Böse sowie gegen dessen Verkörperung im Feind. Das erlaubt dann auch Ansprüche auf eigene moralische Überlegenheit, die sich für alle praktischen Zwecke nicht mehr entkräften lassen.

Wer aber einmal Schellen trägt wie die, ein „Latenznazi“ oder ein „Populist“ zu sein, der kann anschließend mit großer Plausibilität um seine öffentlichen Auftritte gebracht werden. Einem Rechtsradikalen oder Rassisten darf man „keine Bühne bieten“; also gehört er nicht mehr als gleichberechtigter Gesprächspartner in Talkshows – und natürlich auch nicht mehr auf Diskussionspodien oder an Rednerpulte. Perfekt wird das Ergebnis solchen Vorgehens, wenn sich der Auszugrenzende alsbald nicht nur Blößen gibt, die derlei Ausgrenzung nacheilend rechtfertigen, sondern wenn er auf solchen Ausgrenzungsdruck gar noch dahingehend reagiert, dass er seine Außenseiterrolle eben annimmt und sich voller Trotz selbst immer mehr ins Unrecht setzt.

Das Ausgrenzen kann aber noch weiter gehen. Anzustreben ist es, den Abweichler vor einen „virtuellen Gerichtshof“ zu bringen – etwa: ihn in einer Talkshow „fertigzumachen“ und den entsprechenden Videoclip dann ins Internet zu stellen. Vielleicht kann man dem Auszugrenzenden auch ein staatsanwaltliches Ermittlungsverfahren anhängen; es wird schon etwas hängen bleiben. Das Ziel ist erreicht, wenn der Auszugrenzende als „nicht mehr ernst zu nehmen“ gilt, wenn er nicht mehr als ein „redlicher Fachmann“, ja vielleicht nicht einmal mehr als ein „akzeptabler Mitbürger“ angesehen wird. Und zum erwünschten Abschluss gelangt das Ausgrenzen, wenn der Gegner sich aus der Öffentlichkeit zurückzieht, in einer Diktatur vielleicht eingesperrt oder exiliert, in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert, womöglich auch umgebracht wird.

Alle diese Ausgrenzungsschritte lassen sich aufs Beste mit Häme gegenüber „den Bösen“ und mit sich selbst feiernden symbolischen Aktionen „der Anständigen“ abrunden. Besonders wirkungsvoll ist es, wenn sich zur Häme nicht nur ernst zu nehmende Drohungen gesellen, sondern wenn diese auch exemplarisch ins Werk gesetzt werden: von der Verhinderung öffentlicher Reden bis hin zur Umwidmung von Torten zu anklägerischen Wurfgeschoßen, von diskursverhindernden Sprechchören übers Steinewerfen bei Demonstrationen bis hin zu Anschlägen auf Büros, Fahrzeuge und Menschen. Zur wechselseitigen Praxis geworden, beschädigt das alles eine bislang bestehende Bürgergesellschaft von innen heraus und untergräbt die Grundlagen ihrer pluralistischen Demokratie.

Bürgergesellschaft heute

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