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4. Wie verhält sich die Didaktik des Dialogs zu bildungspolitischen Zielsetzungen? Zur Reichweite des Dialogprinzips
ОглавлениеDer hier verfolgte Ansatz ist verbunden mit den Zielsetzungen der Interkulturellen Bildungsforschung – die damit zugleich auch fortentwickelt werden, indem Komponenten der Mehrsprachigkeitsforschung, der Kommunikations- und Dialogforschung, der Interkulturellen Literaturwissenschaft mit und in der Spracharbeit verbunden werden. Auf diese Weise kann zugleich möglichen Formen struktureller Benachteiligung im Bildungssystem direkt entgegengewirkt (vgl. Auernheimer 2004, Wintersteiner 2007) und der Blick auf die Förderung individueller Talente und Stärken gerichtet werden. Der Transdifferenzansatz bringt mit sich, dass Bildungssysteme von authentischer Multikulturalität und natürlicher Mehrsprachigkeit ausgehen sollten. Interkulturelle Bildung und damit auch Dialogfähigkeit wird oft unter der Annahme behandelt, dass Lerner fremdsprachen- und fremdkulturunerfahren seien, was aber heute so nicht mehr zutrifft (vgl. die demographische Entwicklung zu wachsenden Anteilen von Menschen mit Migrationshintergrund, Globalisierung der Medien). Lerner und Lehrkräfte leben heute zunehmend unter interkulturellen und multikollektiven und daher mehrsprachigen Bedingungen, die allerdings von den Betroffenen wohl der Tendenz nach ebenso oft positiv wie negativ bewertet werden. Mehrkulturalität und Mehrsprachigkeit sollten daher als konstitutive Grundbedingungen der Lehrpläne behandelt werden und auf Einsprachigkeit ausgerichtete Bildungsnormen ablösen.
Wenn Vielfalt mit anderen Worten konstitutiv ist für Gesellschaften, dann ist sie in den Bildungssystemen zu berücksichtigen und kann zu einem Motor des Lernens werden.
Ausdrücklich ist der Band für mehrere Adressaten konzipiert, namentlich für Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler mit ihren Freundinnen und Freunden, Eltern und anderen Bezugspersonen. Damit werden übliche Grenzziehungen des Unterrichts und entsprechende Textsorten der Lehrwerke und Lehrerhandreichungen aufgehoben. Dies bildet sich bewusst auch in der grafischen Gestaltung des vorliegenden Bandes ab.
Dialogfähigkeit kann nicht abstrakt vermittelt werden, ohne sie zugleich zu praktizieren. Es handelt sich daher nicht allein um einen Lerninhalt, sondern auch um eine Lernform, die sich damit selbstverständlich zugleich auf die verschiedenen Kommunikationsdomänen in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen beziehen muss. Das betrifft insbesondere
den Austausch unter Schülerinnen und Schülern im Unterricht und außerhalb des Klassenraums,
das Unterrichtsgespräch zwischen Lehrkraft und Schülerinnen und Schülern,
die Kommunikation außerhalb des Unterrichts zwischen Lehrkraft und Schülerinnen und Schülern,
die Kommunikation zwischen Lehrkraft und Eltern beziehungsweise Bezugspersonen,
die Kommunikation mit den Institutionen (Schulleitungen, Lehrplänen, Bildungsbehörden, Verlagen) und
die Verständigung in der Gesellschaft.
Es geht in diesem Buch deswegen darum, zu ergründen, darzustellen und zu praktizieren, wie sich unsere Wahrnehmungen der Welt durch Neues, Anderes und Fremdes ständig verändern und damit zu ständigen Assimilations- und Akkommodationsprozessen des Wissens im Sinn von Jean Piaget führen, in dem auch „alte“ Wissensbestände neben neuen bestehen und mit diesen interagieren können.
Eigentlich handelt es sich dabei gar nicht um ungewöhnliche Prozesse, nur werden sie bisher wenig berücksichtigt. Dass wir lernen, zeigt, wie die Prozesse funktionieren. Dass wir alle zumindest in einer Sprache mehrsprachig sind, zeigt, dass wir unterschiedliche Weltsichten und Linguakulturen nebeneinander organisieren können und dass zwischen ihnen Verbindungen bestehen (vgl. Roche 2013). Diese ‚innere Mehrsprachigkeit’ des Menschen (vgl. Wandruszka 1979) ist oft behandelt worden. Sie setzt sich fort und potenziert sich, wenn wir fremde Sprachen und ihre dialektalen, diastratischen, diachronen und andere Varietäten lernen. In den folgenden Kapiteln und den weiteren Bänden sind also Texte versammelt, die diese Mehrsprachigkeit in besonderer Weise, manchmal auch auf biografische Ursachen zurückführend, thematisieren, ausdrücken und damit zur Verständigung, zum Dialog, darüber einladen.