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5. Charles Baudelaire: Literatur als Gegenteil von Photographie

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Baudelaire wird im Jahr 1859 vom Herausgeber der Revue française aufgefordert, die gerade in Paris laufende Ausstellung zeitgenössischer Künstler zu kommentieren. „Soyez bref“, soll er zu Baudelaire gesagt haben, „ne faites pas un catalogue, mais un aperçu général, quelque chose comme le récit d’une rapide promenade philosophique à travers les peintures.“1 Baudelaire entspricht diesem Wunsch, und im Folgenden und letzten Abschnitt wird diesem mit Le Portrait betitelten Essai zum Salon de 1859, wie er in der Revue française des gleichen Jahres publiziert wurde, eine zentrale Rolle zukommen – als Referenzpunkt für meine Interpretation des ebenfalls mit Un portrait betitelten Sonetts der Fleurs du Mal2 und für eine Analyse zur Bestimmung des Literarischen im Paragone mit der Photographie, in Koalition mit Malerei und Zeichnung.

Baudelaire führt in jener kunstkritischen Abhandlung Salon de 1854 unter der Kapitelüberschrift Le portrait eine imaginierte Diskussion mit einem fiktiven Gegenüber. Diese Szene ist unübertrefflich – an Bissigkeit und Bourgeoisie-Verachtung, aber auch an programmatischer Schärfe in Bezug auf den Paragone. Literatur und Malerei sind hier vereint im Wettstreit gegen die Photographie, die die Bedürfnisse der von Baudelaire verhassten bürgerlichen Seelen bedient und bestätigt:

En face de moi, je vois l’Ame de la Bourgeoisie, et croyez bien que si je ne craignais pas de maculer à jamais la tenture de ma cellule, je lui jetterais volontiers, et avec une vigeur qu’elle ne soupçonne pas, mon écritoire à la face. Voilà ce qu’elle me dit aujourd’hui, cette vilaine Ame, qui n’est pas une hallucination: ‚En vérité, les poëtes sont de singuliers fous de prétendre que l’imagination soit nécessaire dans toutes les fonctions de l’art. Qu’est-il besoin d’imagination, par exemple, pour faire un portrait? Pour peindre mon âme, mon âme si visible, si claire, si notoire? Je pose, et en réalité c’est moi, le modèle, qui consens à faire le gros de la besogne. Je suis le véritable fournisseur de l’artiste. Je suis, à moi tout seul, toute la matière.‘ Mais je lui réponds: ‚Caput mortuum, tais-toi! Brute hyperboréenne des anciens jours, éternel Esquimau porte-lunettes, ou plutôt porte-écailles, que toutes les visions de Damas, tous les tonnerres et les éclairs ne sauraient éclairer! plus la matière est, en apparence, positive et solide, et plus la besogne de l’imagination est subtile et laborieuse. Un portrait! Quoi de plus simple et de plus compliqué, de plus évident et de plus profond?‘3

Zentraler Diskussionspunkt ist also die Frage der Imagination in ihrer Notwendigkeit für die Kunst im Allgemeinen, für das Porträt im Besonderen. Das verhasste bürgerliche Gegenüber ist seinerseits ein imaginiertes, aber kein halluziniertes, wie Baudelaire betont: fiktional, aber (leider) nicht fiktiv. Es sitzt ihm nah („cellule“) gegenüber („en face“) – eigentlich selbst schon eine Konstellation des verzerrten Spiegelporträts. Das bürgerliche Gegenüber behauptet sich in seiner positivistischen Materialität, die den Künstler geradezu überflüssig macht: Wozu Imagination, wenn doch alles sichtbar ist? Baudelaire nimmt diese Selbstreduktion auf die ‚Sache‘ in seiner erwidernden Beschimpfung als caput mortuum auf – der Totenschädel dient hier als Symbol irreduzibler Materialität. Kein Blitz der Welt reiche jemals aus, um diese kieselbebrillte, hintereisbergische Seele zu erhellen und sie zur Einsicht in die tatsächlichen Verhältnisse zu bringen: je sichtbarer die ‚positive‘ und ‚solide‘ Materie zu sein scheint, desto subtiler und notwendiger ist die Arbeit der Imagination. Das Portrait ist einfach und kompliziert, evident und tiefgründig zugleich, so die pointierte Antithese Baudelaires.

Grundsätzlich ist für Baudelaire die Imagination die reine des facultés, die Königin der Vermögen, sie ist die eigentliche reine du vrai, Königin des Wahren. Das betont er deshalb immer wieder, weil er sich mit seiner Dichtung der Modernité in einer historischen Paragone-Situation befindet. Zum einen angesichts des literarischen und künstlerischen Realismus (insbesondere im Sinne der Genre- und Landschaftsmalerei), den er in seinen Schriften stets als verfehlte ästhetische Konzeption schwer zu erregender Geister („esprits paresseux et difficilement excitables“) zurückweist.4 Zum anderen angesichts der Photographie,5 die er als verhasste konkurrierende Modeerscheinung immer wieder polemisch thematisiert. In diesen „jours déplorables“ wie es bei ihm heißt, habe sich eine neue Industrie formiert, die nicht unwesentlich dazu beigetragen habe, dass der letzte Rest des Göttlichen im französischen Geist zum Ruin gekommen sei:6

[L]e Credo actuel des gens du monde, surtout en France […] est celui-ci: ‚Je crois à la nature et je ne crois qu’à la nature (il y a de bonnes raisons pour cela). Je crois que l’art est et ne peut être que la reproduction exacte de la nature […] Ainsi l’industrie qui nous donnerait un résultat identique à la nature serait l’art absolue.‘7

Der Glaube an die reproduction exacte dessen, was als ‚Natur‘ unmittelbar sich darzulegen scheint, steht am Ursprung eines neuen, von Baudelaire als bedrohlich bewerteten bürgerlichen Kunstverständnisses, das von einer neuen Massen-Sekte propagiert und praktiziert wird:

Un Dieu vengeur a exaucé les voeux de cette multitude. Daguerre fut son Messie. Et alors elle se dit: ‚Puisque la photographie nous donne toutes les garanties désirables d’exactitude (ils croient cela, ces insensés), l’art, c’est la photographie.‘ A partir de ce moment, la société immonde se rua, comme un seul Narcisse, pour contempler sa triviale image sur le métal.8

Die multitude, die einerseits für Baudelaire im Sinne der anonymen Masse Bedingung und Hintergrundgeräusch moderner Kunst ist (s. das berühmte und vielinterpretierte Sonett A une Passante), wird hier zum Publikum einer bedrohlich konkurrierenden Modeerscheinung, die nach Baudelaires Ansicht zu Unrecht künstlerischen Anspruch erhebt und sich nun sogar als Inbegriff der Kunst zu behaupten droht. Die Selbstbespiegelung im Metall der Daguerrotypie wird bei ihm zum Signum eines falschen, weil positivistisch-abbildenden Kunstverständnisses, das die Bedeutung der Imagination negiert. Er selbst räumt der Photographie lediglich als technischer Dienerin der Wissenschaften und Künste einen Platz ein, vergleichbar mit dem Buchdruck und der Stenographie – sobald man ihr jedoch die Anmaßung nicht verweigere, sich Zutritt zu den Domänen der Kunst zu verschaffen, nehme das Unheil seinen Lauf: „Mais s’il lui est permis d’empiéter sur le domaine de l’impalpable et de l’imaginaire, sur tout ce qui ne vaut que parce que l’homme y ajoute de son âme, alors malheur à vous!“9 Die Imagination ist nach Auffassung von Baudelaire die „reine des facultés“10, und ihr ist eine „apparentée avec l’infini“11 eigen – die technisierte Begrifflichkeit assoziiert das Faszinosum der Apparate-Photographie, um es zugleich aufzurufen und sich ihm entgegenzusetzen.

So deutlich wie die Ablehnung der Photographie ist Baudelaires Affinität zur Malerei und Zeichnung. Die Inbezugsetzung von Dichtung und Malerei ist bei Baudelaire produktiv und geradezu konstitutiv für seine Poetik.12 Baudelaire stellt der abbildenden Photographie in seinen Gedichtsammlungen Les Fleurs du Mal und Le Spleen de Paris die verweisende Literatur entgegen. Was Literatur ausmacht, ist ihr Potential, im Synergieeffekt mit Malerei und Zeichnung einen dritten Ort zu schaffen, der jenseits ihrer selbst liegt. Hier ist der Ort der reine des facultés, der Imagination. Zu illustrieren ist das anhand des Gedichtes Le Portrait im Sonett-Zyklus Un fantôme aus den Fleurs du Mal.13 Der Zyklus besteht aus vier Sonetten, die die Titel Les Ténèbres, Le Parfum, Le Cadre und Le Portrait tragen und somit eigentlich schon durch die Titelwahl ihren Bezug zu Kunst- und Darstellungsdiskursen Baudelaires nahe legen. Le Portrait legt folglich – hinausgehend über die bisherigen Forschungen einen Deutungshorizont jenseits der Erlebnislyrik nahe. Das Gedicht ist vielmehr getragen von der ästhetischen Reflexion Baudelaires im Kontext des Salon de 1859 und von dem von Baudelaire diskutierten Paragone von Kunst (also Literatur und Malerei) einerseits und der ‚Nicht-Kunst‘ Photographie:

Le Portrait

La Maladie et la Mort font des cendres

De tout le feu qui pour nous flamboya.

De ces grands yeux si fervents et si tendres,

De cette bouche où mon coeur se noya,

De ces baisers puissants comme un dictame,

De ces transports plus vifs que des rayons,

Que reste-t-il ? C'est affreux, ô mon âme !

Rien qu'un dessin fort pâle, aux trois crayons,

Qui, comme moi, meurt dans la solitude,

Et que le Temps, injurieux vieillard,

Chaque jour frotte avec son aile rude…

Noir assassin de la Vie et de l'Art,

Tu ne tueras jamais dans ma mémoire

Celle qui fut mon plaisir et ma gloire !14

Le Portrait erscheint bei oberflächlich-inhaltistischer Lektüre zunächst als ein Vanitas-Gedicht aus dem 17. Jahrhundert: Krankheit und Tod verwandeln das Feuer in Asche, von diesen Augen, von diesem Mund, von diesen Küssen, von diesen Empfindungen der Leidenschaft wird nichts bleiben: „Que reste-t-il? C’est affreux, ô mon âme! / Rien qu’un dessin fort pâle, aux trois crayons.“ Eine ‚ganz blasse‘ Zeichnung, mit wenig differenzierten Strichen („aux trois crayons“) aufs Papier geworfen. Damit ist ein Bild aufgerufen, das umso deutlicher hervortritt, wenn man sich der ästhetischen Dimension der ersten beiden Quartette zuwendet und das Gedicht auch ‚hört‘ und ‚sieht‘. Das erste Quartett reimt im Kreuzreim „flamboya“ und „se noya“, das zweite Quartett „rayons“ und „crayons“: Der Maler, Zeichner und Stecher Goya im ersten Quartett klanglich, im zweiten Quartett spiegelverkehrt optisch (oya/ayo) angespielt. Mit Goya und Spiegel assoziiert Baudelaire hier die berühmte Radierung Hasta la muerte/Bis zum Tod – Nr. 55 aus Goyas Sammlung Los Caprichos (Madrid 1799).


Abb. 3: Francisco de Goya (1746–1828): Hasta la muerte. Capricho 55. 1799. Radierung. H. 2.15 cm; L. 1.5 cm. © Museo del Prado.

Die Sammlung von insgesamt 80 Zeichnungen war Baudelaire gut bekannt und er schätzte Goya außerordentlich als „grand artiste.“15 Die Assoziation des Goya-Gemäldes wird noch verstärkt durch das erste Terzett, in dem das lyrische Ich sich in der Zeichnung erkennt bzw. sich mit diesem vergleicht („un dessin fort pâle […] Qui, comme moi, meurt dans la solitude“), und in dem Goyas sich bespiegelnde, von Zeit und Vergänglichkeit gezeichnete Greisin isotopisch erscheint. Bei Baudelaire ist es die Zeit selbst, die als beleidigender Greis („injurieux vieillard“) mit rauem Flügel täglich Abriebspuren am lyrischen Ich bzw. an der Zeichnung hinterlässt („Chaque jour frotte avec son aile rude […]“). Trotzig hält das letzte Terzett diesem Befund entgegen: „Noir assassin de la Vie et de l’Art, / Tu ne tueras jamais dans ma mémoire / Celle qui fut mon plaisir et ma gloire!“ Während die Zeichnung der Zeit, diesem „noir assassin de la Vie et de l’Art“ zum Opfer fällt, wird „celle“, nämlich die dem lyrischen Ich Freude und Ruhm gewesene Imagination, die ihren Sitz im Gedächtnis hat („ma mémoire“), überleben. Die beiden Schlussverse reimen „mémoire“ und „gloire“, ein ruhmreicher Platz im kulturellen Gedächtnis steht am Ende des Gedichtes und widerlegt die eingangs topisch konstatierte vernichtende Macht des Todes. Das traditionsreiche Paragone-Argument des Nachruhms wird hier genutzt, um die Überlegenheit der synergetisch wirkenden, auf Imagination setzenden Künste Literatur und Zeichnung zu postulieren.

Konstitutiv sind bei Goya die Perspektiven der betrachtenden Distanznahme – Baudelaire verweist mit seinem Sonett auf eine Zeichnung, die ihrerseits mehr die Varietät von Sehe-Punkten auf ein Porträt und an ihm vorbei als das Porträt selbst ins Zentrum der Betrachtung stellt. Nicht nur die sich schmückende Greisin betrachtet sich, auch ihr Spiegelbild scheint seinerseits mit einem gewissen Eigenleben aus dem Spiegel heraus den betrachtenden Blick zu erwidern. Hinzu kommen die dritten Beobachtungsinstanzen, repräsentiert durch zwei junge Männer und eine Frau, die spottend den Blickkontakt mit der sich Spiegelnden meiden. Nicht zuletzt lässt die weiße Leerstelle im Spiegelbild imaginativen Platz für einen Betrachter, der der Greisin bei ihrer Selbstbespiegelung über die Schulter blickt – insofern sind auch wir als Rezipienten in unserer möglichen Position des betrachtend-gespiegelten Dritten im Bild Goyas auf Distanz präsent.

Das Sonett Le Portrait schließt somit unmittelbar an den kunstkritischen Essai Le Portrait an, bei dem die verhasste bürgerliche Seele das spiegelbildliche Gegenüber war und die Evidenz der Materialität behauptete – und der Baudelaire die reine des facultés, die Imagination entgegengesetzt hatte. Das Sonett zeichnet kein Porträt, deutet es allenfalls mit Augen und Mund an und es zeigt auch den Tod nicht, bildet ihn nicht ab. Je stärker er sich aufdrängt – im Sonett repräsentiert die scheinbare Evidenz der Gemeinplätze die scheinbare Evidenz seiner Materialität – desto vehementer setzt Baudelaire die Imagination und die Widerläufigkeit der nur scheinbar evidenten Perspektiven dagegen. Für Baudelaire geht es somit im Paragonediskurs nicht so sehr um den Wettstreit zwischen Literatur und Malerei, wichtiger sind ihm deren Koalitionsmöglichkeiten in Abgrenzung zur Photographie. Das schlagende Argument für Literatur und Zeichnung/Malerei ist – trotz aller massenbewegender Erfolge der Photographie – für ihn, dass diese Künste Grenzen des Darstellbaren nicht zu überschreiten suchen, sondern die Grenze suchen und zugunsten der Imagination an der Schwelle des Darstellbaren stehen bleiben. So endet auch sein berühmtes Gedicht Les Phares auf die Orientierung gebenden ‘Leuchttürme’ der Malerei mit den Worten: „Car c’est vraiment, Seigneur, le meilleur témoignage / Que nous puissions donner de notre dignité / Que cet ardent sanglot qui roule d’âge en âge / Et vient mourir au bord de votre éternité!“16 Gerade im Stehenbleiben an der Schwelle des Darstellbaren liegt für Baudelaire das Potential der ‚wahren‘, ‚eigentlichen‘ Kunst, die Ewigkeitshoffnung der modernen Flüchtigkeit, die die Photographie nur scheinbar erfüllt: dann reimt am Schluss – wie in Le Portrait – „mémoire“ auf „gloire“.

Baudelaire hat mit Goethe, Leopardi und Zola mindestens einen Standpunkt im Paragone-Diskurs gemeinsam: Das ‚Eigene‘ der Literatur wird dann diskussionswürdig, wenn das Literarische im Kontext kultureller Praktiken (Grand tour), künstlerischer Ausdrucksformen (naturalistische und impressionistische Avantgarde) oder Technologien (Daguerrotypie) Konkurrenz bekommt. Der Wettstreit der Künste stellt die Dichter vor die Herausforderung, die Grenzen und Möglichkeiten des Literarischen auszuloten und neu zu bestimmen: in Symbiose mit oder in Demarkation zu den anderen Künsten. Gestritten wird nicht immer laut: Es sind gerade die leise und subtiler vorgetragenen Argumente, die den Paragone nicht nur als literarischen Gegenstand, sondern auch in seinem ästhetischen Potential für die Literatur hervortreten lassen.

Theorien der Literatur VII

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