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2. Geistige Herausforderungen westlicher Bürgergesellschaften

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Obendrein wurde inzwischen eine weitere Selbstverständlichkeit brüchig. Das ist die Unterscheidung und Gegenüberstellung von ziviler und religiöser Gemeinschaft. Die prägte zwar nicht zwischen der Antike und der frühen Neuzeit, sehr wohl aber seit der Aufklärung unser Verständnis einer Bürgergesellschaft. Abendländisch ging diesem Verständnis von Bürgergesellschaft der christliche Dualismus zwischen weltlicher und geistlicher Herrschaft voraus. In wechselseitig durchaus schmerzlichen Streitigkeiten setzte sich seit der Aufklärung dann aber die Vorstellung durch, dass auch der westliche Staat – obwohl so stark vom ihm dialektisch gegenüberstehenden Christentum geprägt – durchaus nicht eines wirklich praktizierten Christentums bedürfe, um sich als „societas perfecta“ im Sinn der griechischen Polis ausgestalten zu können. Der westliche Staat lebt mitsamt der ihn tragenden Bürgergesellschaft weiterhin gerade von christlich geprägten Voraussetzungen, die er auch künftig nicht wird selbst reproduzieren oder gar neu schaffen können. Zu diesen Voraussetzungen gehören über den jeweiligen Argumentationszweck hinausreichende – ihn also transzendierende – Begründungen jener Schutz- und Freiheitsrechte, deren gemeinsamer Nenner die Rede von der Würde des Menschen ist. Diese Rechte bedürfen ihrerseits eines freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates, um gesichert zu bleiben. Doch solange es an christlichen oder funktional gleichwertigen Voraussetzungen einer solchen Ausgestaltung einer Bürgergesellschaft und ihres Staates nicht fehlt, braucht der säkulare Staat westlicher Tradition nur irgendeine Zivilreligion, um seine sittlichen Grundlagen und letztendlichen Sinnvorstellungen nicht bloß diskursiv, sondern auch symbolisch und somit emotional ansprechend zum Ausdruck zu bringen sowie auf diese Weise gesellschaftlich zu stabilisieren. Diese Religion muss aber nicht notwendigerweise die christliche Religion sein, sofern nur weiterhin die Würde des Menschen als Angelpunkt gesellschaftlicher und politischer Ordnung glaubhaft gemacht wird.

Doch inzwischen gibt es höchst einflussreiche Alternativangebote zu einer ehedem christlichen Prägung jener (Zivil-)Religion, die viele Einzelne in einem Staatsvolk zusammenhält. Unübersehbar ist zumal eine sehr besondere Alternative in jenen westlichen Staaten, deren Bevölkerung große muslimische Minderheiten einschließt. Deren Angehörige empfinden sich nämlich oft auch – oder gar vor allem – als Teil einer viele Gesellschaften und Staaten umfassenden islamischen Kultur. Diese in die Spätantike zurückreichende Kultur hat aber den westlichen Staat samt der ihn tragenden Bürgergesellschaft gerade nicht hervorgebracht, sondern betont vielfach sogar ihren Widerspruch zu beidem. Wichtig ist im Islam nämlich nicht Gegenüberstellung von „Staat“ und „Kirche“ oder ein Dualismus von „Politik“ und „Religion“. Vielmehr geht es um das Verhältnis von „Dar al-Salam“ und „Umma“.

Letztere ist – ganz entsprechend der christlichen Kirche als „Versammlung der Gläubigen um Gott“ – die Gemeinschaft aller Muslime. Hingegen ist das „Dar al-Salam“ – verdeutscht: das „Gebiet des Friedens“, dem das „Gebiet des Krieges“ („Dar al-Harb“) gegenübersteht – genau und allein jener Teil der Welt, der bereits wirklich befriedet ist: nämlich durch die Hingabe aller an die vom Propheten Mohammed offenbarten Regeln Gottes sowie durch die auch politisch-staatliche Durchsetzung genau dieser Regeln. Eine „societas perfecta“ ist im orthodoxen Denken islamischer Kultur also nicht möglich auf der Grundlage irgendeiner Zivilreligion, sondern nur dort, wo religiös rechtgeleitete Muslime regieren. Es geht – um des Friedens willen – somit nicht nur um die religiöse Ausgestaltung der je eigenen Gesellschaft und ihres Staates, sondern mehr noch um die fraglich werdende Legitimität eines Sonderwegs jener Gesellschaften und Staaten, die sich gerade nicht vom Islam leiten lassen, in denen aber Muslime auf Dauer leben werden.

In solchen Zusammenhängen aufgefasst, wirkt allein schon der Begriff einer nicht-religiös verstandenen Zivilgesellschaft, wie er in westlichen Kulturen üblich geworden ist, für muslimisch geprägte Gesellschaften subversiv, ja auf nicht wenige Muslime wie eine Aggression. Die wird wiederum nicht nur den unterschiedlichen geistigen Grundlagen säkular-westlicher und religiös-islamischer Gesellschaften zugeschrieben, sondern auch jener verbleichenden Vormacht des Westens, der seinerseits durch Kolonialismus und Imperialismus die ihm „ethisch eigentlich überlegene“ Welt des Islams gedemütigt und tiefgreifend geschädigt habe. Politische Religion verbindet sich auf diese Weise unmittelbar mit politischen Macht- und Revanchekämpfen.

Heute von den Grundlagen einer Bürgergesellschaft zu sprechen, verlangt deshalb nach solchen Argumentationen, die für innerislamische Selbstverständigungsdebatten anschlussfähig sind oder zumindest anschlussfähig sein könnten. Im Übrigen ist angesichts von Chinas Aufstieg zur dominierenden Weltmacht zu bedenken, dass westliche Vorstellungen von einer Bürgergesellschaft fortan auch die Konkurrenz mit den so ganz anders geprägten ostasiatischen Überzeugungen zum rechten Verhältnis eines Staates zu den in ihm Lebenden bestehen müssen. Bei diesen aber verbinden sich überaus bewährte Einsichten traditioneller chinesischer Staatskunst, denen nur das einst modische Gewand des Kommunismus übergestreift wurde, mit solchen neuen Möglichkeiten einer auf moderne Technik gestützten Regierungsführung, die sich mehr auf wissenschaftliche Daten und „harmonisierende“ soziale Kontrolle als auf die zu kultivierende Mitwirkungsbereitschaft einer selbstbestimmungswilligen Bürgerschaft stützt. Ob ein so geartetes Politikmodell dem westlichen unterlegen oder überlegen ist, sollte durchaus als offene Frage behandelt werden. Deren erwünschte Antwort kann dann nur durch verstärkte eigene Anstrengungen gegeben werden, ein wirklich gutes Leben durch nachhaltig erfolgreiche Politik herbeizuführen oder zu sichern.

Jedenfalls ist eine Bürgergesellschaft westlicher Art nichts, was ein für alle Mal errungen wäre. Sie kommt ohnehin nur zustande, sobald – und solange – ihre komplexen kulturellen Voraussetzungen gegeben sind. Doch auch dann bleibt sie bedroht von antipluralistischen Strömungen, gleich welcher Herkunft oder Zielsetzung. Dem Reiz von ideologischer Rechthaberei und religiösem Glaubenwollen kann sie nämlich nur sperrige Überlegungen darüber entgegensetzen, dass gerade Offenheit für Kritik lernfähig macht, und dass alle geschichtlichen Beispiele schrecken, in denen Politik auf ins Detail gehende Wahrheitsansprüche gegründet wurde. Obendrein kann sich eine Bürgergesellschaft auch selbst bedrohen. Das geschieht zumal dann, wenn jene zivilreligiösen Formeln und zivilliturgischen Praktiken, welche die bürgergesellschaftliche Stabilität durch eine die Gefühle ansprechende Symbolik sichern, vor allem taktisch-instrumentell verwendet werden, um nämlich aktuell kulturell-hegemoniale Positionen gegen neue Konkurrenz zu verteidigen. Dann werden aus kommunikationshygienischen Regeln politischer Korrektheit freiheitsbeschneidende quasi-religiöse Tabus, wird aus der Sorge um die Aufrechterhaltung bürgerlicher Freiheit politischer Hexenwahn, aus der Sicherung gleicher Rechte für alle eine neue Kastengliederung zwischen den „Anständigen“ und den „Bösen“. Im Wesentlichen sind es genau die aus dem eigenen Inneren stammenden neuen Trends unserer westlichen Bürgergesellschaften, die mittlerweile jene Chancen beeinträchtigen, den uns ein über viele Jahrzehnte florierender Pluralismus bescherte. Auch um des weiteren Gemeinwohls willen sollten wir deshalb jene Regeln besser zu verstehen und redlicher anzuwenden versuchen, die „im Westen“ aus eigensüchtigen Einzelmenschen und selbstgerecht konkurrierenden Gruppen so oft eine am Gemeinwesen aktiven Anteil nehmende Bürgergesellschaft gemacht haben.

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