Читать книгу Bürgergesellschaft heute - Группа авторов - Страница 29

Ende des Bürgertums?

Оглавление

Trotz der oft beschworenen Verluste und Einschnitte – die in jeder Erinnerung vorkommen – bedeutete das Ende der Monarchie wohl doch (noch) nicht das Ende der Bürgerwelt. Dieses kam erst 1938, als das jüdische Bürgertum (oder, genauer, das Bürgertum jüdischer Abstammung, denn hier ging es ja nicht um religiöse Bekenntnisse), aller seiner Vermögenswerte beraubt wurde.36 Die Arisierungsakten, so Peter Melichar einmal gesprächsweise, enthielten das größte geschlossene Material zur Kulturgeschichte des (so genannten „jüdischen“) Bürgertums der Zwischenkriegszeit. Zweifellos waren die „Arisierungen“ ein viel stärkerer Bruch in den immerhin bis jetzt zu verfolgenden Kontinuitäten der bürgerlichen Welt, die durch Flucht und (zuletzt) Deportation nach Theresienstadt oder Auschwitz endgültig vernichtet wurde.

Man wird daher die großen Brüche von 1918, 1938 und 1945 als Etappen auf dem Weg in die nachbürgerliche Epoche interpretieren können – zuerst verlor das österreichische Bürgertum große Teile seiner ökonomischen Macht, dann, ab 1938, verloren große Teile dieses Bürgertums (sein großer aus dem Judentum gekommener Anteil) Besitz, Heimat und oft das Leben. Und 1945 erlebte das ehedem großdeutsch-liberale Bürgertum eine ähnliche, wenngleich nicht so katastrophale Deprivation.

Nehmen wir also an, dass jene bürgerlichen Schichten, die im 19. Jahrhundert die „bürgerliche Gesellschaft“ dominierten, 1918/1938/1945 ihre Existenzgrundlagen weitgehend einbüßten. Brachte das Ende von Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus eine Renaissance des Bürgertums mit sich? Es gibt zwar Kontinuitäten in nicht wenigen Familien, auch in Unternehmungen, aber gerade Familienunternehmen neigen dazu, nach einigen Generationen nicht mehr als solche weitergeführt werden zu können. Als eine ökonomisch, geistig und kulturell führende Klasse, wie es das deutsch-liberale Bürgertum der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war, lässt sich das Bürgertum nicht rekonstruieren.

Wir kehren zurück zu den eingangs getroffenen Feststellungen über Bürger- bzw. Zivilgesellschaft. Die Fragen lauten, stark verkürzt: Wie viel an traditioneller Bürgerlichkeit benötigt eine demokratische, staatsbürgerliche Gesellschaft freier Bürger zu ihrem gedeihlichen Funktionieren? War die große Krise von 1918–1945 vielleicht auch deshalb so katastrophal, weil sie gerade das Bürgertum so massiv betroffen hat? Und war die Unfähigkeit der neuen Staaten, dem „alten“ Bürgertum der Monarchie in ausreichendem Maße eine neue Beheimatung anzubieten, einer der (mehreren) Gründe für den relativ raschen Untergang der Ordnung von 1918/19? Und: Gibt es die Möglichkeit einer demokratischen „Civil Society“ ohne gesellschaftliche Gruppen, die, gleich ob sie sich als „bürgerlich“ verstehen oder nicht, doch jenen Wertekanon vertreten, der dem „klassischen“ Bürgertum zu eigen war: hohe Wertschätzung des selbstbestimmten Individuums sowie persönlicher Leistung und Tüchtigkeit, verbunden mit dem Glauben an die Leistungsfähigkeit freier Assoziationen und der Mitwirkung in der Selbstverwaltung des Gemeinwesens; eine optimistische, wissenschaftsgestützte Wahrnehmung der Menschheitsentwicklung, gepaart mit tiefem Misstrauen gegen alle vorgefertigten und „von oben“ verordneten Lösungen?

Andererseits: Vieles von dem, was vom und im Bürgertum des 19. Jahrhunderts angestrebt und vorbereitet wurde – die Verbreiterung der Bildungsmöglichkeiten, das Vorantreiben des technischen Fortschritts, die Verbesserung der materiellen Chancen und des Lebensstandards für immer breitere Schichten –, konnte nach dem Ende des Bürgertums tatsächlich realisiert werden, sodass heute viele Menschen bürgerlicher leben als im versunkenen Zeitalter des Bürgertums. Und sie haben auch in viel höherem Maße die Möglichkeit, sich zivilgesellschaftlich zu betätigen.

1 https://de.wikipedia.org/wiki/Zivilgesellschaft (Zugriff 3. 11. 2020).

2 https://www.bing.com/search?q=obcanske+forum&form=PRUSEN&pc=EUPP_UE12&mkt=en-us&httpsmsn=1&msnews=1&rec_search=1&refig=64bde755d3b54d88bbd2f1cb325b839e&sp=2&qs=SC&pq=obcanski+forum&sk=HS1&sc=3-14&cvid=64bde755d3b54d88bbd2f1cb325b839e (Zugriff 3. 11. 2020).

3 https://en.wikipedia.org/wiki/Burgus (Zugriff 3. 11. 2020).

4 https://de.wiktionary.org/wiki/zivil (Zugriff 3. 11. 2020).

5 Das Van-Swieten-Zitat nach Ernst Wangermann, Aufklärung und staatsbürgerliche Erziehung, Wien 1978, S. 79.

6 Über das ABGB existiert eine breite Literatur. Hier sei nur verwiesen auf Walter Selb / Herbert Hofmeister (Hg.), Forschungsband Franz von Zeiller (1751−1828). Beiträge zur Gesetzgebungs- und Wissenschaftsgeschichte, Wien u. a. 1980.

7 Wenn keine besonderen Verweise erfolgen, bezieht sich der Autor auf dessen Sozialgeschichte Österreichs, 2. Aufl., Wien/München 2001.

8 Anonym (Eduard von Bauernfeld), Pia desideria eines österreichischen Schriftstellers, Leipzig 1842, S. 16.

9 Wolfgang Häusler, Schubumkehr. Von der Tradition der demokratischen Revolution 1848 zu Deutschnationalismus und Antisemitismus, in: Österreich in Geschichte und Literatur 64, 2020, Heft 1, S. 4–28, hier S. 9.

10 Häusler, Schubumkehr, passim, führt diesen Wandel auf das Scheitern der bürgerlichen Revolution zurück.

11 Zur österreichischen Bürokratie des 18. und 19. Jahrhunderts hat Waltraud Heindl die wichtigsten Werke publiziert: Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich 1780–1848, Wien/Köln/Graz 1991; und: Josephinische Mandarine. Bürokratie und Beamte in Österreich Band 2, 1848– 1914, Wien 2013.

12 Zu diesem Problemkreis grundlegend Harm-Hinrich Brandt, Der österreichische Neoabsolutismus. Staatsfinanzen und Politik 1848–1860, 2 Bde., Göttingen 1978. Die daraus resultierende Diskussion dokumentiert in Harm-Hinrich Brandt (Hg.), Der österreichische Neoabsolutismus als Verfassungs und Verwaltungsproblem, Wien/Köln/Weimar 2014.

13 Ernst Bruckmüller (Hg.), Korruption in Österreich (Austriaca), Wien 2011.

14 Zitiert nach Häusler, Schubumkehr, S. 9.

15 Ernst Frh.v. Plener, Reden: 1873–1911, Stuttgart/Leipzig 1911, 1987 (Rede im Herrenhaus, am 2. Dez. 1905).

16 Joseph von Friedenfels, Die individuelle Bewegung der Personaleinkommensteuer-Zensiten und die Höhe ihres Einkommens in den Jahren 1906– 1908. In: Mitteilungen des K. K. Finanzministeriums, 1. Heft, 1913; Beiträge zur Statistik der Personaleinkommensteuer in den Jahren 1903 bis 1907. Wien 1908.

17 John W. Boyer, Political Radicalism in Late Imperial Vienna. Origins of the Christian Social Movement 1848–1897, Chicago/London 1981, unveränderte Paperback-Ausgabe, Chicago 1995.

18 Roman Sandgruber, Traumzeit für Millionäre. Die 929 reichsten Wienerinnen und Wiener im Jahr 1910, Graz/Wien 2013.

19 Ernst Bruckmüller, Das österreichische Bürgertum zwischen Monarchie und Republik, in: Zeitgeschichte 20/1993, Heft 3/4 (Schwerpunkt: Bürgertum) S. 60–84. Darin insbes. Ernst Bruckmüller / Elisabeth Ulsperger: Friedrich Pachers Einschätzung der materiellen Situation vor und nach dem Ersten Weltkrieg, in: Zeitgeschichte 20/1993, Heft 3/4 (Schwerpunkt: Bürgertum), S. 104–112.

20 Otto Bauer, Die österreichische Revolution, Wien 1923, jetzt in: Bauer, Werkausgabe, Band 2, Wien 1976, S. 755 f.

21 „Es läßt sich nicht zahlenmäßig nicht abschätzen, wie weit der Verarmungsprozeß fortgeschritten ist. Aber als Tatsache kann er nicht verleugnet werden, wenngleich der äußere Anschein nicht die ganze Wirklichkeit merken läßt weil der Mieterschutz der breiten Masse des Bürgertums die Behauptung ihrer Wohnung und damit des äußeren Rahmens ihrer Existenz ermöglicht [...]“ Das österreichische Wirtschaftsproblem. Denkschrift der österreichisch-deutschen Arbeitsgemeinschaft (Redaktion Bruno Enderes, Karl Herrmann, Benedikt Kautsky, Rudolf Kobatsch, Hermann Neubacher, Edmund Palla, Erich Seutter-Lötzen, Gustav Stolper und Max Tayenthal), Wien 1925, S. 21 f.

22 Marie-Theres Arnbom, Friedmann, Gutmann, Lieben, Mandl und Strakosch. Fünf Familienporträts aus Wien vor 1938, Wien/Köln/Weimar 2002.

23 Es wäre ermüdend, die zahlreichen Beispiele anzuführen. Friedrich Engel-Jánosi vergaß nie, auf die „Weisheit“ des Nationalökonomen Schumpeter hinzuweisen, wonach Krone eben Krone sei, vgl. Friedrich Engel-Jánosi, ... aber ein stolzer Bettler, Graz 1974, S. 71: „Die Besuche österreichischer Finanzgrößen bei den Eltern hatten schon ihre Spuren in Gestalt voluminöser Pakete von Kriegsanleihen hinterlassen, sie erwiesen sich später als vorzüglich geeignet zu Tapezierungszwecken.[...] Man mußte wirklich ein so bedeutender Nationalökonom wie Professor Schumpeter sein, um dem Zauber der Formel ‚Krone ist Krone‘ so völlig zu verfallen [...]“.

24 Marija Wakounig, Konsumverhalten des Wiener Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, in: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 44/45, 1989, S. 154–186, hier S. 174.

25 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt/M. 1970.

26 Arnold Madlé, Die Bezüge der öffentlichen Angestellten, in: Julius Bunzel (Hg.), Geldentwertung und Stabilisierung in ihren Einflüssen auf die soziale Entwicklung in Österreich (Schriften des Vereins für Sozialpolitik 169), München/Leipzig 1925, S. 131–136. Zum Vergleich: Arbeiter und Angestellte erhielten 1925 etwa 75 % des Reallohnes der Vorkriegszeit.

27 Siegfried Strakosch, Der Selbstmord eines Volkes. Wirtschaft in Österreich, Wien/Leipzig/München, 1922, S. 50 f.

28 Franz Haber, Österreichs Wirtschaftsbilanz. Ein Vergleich mit der Vorkriegszeit, München 1928, S. 95.

29 Strakosch, Selbstmord, S. 110.

30 Ernst Bruckmüller, Sozialstruktur und Sozialpolitik, in: Erika Weinzierl / Kurt Skalnik (Hg.), Österreich 1918–1938, Bd. 1, Wien 1983, S. 406–407.

31 Bruckmüller, Sozialstruktur und Sozialpolitik, S. 406.

32 Alexander Spitzmüller, „... und hat auch Ursach, es zu lieben.“ Wien/München/Stuttgart/Zürich 1955, S. 371.

33 Zur CA-Krise: Spitzmüller, ferner Dieter Stiefel, Finanzdiplomatie und Weltwirtschaftskrise. Die Krise der Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe 1931, Frankfurt/M. 1989. Zur Benützung des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes in diesem Zusammenhang vgl. Peter Huemer, Sektionschef Rudolf Hecht und die Zerstörung der Demokratie in Österreich, Wien 1975.

34 Spitzmüller, ebd., S. 371 ff.

35 Hans Loewenfeld-Russ, Im Kampf gegen den Hunger. Aus den Erinnerungen des Staatssekretärs für Volksernährung 1918–1920, hg. v. Isabella Ackerl, Wien 1986, S. 331 ff.

36 Beispielhaft für das Bankwesen: Peter Melichar, Neuordnung im Bankwesen. Die NS-Maßnahmen und die Problematik der Restitution (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich), Bd. 11, Wien/München 2004; Peter Eigner / Peter Melichar, Enteignungen und Säuberungen – Die österreichischen Banken im Nationalsozialismus, in: Dieter Ziegler (Hg.), Banken und „Arisierungen“ in Mitteleuropa während des Nationalsozialismus (Geld und Kapital, Jahrbuch der Gesellschaft für mitteleuropäische Banken- und Sparkassengeschichte, hg. v. Alois Mosser, Alice Teichova, Richard Tilly, 2001, Stuttgart 2002), S. 43–118.

Bürgergesellschaft heute

Подняться наверх