Читать книгу Identitäten - Dialoge im Deutschunterricht - Группа авторов - Страница 12
ОглавлениеFAILURE IS NOT AN OPTION
Oder: Von Anfang an auf Scheitern eingestellt
Ilija Trojanow
Ein Mann auf einem Schiff.
Ein weiterer Mann. Und dessen Ehefrau.
Der eine Mann ist Librettist, der Verheiratete Komponist.
Die drei sind auf Weltreise.
Wenn das Kreuzfahrtschiff in New York anlegt, müssen Librettist und Komponist ein
Musical fertiggeschrieben haben.
Sie hatten eine Weltreise Zeit dafür.
Es bleiben ihnen noch einige Tage auf hoher See.
Ihnen fehlt nur noch eine letzte Nummer, ein Schlager, ein Lied, das um die Welt gehen
könnte.
Die meisten Projekte zerschellen an den Herkulessäulen des Anfangs. Bevor der erste Satz, die erste Skizze, der erste Entwurf hingekritzelt worden ist, thront eine Neontafel mit dem Spruch QUO VADIS über allen Absichten. Kaum ist der Anfang gemacht, schon nach dem ersten Augenaufschlagen der Geschichte, spürt man ihren Wellengang. Hinter den entzifferbaren Wellen erscheint der Ozean endlos und ewiggleich. Genau das verunsichert uns.
Der Komponist hat sich in den Librettisten verliebt.
Er bildet sich ein, seine Frau ahne nichts davon.
Sie haben bislang eine glückliche Weltreise verlebt.
Auf dem Kreuzfahrtschiff toben sich Sehnsüchte aus.
Er hat sich in die zartgliedrigen Finger verliebt.
Der Librettist verfasst immerfort Entwürfe.
Sein Füllfederhalter streicht mit grüner Tinte über das Papier.
Wenn sie zu dritt im Salon sitzen, drängt es den Komponisten,
den Librettisten zum Tanz einzuladen.
Der Beginn ist die Hälfte des Ganzen. Pythagoras paukte diesen Sinnspruch seinen Schülern ein. Aristoteles wiederholte die Weisheit. Platon suchte sie zu variieren: Der Beginn ist der wichtigste Teil der Arbeit. Horaz schliff den Edelstein um: Wer beginnt, der hat schon halbvollendet. Dichter und Denker sind sich über Epochen hinweg einig, unabhängig von ihrer Weltanschauung: Aller Anfang ist schwer, aber hat man ihn vollbracht, ist der Rest reine Beharrlichkeit. Allein Geheimrat Goethe opponierte: Aller Anfang ist leicht und die letzten Stufen werden am seltensten erstiegen. Mit dem Anfang haben wir uns festgelegt (und damit dem Scheitern Tür und Tor geöffnet), der Verdacht nagt an uns, ob diese Entscheidung die richtige war. Wäre ein Tag früher nicht der bessere Einstieg gewesen? In der Kajüte statt auf dem Außendeck? Ist die Liebe zwischen ihm und ihr wirklich schon erloschen? Fliegen Sturmvögel vorbei oder ein einzelner Albatros? Wer seinen eigenen Beginn übermäßig unter die Lupe nimmt, verunsichert sich heillos. Wir müssen losgehen, müssen abbiegen, umdrehen, aufsteigen und hinabrutschen, und doch sehnen wir uns bei jeder Entscheidung nach der Freiheit der unbeschränkten Wahl. Die Erregung ist spürbar. Wellen walzen heran, alles Wasser ist in Bewegung. Die Gischt spritzt hoch, bis zur Brücke hinauf. Das Schiff fällt in tiefe Täler, richtet sich ächzend auf. Fall um Fall. Auf dem rutschigen Außendeck stehen zwei einsame Gestalten. Der eine ist der Librettist, der andere der Komponist. Sie berühren sich an Schultern und Hüften, der schneidende Wind rechtfertigt es. Der Komponist hat seine Hände in den Seitentaschen seiner Felljacke vergraben. Wie wäre es hiermit, sagt der Librettist und drückt ihm eine beschriftete Serviette in die Hand.
„Weit ist der Weg nach Montevideo
niemals hätt’ ich dort Halt gemacht,
wenn nicht ein Mädchen in Rio,
oder war’s in Santiago,
mir zum Lohne einen zweiten
Kuss versprochen hätt’.“
Das Schiff stürzt in die nächste Tiefe und arbeitet sich mühsam wieder empor. Der Komponist zündet sich eine Zigarette an und wirft das erloschene Streichholz weg. Ein Satz geht ihm durch den Kopf, den er nicht zuordnen kann: In jedem Anfang liegt die Ewigkeit. Er spricht ihn aus, zweimal, um sich gegen den Wind verständlich zu machen. Das ist alles, was wir tun können, erwidert der Librettist, immer wieder von Neuem anfangen, immer und immer wieder.
Die ersten Blutspritzer auf der Leinwand. Das klingt nicht nach viel und ist doch beachtlich, denn wir könnten auch schweigen. Das Verstummen wird gemeinhin als das größte Scheitern eines Schriftstellers angesehen („er hat nur diesen einen Roman verfasst“; „nach diesem Meisterwerk hatte er sein Pulver verschossen“). Anders betrachtet könnte das Schweigen als höchste Ebene einer geistigen Entwicklung gelten. Als Weisheitsakt. Der Autor hat das Recht, würdevoll zu verstummen, ohne dass ihm dies einen negativen Eintrag ins Zeugnis einbringt. Anders gesagt: Hölderlin und Rimbaud haben sich von den prometheischen Fesseln ins Schweigen befreit. Und dafür (zumindest im Falle Hölderlins) mit dem Verstand bezahlt. Trotzdem, seitdem müssen wir beim Schreiben immer wieder die Alternative des Verzichts mitdenken.
Am nächsten Abend stellt der Bandleader den Passagieren einen unbekannten Tanz vor, einen 4/4-Takt, der schwingt, aber nicht hechelt. Der Fagottist führt den Tanz vor, mit der Sängerin des Orchesters. Das Publikum applaudiert, als wäre das Pferd, auf das sie alle gesetzt haben, soeben als Sieger durchs Ziel gelaufen. Dieser Tanz stammt von den Kleinen Antillen, erklärt der Bandleader. Stellen Sie sich vor, Afrika wirbelt mit Frankreich über die Tanzfläche. Ein großer Hit in Paris, neulich, bei der Kolonialausstellung. – Und der Name, woher kommt dieser merkwürdige Name, fragt der Komponist in Tischlautstärke. Aus dem Französischen, s’ embéguiner, antwortet der Librettist. Was das wohl bedeuten mag? – Flirten, um jemanden werben. – Mein Lieber, der Komponist legt seine Hand augenfällig auf die elegante Hand des Librettisten, Du bist so umwerfend bewandert. – Und nun, ruft der Bandleader aus, beginnen wir den Beguine. – Ich glaube, ich bin entflammt, sagt der Komponist, ohne seine Hand zurückzuziehen, für diesen Beguine. – Und ich fürchte, sagt der Librettist, seinen Stuhl zurückschiebend, dass du den Text zu diesem Lied leider selbst schreiben musst. Das Orchester spielt einen zweiten Beguine, als sich die Ehefrau des Komponisten über den Tisch beugt: Es wäre mir lieber, ich wäre nicht anwesend, wenn du dich verliebst. Wovon handelt alle Literatur, wenn nicht vom Scheitern? Erlebtes, Erfahrenes, beobachtetes Scheitern lässt einen zur Feder greifen. Was bedeutet es für einen Autor, für die Literatur, dass er beim Abbilden von Scheitern zu scheitern fürchten muss – was ist das für eine Achterbahnfahrt von Einbrüchen und Ermutigungen, von Ekstasen und Untergängen? Das Scheitern auf dem Papier und das Scheitern im Leben – viele verworrene und verwirrende Zusammenhänge. Irgendwann steht etwas auf dem Papier, man glaubt sich am Ende, und doch ist dies nur ein Anfang unter vielen weiteren Anfängen: Premieren, Uraufführungen, Vernissagen; die ersten Zuhörer, die ersten Leser, die ersten Kritiker; der erste Wettbewerb, das erste Mal im Fernsehen, die erste öffentliche Schelte; der erste Nachdruck, die erste Wiederaufnahme, die erste Übersetzung. Und bei jedem dieser Anfänge gehen die Keime der eigenen Ängste auf, weil man sich unvollständig verstanden oder völlig missverstanden wähnt, und so sehr man das Versäumnis dem Lesenden und Urteilenden in die Schuhe schieben mag, so sehr richtet sich der ehrliche Finger der einsamen Selbstbetrachtung vorwurfsvoll auf einen selbst. Denn seit Anbeginn der Moderne bewohnt der Autor die Grauzone zwischen Allgemeinplatz und Noch-Nie-Gesagtem, und in diesem beworteten Erewhon sind Wetterumschläge gang und gebe. Man muss scheitern, solange man sich einredet, einen Text schreiben zu können, der nicht im Sumpf des beliebigen Verstehens versinkt. Ohne diese Ambition lässt sich aber schwer schreiben.
Wenige Wochen später, am Broadway, wird unter Hochdruck geprobt. Der Librettist, zusammengesunken auf einem Sitz in der achten Reihe des leeren Auditoriums, kaut unentwegt Kaugummi; er kommt gegen seine Sorgen nicht an. Er ist um zehn Kilo leichter geworden. Gleich ist die Tanznummer dran. Das Lied, das um die Welt gehen soll. 108 traurig-fröhliche Takte. Es muss in Dur sein, hat ihm der Komponist ungefragt erklärt, trotz des sehnsuchtsvollen Textes. Die Struktur ist komplex – AA‘BA“CC‘ mit einer achttaktigen Coda. Die Worte sind gelungen, eine kleine Erzählung aus Licht und Schatten. Doch am besten gefällt dem Librettisten der verblüffende Titel. Allemal besser als der einfallslose Name ihres Musicals: Jubilee. Es kommt, wie er es befürchtet hat: Die Kritiker rümpfen die Nase. Die bebrillte Languste vom TIME Magazine schreibt: „Wenn ‚Jubilee‘ sich abmüht, ohrgefällig zu sein oder gar Lachen herauszukitzeln, vermag es nicht zu überzeugen.“ Diese und andere launige Kritiken leisten dem Komponisten, dem Librettisten und dem Produzenten am Sonntagmorgen Gesellschaft. Du denkst, es sei einfach, aber nichts ist einfach, bemerkt der Produzent, und sie wissen nicht, worauf er sich bezieht. Never matter, sagt der Librettist und zitiert einen irischen Freund: try again, fail again, fail better. Und der Komponist? Er schenkt sich Orangensaft nach.
Als hätte er geahnt, dass dreißig Jahre nachdem dieses Lied bei der Premiere sang- und klanglos untergegangen ist, die Amerikanische Gesellschaft der Komponisten, Autoren und Verleger Begin the Beguine zu einem der 16 bedeutendsten Songs aller Zeiten wählen wird. Mit über tausend Coverfassungen zählt er zu den meistgespielten Evergreens. Um Scheitern zu beweisen, benötigt man Scheinwerfer, grelle Lichter aus dem Stadion des Gelingens, der eines Tages zu einer Ruine verfallen sein wird, anstelle der einstigen Kategorien nur noch Maulwurfhügel. Das ist eine unangenehme Vorstellung, nicht zuletzt für die Literaturwissenschaftler, weshalb dem Scheitern, obwohl als literarisches Phänomen so zentral, in Sekundärbetrachtungen so wenig Beachtung geschenkt wird. Das Scheitern als immanentes Bestandteil aller Kreativität zu akzeptieren heißt auch, die Dogmen des Zeitgeistes in Frage zu stellen, die Vergänglichkeit des eigenen Urteils anzuerkennen.
Dieser Text ist ein Versuch, ein Essay. Wieso lieben Autoren Versuche, auch wenn die meisten Leser sie verschmähen? Weil sie das Abtasten zum erzählerischen Prinzip erheben und die eigene Unsicherheit als Lupe einsetzen; mit anderen Worten, weil sie sich im Flatterlicht des Scheiterns vollziehen.
Es gibt kein Gelingen und kein Scheitern, es gibt nur ein Werden.