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Literatur und Bildende Kunst
ОглавлениеEs war ein glückliches Schicksal, dass ich Anfang der achtziger Jahre als junge Frau und Autorin mit einem Bildenden Künstler zusammenkam. Natürlich lag es da nahe, nicht nur die Liebe und das Leben miteinander zu teilen und zu verbinden, sondern auch in unseren künstlerischen Arbeiten gemeinsam zu wirken und diese Arbeiten miteinander zu präsentieren. Wir waren schon ein besonderes Paar.
Nicht nur, dass wir aus unterschiedlichen Generationen stammten, 20 Jahre Altersunterschied lagen zwischen uns, auch kamen wir aus verschiedenen Kulturkreisen und trugen die Prägungen unserer Herkünfte mit uns. 1960 in Istanbul geboren, mit drei Jahren nach Deutschland gekommen, wuchs ich selbst in zwei Kulturen auf. Doch hatte ich mich schon seit Beginn meines Schreibens für die deutsche Sprache entschieden.
Jürgen Walter, 1940 in Frankfurt am Main geboren, war ein Kriegskind und geprägt von der Nachkriegszeit. All dies hatten wir in unserem glücklich gefüllten gemeinsamen Lebenskoffer. Eine lange, aufregende und wunderbare Lebensreise hatte begonnen. Neben unserer großen Liebe zueinander war die gemeinsame Arbeit in der Kunst uns immer ein starkes verbindendes Band. Über dreißig Jahre lang habe ich Texte zu Bildern und Skulpturen von Jürgen Walter geschrieben. Gedichte und Prosaminiaturen.
Das fertige Objekt betrachtend, habe ich mir ein eigenes Bild zum Thema oder zum Inhalt des Kunstwerkes gemacht. So dachte ich mir eine Geschichte dazu aus, ein Gedicht oder eine Art WORTBILD entstand dazu. Das Bild oder die Skulptur für sich betrachtend erzählte etwas Eigenes. Der Text dazu war alleine gelesen ebenfalls eine eigene Geschichte. Doch beides zusammengetan erschuf eine neue, nochmals ganz besondere andere Welt.
Sich in ein Bild zu vertiefen und hinein zu geraten, um darin mitzuspielen oder in der Phantasie und gedanklich um es herum zu spazieren. Geistig darin herumzuwühlen und etwas ausgraben, was gar nicht vordergründig zu sehen ist. Das ist eine ganz andere Art, sich der Bildenden Kunst anzunähern: eine Weile darin mitzuleben. Dem Bild eine eigene Geschichte zu geben. Einen Text zu schreiben.
Diese wertvolle und schöne Erfahrung möchte ich in Schreibwerkstätten an den Schulen weitergeben. Die Schüler können mit diesem anderen Zugang zur internationalen Bildenden Kunst und mit ihren Schreibversuchen dazu ein Experiment begehen. Sie haben somit die Möglichkeit, mit ihren aus der eigenen Phantasie heraus in eigene Worte gepackten Texten sich selbst als Autor zu erfahren.
Die Schüler erhalten und verwenden für die Schreibwerkstattarbeit entweder vom Lehrer ausgesuchte Postkarten oder aus dem Internet selbst herausgesuchte und ausgedruckte Abbildungen von Malern oder Bildhauern aus möglichst unterschiedlichen Zeiten und mit verschiedenen Stilrichtungen. Diese Motive sollen die Phantasie anregen, um eine Geschichte dazu zu erfinden oder ein Gedicht zu schreiben. Der Text darf eine, aber sollte keine pure Bildbeschreibung sein. Das Bild dient als Tür und Fensteröffner in die eigene Phantasiewelt. Die Schüler können auch in kleinen Zweier- oder Dreiergruppen gemeinsam an einem Text arbeiten.
1. Stunde: Auswahl der Bildmotive
Beispiel 1: Abbildung des Gemäldes von Edward Hopper mit dem Titel „Morning sun“ von 1952.
Das Bild betrachten
Zu sehen ist die Seitenansicht einer Frau. Sie sitzt auf einem Bett vor einem großen Fenster. Draußen ist ein Teil des letzten Stockwerkes und des Daches eines ziegelroten Gebäudes und blauer Himmel zu sehen. Das Bild zeigt einen Ausschnitt eines kargen Raumes. Schlafzimmer, Hotelzimmer? Viel Licht viel Schatten. Die Frau schaut traurig, nachdenklich hinaus. Sie sitzt, ihre Arme um die aufgesetzten Beine geschlungen, mitten im Sonnenlicht. Sie trägt ein ärmelloses leichtes rosa Kleid oder Nachthemd. Das strahlend weiße glatt bezogene Bett, das Kissen und die Frisur der Frau sehen nicht so aus, als hätte sie darauf geschlafen. Überwiegend Pastelltöne.
Wir dürfen phantasieren
Was könnte geschehen sein? Was hat diese Frau gerade gemacht, bevor sie sich auf das Bett in die Morgensonne setzte? Was denkt sie gerade? Was hat sie erlebt? Etwas Trauriges wie eine Trennung? Oder ist sie nur noch nicht müde von einer langen erlebnisreichen Nacht? Kam
sie gerade von einer Nachtschicht nach Hause? Wartet sie auf jemanden? Oder hat sie soeben jemanden weggeschickt? Sitzt sie etwa verzweifelt schlaflos in einem Hotelzimmer? So viel kann geschehen sein, vielleicht ist es aber auch nur ein sonniger Morgen und sie hat für sich eine wichtige Entscheidung getroffen. Alle möglichen Situationen dürfen durchgedacht, durchgespielt und geschrieben werden.