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3. Wie wird gearbeitet? Der Ansatz sprach- und dialogdidaktischer Arbeit mit literarischen Autorinnen und Autoren

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Die in diesem Band versammelten Autorinnen und Autoren sind vorwiegend Preisträgerinnen und Preisträger des Adelbert-von-Chamisso-Preises, der – von dem Romanisten Harald Weinrich begründet – von 1985 bis 2017 vergeben wurde. Sie sind besonders sensibilisiert für Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität (vgl. Schiewer 2017, Internationales Forschungszentrum Chamisso-Literatur: http://www.chamisso.daf.uni-muenchen.de/bibliographie_autoren/index.html, Robert Bosch Stiftung: http://www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/4595.asp).

Darüber hinaus ist zu betonen, dass bereits didaktische Konzepte für die Arbeit mit interkultureller Literatur verfügbar sind, die mit den skizzierten Grundlagen des Transdifferenzansatzes kompatibel sind. Besonders hervorzuheben ist hier vor allem der Band des Chamisso-Preisträgers José F.A. Oliver, der 2013 im Verlag Klett/Kallmeyer unter dem Titel Lyrisches Schreiben im Unterricht. Vom Wort in die Verdichtung erschienen ist und dessen Autor auch am vorliegenden Band federführend mitgewirkt hat.

Wichtig ist, sich hier zunächst mit einigen Grundauffassungen José F.A. Olivers vertraut zu machen, der 2013 keineswegs eine Standarddidaktik für kreatives Schreiben vorlegte. Vielmehr überträgt er seine Einsichten in sprachlich-linguistische Prinzipien in die gezielte Förderung des Umgangs von Schülerinnen und Schülern mit Sprache. Literatur ist für Oliver erst einmal so etwas wie eine allgemein menschliche Anlage oder eine anthropologische Gegebenheit: „[…] ich will behaupten, dass jeder Mensch Poetisches und dessen Gesten in sich birgt. Die beste Voraussetzung, sich einem unbeschriebenen Blatt Papier anheim zu geben. Sich zuzutrauen.“ (Oliver 2013: 11f.) Im Zentrum steht für ihn die Arbeit am Wort und am individuellen Wortschatz:

Das Vermögen, zu sagen, was der Einzelne erlebt, fühlt und denkt, hängt unmittelbar mit dem Wortmaterial zusammen, das ihm zur Verfügung steht. Oft wird – wenn es um die (deutsche) Sprache geht – bei Schülern das ‚Defizitäre‘ im Umgang mit ihr hervorgehoben. Ich stelle mich in meinen Schreib- und Textwerkstätten lieber auf eine bejahende Art und Weise den Gegebenheiten: Jede scheinbar noch ‚mangelhaft‘ wahrgenommene und als solche sanktionierte Sprache birgt Schönheit und die Qualität des Abenteuers. Wie schön, dass der Ausdruck ‚Wortschatz‘ auch andere Blickweisen zulässt als lediglich die der rohen Quantität der Fehler. Ein einzelner Wortfund kann ein Schatz sein. (Oliver 2013: 12)

Angestrebt wird ein verfeinertes Bewusstsein für den Umgang mit Sprache und auf diese Weise eine Fortentwicklung des Bewusstseins für sich selbst, für die eigene Person:

Ausgangspunkt meiner Anregungen für Schüler ist immer das Wort und die wahr:nehmungen, ihre wahr:nehmungen, die das Wort begleiten. Das eigene Wort und das andere. Das fremde, das fremdgebliebene, das fremdgemachte, das fremdgewordene. Wird das Wort hernach bedachter vernommen, erfahren und gewählt, schenkt Sprache dem Menschen eine simultane Beziehung zu den Wörtern und eine bewusstere Identität, so meine Hoffnung. (Oliver 2013: 12f.)

Die sprachtheoretische Basis der Arbeit Olivers konzentriert sich auf die Sensibilisierung für Konnotationen, Bedeutungen neben der eigentlichen Wörterbuchbedeutung, beziehungsweise „Bedeutungshöfe“. Er geht von dem Beispiel des Wortes „Tafelsüße“ aus, einer Form des Zuckerersatzes, und beschreibt seine persönlichen Assoziationen: der Schultafel, die ihm näherliegt als der ihm ebenfalls in den Sinn kommende Tafelspitz. Da in seinem Buch das lyrische Schreiben im Schulunterricht beschrieben wird, stellt er in den Raum, ob „Tafelsüße“ in diesem Zusammenhang eine mögliche Metapher sei. Dies lässt er zunächst offen, sieht darin aber durchaus eine Option (vgl. Oliver 2013: 11). Hieran schließt er folgende Reflexion an:

Zumindest steht die eigenwillige Konnotation [der Schultafel] gleichnishaft vor einer offenen Tür. Ein Zugang in die erste flüchtige Draufschau dessen, wie inspirierend Bedeutungshöfe sind, wenn sich Wörter aufs Unerwartete mit den ungestümen oder selbstverständlichen Bedürfnissen und Notwendigkeiten der Alltagsrealien verbinden. In meinem Fall „Frühstück“ und „Tafelsüße“ oder „Zuckerersatz“ und „Schule“. Seien die Wörter nun aus dem Alltäglichen entnommen, quasi eins zu eins abgebildet, oder auf eine scheinbar rätselhafte Weise sprachlich aus ihnen ins Entlegene verschoben.

Das Ziel seiner Arbeit im Unterricht besteht hierin:

Seit Jahren versuche ich bei Schülern aller Schularten, den feinsinnigen und experimentierfreudigen Umgang mit Sprache zu fördern, und nehme deshalb die jungen Menschen beim Wort. […]

Deshalb wäre mein Vorschlag, die Sprache jedes Einzelnen im Deutschunterricht mit einfachen Übungen und Methoden nicht ‚abzurufen’, sondern zu erkunden: Vom w:ort in den Satz. Vom Satz in die Verdichtung. Aus der Verdichtung in den Vers. Vom Vers vielleicht in ein Gedicht. (Oliver 2013: 12f.)

Im hier Folgenden werden die fachübergreifenden und gesellschaftlichen Dimensionen von José F.A. Olivers eigener Arbeit im Unterricht und seine Anregungen für Lehrkräfte für das lyrische Schreiben dargestellt. Worin bestehen die fachübergreifenden und gesellschaftlichen Dimensionen einer solchen Einübung in das lyrische Schreiben mit der Ausbildung eines vertieften Bewusstseins für Konnotationen und Bedeutungshöfe?

Die Erklärung dieses Punktes verlangt, an dieser Stelle ein wenig auszugreifen und dabei auch nochmals auf einige theoretische Fragen zu verweisen.

Es geht – in aller Kürze zusammengefasst – um das Vermögen, sich in unterschiedlichen Situationen und verschiedenen thematischen Zusammenhängen differenziert auszudrücken, Stellung zu nehmen und zum Beispiel in Argumentationen seinen Standpunkt deutlich zu machen, ohne sich durch rhetorische Winkelzüge des Gegenübers irritieren zu lassen, unter Umständen sich auch öffentlich zu äußern und gegebenenfalls an gesellschaftlich relevanten Diskursen zu beteiligen. Mit anderen Worten: eine ausgesprochene Dialogfähigkeit auszubilden.

All dies erfordert ein entwickeltes Bewusstsein für semantische „Feinarbeit“, das heißt für Konnotationen und Bedeutungshöfe. Man spricht unter anderem in der Diskursanalyse und Diskurslinguistik in diesem Zusammenhang auch von „Deutungshoheit“ (vgl. hierzu zum Beispiel Spitzmüller/Warnke 2011; Kuße 2012). Darunter versteht man das erfolgreiche Besetzen von Semantiken. Auch der sowohl soziologisch als auch kommunikationswissenschaftlich bestimmte Begriff der „Macht“ ist in diesem Zusammenhang sehr präsent – so spricht man auch von „Kommunikationsmacht“ (Reichertz 2009).

Besonders anschauliche Beispiele findet man dafür im Zusammenhang von Translationen, seien es Übersetzungen oder gedolmetschte Texte: die Entscheidung etwa, die baskische ETA entweder als „Befreiungsorganisation“ oder als „Unabhängigkeitsorganisation“ oder als „Terrororganisation“ zu bezeichnen, geht mit dem einher, was man als Ausübung von „Deutungshoheit“ bezeichnet (vgl. Valdeón 2007).

Es kommt mit anderen Worten darauf an, in alltäglichen und anderen Situationen, in Zweiergesprächen (in der Soziologie als Mikro-Ebene bezeichnet) oder auch in Unterrichtsgesprächen (die der soziologischen Meso-Ebene angehören)

 solche Deutungshoheiten zu erkennen und benennen,

 sich gegebenenfalls mittels semantischer Differenzierung dagegen wehren zu können und

 eigene Positionen zu vertreten.

Konkret erfolgt dies in kommunikativen Prozessen. Einseitiger „semantischer Bedeutungshoheit“, das heißt, einseitiger Weltdeutungshoheit soll entgegengewirkt werden durch kommunikative Arbeit im Sinn dessen, was als „Aushandlung von Bedeutungen“ bezeichnet wird. Dies ist auch die Basis kommunikationstheoretisch und interkulturell anspruchsvoll fundierter Modelle des Dialogs der Kulturen. Kaum jemals werden dabei reine Informationen „verschoben“; auch wenn geläufige Kommunikationsmodelle dieser Auffassung dadurch Vorschub leisten, dass sie in technizistischem Duktus von Sendern und Empfängern, Kanälen und Störquellen etc. sprechen. Vielmehr handelt es sich um Bemühungen darum, sich verständlich zu machen, zu angemessenen Deutungen zu gelangen, sich durch Rückfragen zu vergewissern, mittels Paraphrasen das bereits Gesagte in anderer Formulierung des gemeinten beziehungsweise aufgefassten Inhalts erneut begreiflich zu machen und dergleichen mehr.

Den hier skizzierten Grundlagen der interkulturellen Kommunikation, des Transdifferenzansatzes und der Didaktik des Dialogs sind der vorliegende Band und die folgenden Bände der Reihe verpflichtet.1 Die Didaktik speist sich zudem aus den Konzepten und Erfahrungen vieler Chamisso-Autorinnen und -Autoren in Schulwerkstätten, Meisterklassen und Workshops.

Die Eignung von Spracharbeit unter Anleitung von literarischen Autorinnen und Autoren im Deutschunterricht wird hier hinsichtlich ihrer spezifischen sprachlichen Merkmale aufgezeigt. Die entsprechende Kompetenzförderung im Deutschunterricht ist Grundlage für ein methodisch und theoretisch anspruchsvolles Verständnis interkultureller Kommunikations- und Dialogfähigkeit, die sich auch in schwierigen Situationen mit Konfliktpotential bewährt. Die didaktisch orientierte Arbeit schließt eng an die gezielte Förderung des Bewusstseins für semantische Differenzierungen an, das insbesondere von José F.A. Oliver akzentuiert wird. Formen sprachlicher Verfremdung sind dabei besonders geeignet, den Umgang mit semantischer Differenzierung zu schulen, indem ein ‚Denken wie üblich’ hinterfragt wird und eindimensionale Sprachformen aufgebrochen werden. Auf diese Weise kann ein Beitrag zur Befähigung zum multiperspektivischen Denken geleistet werden, das ein ‚Durchspielen von Optionen’ erlaubt und somit reflektierte Haltungen fördert, die differenziert geäußert und vertreten werden können. Solche Formen der Spracharbeit können – auch fachlich institutionalisiert – in der internationalen Germanistik und dem Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache fruchtbar gemacht werden.

Sowohl die persönliche Präsenz der Autorinnen und Autoren im Deutschunterricht als auch die entsprechenden in diesem Band erstmals vorgelegten Arbeitsmaterialien erlauben die sinnvolle und gezielte Einbindung dieser Literatur in den Unterricht. Dabei geht es über Sprechanlässe hinaus um ein umfassenderes Verständnis von Literatur und ihres kulturvermittelnden Potentials. Das können interkulturelle Literatur und Texte der Chamisso-Preisträgerinnen und -Preisträger in besonderer Weise leisten, unter anderem weil hier ein spezifisches poetisches Programm wichtig ist, in dem die Sprache mit Aspekten wie der Schaffung von „Bedeutungshöfen“ kontinuierlich fortentwickelt wird.

Identitäten - Dialoge im Deutschunterricht

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