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3. Chroniken und Flugblätter

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Die Vorbildfunktion von Reuwichs Bildern wird etwa daran augenfällig, dass sein Krokodil noch in einer frühen deutschen Ausgabe von Sebastian Münsters Cosmographia, erschienen 1546 in Basel, als Illustration eines Abschnitts über Ägypten diente.1 Diese folgte auf die zwei Jahre zuvor erschienene lateinische Erstausgabe, die bekanntlich zu den enzyklopädischen Hauptwerken der Renaissance zählt. Sie führt die von Hartman Schedel modernisierte Tradition der Weltchronik fort und beinhaltet einen auf sechs Bücher verteilten chronologisch-geographischen Überblick der Weltgeschichte vom biblischen Schöpfungsbericht bis zur Gegenwart. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Zentraleuropa; nur die beiden letzten Bücher behandeln Asien, Afrika und Amerika.

Tiere spielen in Münsters geographisch orientiertem Werk eine untergeordnete, in ihrer teils sensationellen Charakterisierung jedoch nicht zu unterschätzende Rolle. Im Bereich der vertrauten Länder Mitteleuropas gilt das Interesse an Tieren vornehmlich dem Nutzwert. Je weiter der Text jedoch von seinem Entstehungsort fortführt, desto mehr Betonung liegt auf dem Befremdlichen und Sensationellen der Fauna. Im Niemandsland jenseits der Überprüfbarkeit orientierte sich Münster an den Überlieferungen der antiken Literatur. Die Bücher über Asien und Afrika geben hinsichtlich der Fauna meist Plinius und Strabo wieder; die Mitteilungen über Amerika beschränken sich auf Auszüge aus den Briefen Amerigo Vespuccis.2

Dass Reuwichs kleines Scheusal in frühen Ausgaben der Cosmographia zu sehen ist, ist erstaunlich, hatte Münster doch mit Rudolf Manuel Deutsch einen namhaften Künstler für die Illustrationen seines Buchs engagiert, der für die Erstausgabe auch ein Krokodilbild angefertigt hat. Deutschs Bild dürfte die erste naturnahe Darstellung eines Krokodils in der Druckgraphik sein. Das Tier stolziert, das Maul halb geöffnet, in Seitenansicht von links nach rechts durch eine steinige Uferlandschaft, die links unten an ein fließendes Gewässer grenzt. Wesentliche Merkmale von Krokodilen, so die kegelförmigen, teils über den Kiefer ragenden Zähne, die fünf Finger mit Krallen an den Händen sowie die Nackenspalte, sind für eine Identifikation der Ordnung ausreichend wiedergegeben.3 Gleichwohl weist die Darstellungen auch Unstimmigkeiten auf, insbesondere den zu klein geratenen Kopf, der wie ein entfleischter Schädel aussieht; womöglich hat sich Deutsch an einem Präparat in entsprechendem Zustand orientiert. Für ein Präparat als Vorlage spricht bei diesem Bild – ebenso wie bei den meisten folgenden – im Übrigen die für Krokodile ungewöhnliche Stellung der Extremitäten, da Krokodile meist mit seitlich abgewinkelten Extremitäten liegen, während eines ihrer seltenen Läufe hingegen schwierig zu beobachten sind.

Das Bild illustriert einen Textabschnitt über die antike ägyptische Stadt Arsinoe, den Münster hauptsächlich aus Strabons Geographie übernommen hat. Dort habe es einen Kult gegeben, bei dem ein als heilig geltendes Krokodil von Priestern mit Opferspeisen gefüttert worden sei. Es folgt ein Abriss über Verhalten und Merkmale der Tiere, der u.a. die Frage aufwirft, ob Krokodile eine Zunge haben oder nicht, auf das wundersame Wachstum der Tiere hinweist, die aus kleinen Eiern schlüpften, und die Gefährlichkeit der Krokodile andeutet. Auch Münster erwähnt im Übrigen Krokodilstränen, deutet sie aber nicht moralisch, sondern bezeichnet sie als sprichwörtlich.4

Münsters Verzicht auf eine christlich-moralische Gleichung ist programmatisch für die Cosmographia: Zwar legitimierte auch Münster seine Studien mit der seit den mittelalterlichen Enzyklopädien topischen Motivation, im Studium der Dinge die Weisheit Gottes zu entziffern.5 Ihm war allerdings weniger an einem theologisch begründeten Weltbild und einer auf die Endzeit hinweisenden Historiographie gelegen; die Cosmographia profanisierte Wissen, wie Detlef Haberland ausführte, um der Gelehrtenwelt der Renaissance ein Handbuch der Staaten und sozialen Systeme, kulturhistorischen Entwicklungen und naturgeschichtlichen Besonderheiten bereitzustellen. Sie stellt damit einen „Paradigmenwechsel von größtem Ausmaß“ und gewissermaßen einen Endpunkt der Chroniktradition dar, an deren Stelle im 16. Jahrhundert bereits die Spezialisierung auf einzelne Bereiche der Naturkunde tritt.6

Für diese war auch der Rang der Bilder von zentraler Bedeutung. Bereits die mittelalterlichen Enzyklopädien waren in illuminierten Prachtausgaben erschienen, doch erst die Druckgraphik hatte zu einer Verbreitung illustrierter Bücher jenseits der höchsten gesellschaftlichen Eliten geführt.7 Entgegen einer im Mittelalter dominierenden Skepsis am Erkenntniswert konkreter Abbildungen, die insbesondere von Augustinus formuliert worden war, hatte in epistemologischer Hinsicht bereits Schedel Bilder als genuine Informationsmedien hervorgehoben.8


Abb. 1: Flugblatt mit der Darstellung eines Nilkrokodils

Den Holzschnitten in der beinahe durchgehend illustrierten Cosmographia kommt Mathew McLean zufolge über einen illustrativen ein ordnender Wert zu, denn ihr Layout unterteilt und betont einzelne Textstellen. Zugleich steigerte die dichte und teils hochwertige Bebilderung die Attraktivität der Publikation.9 Nicht zufällig sind dabei Exoten wie das Krokodil in größerem Format hervorgehoben, galt ihnen doch ein seit der Entdeckung Amerikas gesteigertes Interesse in der europäischen Gelehrtenwelt. Münsters Kompilation antiker Texte über Krokodile ist insofern programmatisch, als die frühneuzeitliche Naturkunde auf die Herausforderung der neuen oder zumindest seit der Antike nicht mehr in Europa gesehenen Arten mit der Auswertung der antiken Literatur reagierte; die Texte des Altertums, nicht die moralisierenden Deutungen des Mittelalters, bildeten die methodische Grundlage der neuzeitlichen Naturgeschichte. Deren weiterhin bestehende theologische Verpflichtung wird aus dem Beibehalten jenes Providentia-Topos ersichtlich, der die Erforschung der Natur als Weg zur Erkenntnis der Weisheit Gottes preist. Münsters Bemühungen, akkurate Bilder von besonders bizarr geformten Tieren wie Deutschs Krokodil, aber auch eine Kopie nach dem berühmten Rhinozeros von Albrecht Dürer in den Text einzufügen, scheint auf eine charakteristische Einstellung dieses Topos in der Frühen Neuzeit zu reagieren, der zufolge das Wirken der Natur bzw. der göttlichen Schöpfung in ihren ungewöhnlichen Ausformungen besonders deutlich zu erkennen sei; wie Lorraine Daston aufzeigte, bildete diese – mit „Neugierde“ unzureichend übersetzte – curiositas gleichsam den Nukleus der frühneuzeitlichen Epistemologie.10

Mit der technischen Reproduzierbarkeit der Druckgraphik setzte eine regelrechte Kaskade von naturkundlichen Darstellungen ein. Einzelne Bilder wie Dürers Rhinozeros wurden über Jahrhunderte kopiert und fanden selbst noch in Publikationen Verwendung, die sich mit dem Tier durchaus nicht befassen, sondern mit seinem hohen Wiedererkennungswert nur mehr eine generelle Exotik markieren.11 Diese Entwicklung betraf die Wissenszirkulation in der Sphäre der Gelehrtenwelt ebenso wie im populären Bereich, wo einzelne Bilder in Flugschriften und Einblattdrucken verbreitet wurden.

Deutschs Krokodil etwa diente 1564 als Vorlage für eine Reihe von Flugblättern, die das Bild in diversen Variationen in einen neuen Kontext setzen.12 Ein in Straßburg gedrucktes Exemplar zeigt das Bild in der charakteristischen Anordnung zeitgenössischer Flugblätter – das Bild wird also zwischen eine ausführliche, von Reizwörtern geprägte Überschrift und einen erläuternden Text gesetzt – doch bei der insgesamt erkennbaren Orientierung an der Vorlage irritiert auf dem Blatt der median nach oben gerollte Schwanz des Krokodils (Abb. 1); im Übrigen wurde die landschaftliche Einfassung auf einen Hügel reduziert. In der für Sensationsnachrichten typischen Betonung einer authentischen Darstellung des Unglaublichen verschärft die Überschrift den Appellcharakter des Layouts:13 „Warhafftige Beschreibung eines grausamen erschröcklichen grossen Wurms/wölcher zu Lybia in Türckey/an der babylonischen Gräntzen wunderbarlicher weiß gefangen und umbbracht worden ist/der da in Latein Crocodili/und auff Teütsch Lindwurm genennet würt.“

Damit ist ein Teaser für die im Text anschließende Geschichte gesetzt, die denn auch eine Drachentötermär im Ambiente eines Orientalismus avant la lettre bietet. Sie beschreibt das furchtbare Treiben eines Krokodilpaars, das zwei Jahre lang Land und Menschen bei der Stadt „Libia“ terrorisiert habe. Auftritt dann ein Christ in türkischer Gefangenschaft, der sich vom Fang der Tiere seine Freiheit verspricht und sich, nachdem er die Hilfe Gottes erfleht hat, auf die Jagd macht. Er baut eine Falle, die List geht auf, Männchen und Weibchen fallen in die Grube, wo beide 30 Tage lang unter wildem Geschrei vegetieren; das Geschrei der Krokodile sei so schrecklich gewesen, dass es in der nahgelegenen Stadt eine Welle von Fehlgeburten ausgelöst habe. Der Held hingegen hat nun nicht nur seine Freiheit errungen, sondern wird gefeiert und belohnt. Abschließend wird die Hilfe des allmächtigen Gottes gepriesen und der Text nimmt eine Wendung: Der Verfasser gibt in der ersten Person an, er selbst habe „in Libia“ seinem Helden eines der Krokodile abgekauft und wolle nun die Kenntnis der Geschichte einer breiten Öffentlichkeit nicht vorenthalten.

Das einzig erhaltene Exemplar dieses Flugblatts beinhaltet eine handschriftliche Notiz: „Vidi Rostochij, war achzehen II Schuh lang. Hat 66 Zenen“. Wolfgang Harms vermutete wegen dieser Eintragung sowie des reißerischen Texts, dass das Flugblatt als Souvenir eines fahrenden Schaustellers angefertigt wurde, der ein Krokodilpräparat im deutschsprachigen Raum vorführte.14 Das Präparat könnte Ingrid Faust zufolge stark manipuliert worden sein und so als Orientierung für den Holzschneider gedient haben, das Tier mit gerolltem Schwanz darzustellen.15

Bild und Text des Flugblatts tragen somit dazu bei, Kenntnisse über Krokodile neuerlich zu verunklären. Zur Hochzeit der sogenannten Türkengefahr – nach der ersten Belagerung Wiens 1529 – scheint der Text nicht zufällig eine Drachentötung durch eine christlichen Helden im osmanischen Raum zu beschreiben und damit eine etablierte Erzählform des Kampfs gegen das Heidentum zu aktivieren, zumal die Überschrift mit der Übersetzung von Krokodil als Lindwurm deutlich die mittelalterliche Gleichung von Krokodilen und Drachen aufleben lässt; bereits Münster hatte jedoch zwischen beiden unterschieden.16 Dem Text des Flugblatts entspricht die bildliche Verzerrung des Krokodils durch den gerollten Schwanz, der Deutschs Bild mit jenem Reuwichs zu verbinden scheint.

Theorien der Literatur VII

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