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1. Was ist unter ‚Dialog’ zu verstehen? Begriff, Theorien, Konzepte
ОглавлениеDiesem Begriff haftet in der alltäglichen Wahrnehmung häufig etwas Abgehobenes an. Denn wer führt schon einen ‚Dialog’ innerhalb der Familie, mit Freunden, Nachbarn, Verkaufspersonal, Behörden oder im Berufsleben? Eher sind in alltäglichen und beruflichen Kommunikationssituationen das ‚Gespräch’, die ‚Besprechung’, das ‚Meeting’, die ‚Diskussion’, der ‚Small Talk’, allenfalls die inzwischen etwas altmodisch anmutende ‚Konversation’ als typische Textsorten anzutreffen.
In politischen Kontexten, in Forschung und Wissenschaft ist ‚Dialog’ ein Begriff, der mit einer Reihe von
unterschiedlichen, unter Umständen konträren theoretischen Positionen (zum Beispiel als politisches Instrument der Konfliktlösung oder als Mittel in der Wissensvermittlung)
variablen Auffassungen von universellen Aspekten und von kultureller Vielfalt („Dialog der Kulturen“)
differierenden praktischen Anwendungsfeldern der Verständigung und Mediation
verbunden sein kann.
Über Jahrhunderte war es die Philosophie, in der der ‚Dialog’ seine grundlegende wissenschaftliche Verortung fand. Dabei verdeutlicht schon ein kursorischer Blick auf die Begriffsgeschichte die Breite seines Spektrums unterschiedlicher Auffassungen.
So ist in der Antike und im Mittelalter ‚Dialog’ in erster Linie eine wichtige Form des mündlichen und schriftlichen Erkenntnisgewinns, das heißt eine dialogisch ausgestaltete Textgattung, in der Erkenntnis im Austausch erzielt wurde. Sie erlaubte es, unterschiedliche Positionen gegeneinander abzuwägen. Der sokratisch-philosophische Dialog etwa kann als „praktizierte Form der Wahrheitssuche und Wissensbildung“ beschrieben werden (Schlaeger 1996: 421ff.).
Ganz anders wird demgegenüber im 17. Jahrhundert mit René Descartes’ prinzipieller Unterscheidung zwischen der ‚denkenden’ und der ‚ausgedehnten’ Substanz (oder auch zwischen ‚Geist’ und ‚Körper’) und mit seiner Auffassung des ‚cogito ergo sum’ (‚ich denke, also bin ich’) das Denken im für sich raisonnierenden Subjekt begründet. Damit wird der andere Mensch „als Redepartner allenfalls in rhetorischer, für die Wahrheitssuche subsidiären Form“ benötigt (Schlaeger 1996: 421ff.). Ja, sogar die Erkenntnis eines anderen Menschen überhaupt – im äußerlich wahrnehmbaren Körper – als „ein anderes denkendes Ich“ wird auf einen Analogieschluss gegründet, also der Annahme des Bestehens von Ähnlichkeiten von eigenem und fremdem Ich (vgl. Heinrichs 1972: 226). Nur aufgrund der hypothetischen Unterstellung, der Andere denke wie man selbst, kann man ihn Descartes zufolge überhaupt erkennen und sich mit ihm verständigen. Der Dialog tritt hier in seiner Bedeutung also in den Hintergrund beziehungsweise wird als „ein stiller Dialog der Seele mit sich selbst“ verstanden. Dies ist eine Auffassung, die aber auch schon in der Antike bei Platon anzutreffen war (vgl. Meyer 2006: 8).
Für die Dialogphilosophie des 20. Jahrhunderts geht es in Anlehnung an Martin Buber um
„ein Gespräch, das durch wechselseitige Mitteilung zu einem interpersonalen ‚Zwischen’, das heißt zu einem den Partnern gemeinsamen Sinnbestand führt“ (Heinrichs 1972: 226). Hier wird von einer Form gesprochen, „die das Miteinander der Wahrheitssuche vor die Vernunft des Einzel-Ichs stellt, für die Wissensbildung ein unabschließbarer kommunikativer Vollzug und nicht die Entfaltung eines Denksystems nach ehernen logischen Gesetzen“ ist. (Schlaeger 1996: 421ff.)
In der Tradition von Bubers Grundausrichtung der Dialogphilosophie steht im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts die dialogische Hermeneutik Hans-Georg Gadamers mit der besonderen Berücksichtigung von Prozessen des Verstehens und angemessenen Deutens. Später nimmt sich, vor allem in Bezug auf die Interkulturelle Kommunikation, die Interkulturelle Literaturwissenschaft und die Interkulturelle Sprachdidaktik, auch die Interkulturelle Hermeneutik, dieser Problematik an, indem sie das „Fremdverstehen“ als einen dialektischen Prozess zwischen Kulturen zu fassen versucht, statt ihn als historischen Prozess wie in der Hermeneutik zu betrachten. Es geht dabei, wie Charles Taylor (1992) es im Anschluss an Gadamer nennt, um eine Horizontverschmelzung („fusion of horizons“) aus eigenen und fremden Horizontkomponenten. In diesem Prozess bilden sich modifizierte Positionen der Wahrnehmung des Eigenen durch das Fremde und der Wahrnehmung des Fremden durch das Eigene. Die daraus entstehenden Positionen sind gesellschaftlichen Normen, individuellen Dispositionen und der Interaktion aus beiden geschuldet. Begriffe wie „Perspektivenwechsel“, „das Eigene und das Fremde“, „interkulturell“ oder auch „der dritte Raum“ (Bhabha 1994) sind diesem Ansatz verpflichtet.
In den letzten Jahrzehnten wurden insbesondere zwei Positionen prominent: eine „opti-mistische“ mit der Diskursethik von Jürgen Habermas und der dialogischen Hermeneutik von Hans-Georg Gadamer, und eine entgegengesetzte von Samuel P. Huntington mit der Auffassung eines zu erwartenden „Kampfes der Kulturen“.
Die Diskursethik hat die Orientierung auf den so genannten „Dialog der Kulturen“ maßgeblich beeinflusst. Auf Initiative des damaligen iranischen Präsidenten Mohammad Chatami wurde für das Jahr 2001 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen das „Jahr des Dialogs der Kulturen“ beschlossen. Unter anderem erschien daraufhin im Oktober 2001 der vom Generalsekretär der Vereinten Nationen Kofi Annan initiierte Band: Crossing the Divide. Dialogue among Civilizations. In deutscher Übersetzung wurde er unter dem Titel Brücken in die Zukunft. Ein Manifest für den Dialog der Kulturen noch im selben Jahr publiziert. Vorgestellt wird in dem prominent präsentierten Band ein Rahmenkonzept, das für die Praxis des interkulturellen Dialogs auf sämtlichen politischen, institutionellen und gesellschaftlichen Ebenen geeignet sein soll (vgl. Schiewer 2010).
Auch vom Auswärtigen Amt in Deutschland wurde der Ansatz aufgegriffen. Dabei wird davon ausgegangen, dass z.B. Probleme des Schutzes der natürlichen Umwelt und ihrer Erhaltung für zukünftige Generationen nicht mehr allein auf nationaler Ebene gelöst werden können. Daher werden die zwischenstaatliche Zusammenarbeit und gemeinsame internationale Bemühungen als unabdingbar erachtet. Es geht somit um Dialog zwischen Regierungen und Zivilgesellschaften, das heißt zwischen staatlichen Akteuren und nichtstaatlichen Organisationen, Stiftungen, Kirchen, Wirtschaftsverbänden und Unternehmen.
Der zentrale Ansatzpunkt ist darauf fokussiert, eine Gegenposition zu Samuel Huntingtons These vom „Kampf der Kulturen“ einzunehmen und im Dialog der Kulturen – als kultureller Idee der globalen Verständigung – die Chance für eine friedliche Zukunft zu sehen. Grundlegend soll dabei die Auseinandersetzung mit einer neuen Auffassung von Vielfalt sein. Anlässlich eines Runden Tisches am Sitz der Vereinten Nationen im September 2000 erklärten der Generalsekretär, zwölf Staats- und Regierungschefs sowie die Außenminister verschiedener Länder übereinstimmend, dass mit Hilfe eines solchen Dialogs zwischen den Kulturen alle Nationen in der Lage seien, Feindschaft und Konfrontation durch Gespräch und Verständnis zu ersetzen. Es knüpfen sich also sehr weit reichende Hoffnungen an das Projekt.
Worauf aber gründet sich die Hoffnung, dass das vorgestellte Konzept diese umfassenden Erwartungen erfüllen kann? Wie also wird hier der ‚Dialog’-Begriff bestimmt?
Im Vorwort erklärt Kofi Annan seine Überzeugung, „dass Dialog über Streit obsiegen kann“ (Annan 2001: 11), womit Dialog und Streit hier in Opposition zueinander gesetzt werden. Der Persönliche Beauftragte Annans, Giandomenico Picco, betont in der anschließenden Danksagung (Annan 2001: 13): „Vielleicht wird die Brutalität derjenigen, die nicht an einen Dialog der Kulturen glauben, andere – wie uns – ermutigen, die Aufgabe [eines Dialogs der Kulturen, Verf.] ernster zu nehmen.“ Selbstverständlich bezieht sich diese Äußerung auf das Attentat in New York vom 11. September 2001. Wörtlich genommen wird hier allerdings denjenigen Brutalität unterstellt, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht an einen, an diesen Dialog der Kulturen glauben.
Der ‚Dialog’-Begriff wird in diesem Band weiterhin an die Hoffnung gebunden, eine – wie vermutet wird – bestehende Furcht vor Vielfalt zu überbrücken. Der Dialog der Kulturen solle der Vielfalt die angenommene Angstbesetztheit nehmen und sie in einen positiv empfundenen Wert verwandeln. Die Voraussetzungen werden dabei auf das Individuum projiziert: Es nehme Vielfalt gelegentlich als Bedrohung wahr, gleichzeitig fühle es jedoch auch die verbindende Gemeinschaftlichkeit zwischen den Menschen. Daher beginne der Dialog „in unserem Inneren“ (Annan 2001: 35). Dementsprechend wird wiederholt an die Verantwortlichkeit des Einzelnen appelliert (Annan 2001: 40).
Als zentrale Charakteristika dieses Dialogs werden genannt: respektvolle Kommunikation, gegenseitiges Verständnis, Gerechtigkeit und die Goldene Regel der Gegenseitigkeit. Er müsse offen geführt werden und auf Sachkenntnisse gegründet sein. Wichtig sei insbesondere, weder überreden noch bekehren zu wollen (vgl. Annan 2001: 68), sondern zuzuhören und zu lernen (vgl. Annan 2001: 82). Unter dem Stichwort „Weisheit“ werden Geduld und Aufnahmebereitschaft als entscheidende Aspekte des Zuhörens betont: Inhalt und subtile Bedeutungsnuancen seien sowohl rational als auch emotional zu erfassen (vgl. Annan 2001: 103).
Auf der Basis eines solchen Dialogs werde die Würdigung unterschiedlicher Auffassungen und Perspektiven möglich (vgl. Annan 2001: 68f.). Der Dialog der Kulturen solle von der Vielfalt menschlicher Kulturen und der Anerkennung von Gleichheiten und Unterschieden ausgehen.
Der Dialog erlaube durchaus Skepsis und eine kritische Haltung – ein Aspekt, der wohl als Absicherung gegen den eventuellen Vorwurf, es werde hier stark harmonisierend argumentiert, zu werten ist. Die rationale Entscheidung für Vertrauen, so heißt es weiterhin, sei jedoch zur Überwindung der Angst vor der Vielfalt unabdingbar (vgl. Annan 2001: 83).
Nicht zu übersehen ist hier die Anlehnung an andere Konzepte Interkulturellen Verstehens, die auf Perspektivenwechseln und idealisierend kommunikationstheoretischen Vorannahmen basieren (vgl. etwa die Kommunikationsmaxime von Grice 1975). Es handelt sich also auch hier um einen normativ-programmatischen Ansatz, der dazu tendiert, faktisch in aller Regel gegebene Asymmetrien, Macht- und Interessenlagen zu verschleiern und die Konfliktlösung als rationalen Automatismus eines Austauschs von klar definierbaren und offenen Positionen zu präsentieren. Wenn schon 2001 durchaus berechtigte Zweifel geäußert werden konnten, ob die hohen Erwartungen tatsächlich zu erfüllen seien, dann kann kaum geleugnet werden, dass es inzwischen hierzu noch weitaus mehr Anlass gibt. Stimmen, die von einem „Kampf der Kulturen“ sprechen, sind, trotz aller mit oft guten Argumenten vorgetragenen Kritik an den Begründungen Samuel P. Huntingtons, eher noch lauter geworden.
In Anbetracht der Dringlichkeit, auf internationalen wie nationalen Ebenen in politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen, religiösen Umfeldern und insbesondere in allen Bereichen des Schul- und Bildungswesens realistische Dialogpraxen vermitteln und einzusetzen zu können, besteht ein großer Bedarf an theoretisch-konzeptuellen Grundlagen, bei denen auf den idealistischen Impetus interkultureller Verständigung vielleicht nicht ganz verzichtet werden muss, die aber den erwähnten faktisch existierenden Asymmetrien, Machtungleichheiten und divergierenden Interessenlagen nolens volens Rechnung tragen.
Es ist, mit anderen Worten, nach einem Ansatz zu suchen, der den tatsächlichen Dialogbedingungen Rechnung trägt und real erfahrbare Probleme der Kommunikation nicht übergeht oder minimiert. Denn ein „wirklicher, echter, wahrer“ Dialog, der immer wieder beschworen wird, kann nur gefördert werden, wenn bestehende Asymmetrien und Machtstrukturen greifbar werden, die in nahezu jeder Auseinandersetzung – wenn nicht sogar in überhaupt jedem und auch dem privaten menschlichen Austausch – unvermeidlich sein dürften. Ein politisch, gesellschaftlich und ökonomisch relevanter, effektiver Dialog der Kulturen wird daher darum bemüht sein müssen, die Einseitigkeit rational-diskursiver Kommunikationstheorien zu vermeiden. Vielmehr sind gegenüber letztlich ethnologisch gegebenen Verhaltensfacetten des Menschen, welche mit Fragen von Identität, Interesse, Macht, Status und Emotionalität einhergehen, die Augen und Ohren nicht zu verschließen.
Aus diesem Grund bietet es sich an, nicht nur im politischen Dialog, sondern gerade auch im Alltag solche Dialogbedingungen zu unterstützen, die Asymmetrien nicht zu überdecken suchen, sondern möglichst offenkundig werden lassen, damit sie behandelt werden können. Es gilt demnach, die unhintergehbare Perspektivik jedes Teilnehmers mit ihren lebensweltlichen und historischen Bedingungen sowie die Schwierigkeit ernst zu nehmen, das Gelingen von Verständigung zu überprüfen. Auch das Wissen um ein potentielles Misslingen von Kommunikation ist daher konstruktiv zu nutzen, trägt es doch zu einer Sensibilisierung in Bezug auf die Vielfalt möglicher Ursachen von Missverständnissen und das Scheitern von Verständigung bei, unter anderem infolge von semantischen Divergenzen zwischen den Sprachen. Wenn diese potentiellen Hindernisse als möglich akzeptiert werden, kann erkennbar werden, ob Verständigung überhaupt angestrebt wird und wo ihre jeweiligen Schwierigkeiten liegen, oder ob es nur um Scheingefechte geht, die der verdeckten Ausnutzung von Machtverhältnissen und der indirekten Durchsetzung von Interessen dienen. Die Rahmenbedingungen eines Dialogformats, das die skizzierte Offenheit akzeptiert, sind durch zumindest folgende Aspekte gekennzeichnet:
Es sollte eine grundsätzliche freiwillige Gesprächsbereitschaft auf allen Seiten vorhanden sein, die auch für alle Beteiligten erkennbar sein sollte.
Vor diesem Hintergrund muss es in einem Dialog Optionen und Mechanismen nicht nur für Konsens geben, sondern auch für Dissens, Vertagung und nicht zuletzt einen Abbruch. Konsens ist dabei nicht mit Freundschaft zu verwechseln, Dissens nicht mit Feindbildern zu identifizieren.
Erforderlich sind fundierte Kenntnisse verschiedener Gesprächsstile und kulturell geprägter Dialogformen und -typen, um über Kriterien zu verfügen, die es erlauben, sowohl das Bestehen kulturell bedingter Wissensasymmetrien als auch Formen der verdeckten Kooperationsverweigerung zu erkennen und zu unterscheiden.
Diese Bedingungen können jedoch nicht als vorhanden vorausgesetzt werden. Vielmehr bedarf es ihrer Entwicklung, Erprobung und Verfeinerung. Mit anderen Worten: Die Entwicklung einer Dialogkultur hat didaktische Implikationen.