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3 Die Referenzialisierungen terroristischer Gruppen in deutschsprachigen Medien

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Im folgenden Abschnitt sollen relevante empirische Ergebnisse vorgestellt werden, die sozusagen als Nebenprodukt eines anderen Forschungsvorhabens angefallen sind. Im DFG-geförderten Projekt „Aktuelle KonzeptualisierungenKonzeptualisierung von TerrorismusTerrorismus – expliziert am Metapherngebrauch im öffentlichen Diskurs nach dem 11. September 2001“1 wurde die Frage verfolgt, wie islamistisch motivierter Terrorismus von deutschsprachigen Printmedien dargestellt, also auch konzeptualisiert, perspektiviert und evaluiert wird. Zu diesem Zweck wurde ein umfangreiches Korpus aus Pressetexten erstellt: Mehr als 100000 themenrelevante Artikel aus 11 deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften aus einem Zeitraum von 1993 bis 2011 wurden gesichert und mit quantitativen und qualitativen Methoden untersucht.2 Bei der Arbeit im Projekt lag der Fokus in erster Linie auf MetaphernMetapher, denen eine äußerst wichtige Rolle bei der diskursiven Verständlichmachung komplexer und abstrakter oder auch brisanter und affektiv aufgeladener Sachverhalte zugesprochen wird (cf. Skirl/Schwarz-Friesel 2007).3TerrorismusMetapher Aber auch andere sprachliche Mittel wurden im Hinblick darauf untersucht, wie sie zur Konzeptualisierung und Charakterisierung des Gesamtphänomens des islamistischen Terrorismus beitragen. Für eine umfassende Analyse war die Frage unabdingbar, welche konventionellen und innovativen Referenzausdrücke sich für terroristische Akteure finden, wie diese verteilt sind und welche Perspektivierungen und Evaluierungen durch sie vermittelt werden. In diesem Zusammenhang fielen AkronymeAkronym auf, wie sie in den Beispiele (1) und (2) illustriert werden. Diese sollen nun im Folgenden bezüglich ihres Auftretens, ihrer spezifischen Funktion und ihrer Rolle im Terrorismusdiskurs beschrieben werden.

(1)Vergangene Woche feuerte eine US-Drohne Raketen auf ein Fahrzeug, in dem wahrscheinlich Anwar al Awlaki saß, eine der gefährlichsten Figuren des islamistischen Terrors, nicht nur weil er zu Anführern der Vereinigung „Al Qaida auf der arabischen Halbinsel (AQAH)“ zählt. (Der Tagesspiegel, 13.05.2011)
(2)Al-Qaida im Maghreb (AQIM) gelang derweil in Marrakesch ein überraschend zielgenaues Attentat: eine ferngezündete Bombe im Zentrum der westlichsten Stadt Marokkos, mitten hinein in die zaghaft einsetzende Öffnung des Landes zu mehr Demokratie. (Die Zeit, 05.05.2011)

In diesen Textstellen finden sich die AkronymeAkronym AQAH und AQIM, die auf Al-Qaida respektive regionale Untergruppen von Al-Qaida referieren. Mit Hilfe von Antconc, einer Software zur Textanalyse und Konkordanzerstellung, konnte festgestellt werden, dass im gesamten Untersuchungskorpus acht unterschiedliche KurzwörterKurzwort als Referenzausdrücke für Al-Qaida-Divisionen (Type-Wert) genau 125 mal vorkommen (Token-Wert). Diese Werte erscheinen in Bezug auf das Gesamtkorpus (Word Types gesamt 414604, Word Tokens gesamt 17625840) als sehr gering (der Anteil dieser Al-Qaida-Akronyme am Korpus liegt type-basiert bei 0,00193 % und token-basiert bei 0,00071 %), was aber angesichts der möglichst weitgefassten, textsortenübergreifenden Zusammenstellung aller thematisch relevanten Presseartikel im Laufe von 18 Jahren nicht überraschend ist.4Akronym Die genaue Suchworteingabe lautete „AQ*“ und brachte insgesamt 147 Treffer, von denen aber nach inhaltlicher Prüfung 22 ausgeschlossen wurden, da es sich entweder um rein technische Artefakte (als Zeichenfolgen in arbiträren Dokumentcodes) oder um Graphemfolgen in mehr oder weniger bedeutungsvoller Majuskelschreibung ohne Bezug auf Al-Qaida handelte (etwa: Job-AQTIV, AL-AQSA-BRIGADEN und KÖLNER AQUARIUM).5

Eine Sortierung der identifizierten Treffer nach Denotatsbereich lieferte folgende Einteilung, die jeweils durch Beispiele illustriert wird:

1 30 Treffer für den Type AQ mit ReferenzReferenz auf Al-Qaida als Gesamtorganisation.

(3)Stirbt nun auch der Binladinismus? […] Der ja, aber nicht der Al-Qaida-Terror. AQ ist keine leninistische Truppe, die nur enthauptet werden müsste, um sie unschädlich zu machen. (Der Tagesspiegel, 09.05.2011)

1 51 Treffer für die zwei Types AQAH und AQAP mit ReferenzReferenz auf eine Untereinheit von Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel.

(4)Vergangene Woche feuerte eine US-Drohne Raketen auf ein Fahrzeug, in dem wahrscheinlich Anwar al Awlaki saß, eine der gefährlichsten Figuren des islamistischen Terrors, nicht nur weil er zu Anführern der Vereinigung „Al Qaida auf der arabischen Halbinsel (AQAH)“ zählt. (Der Tagesspiegel, 13.05.2011)
(5)Seit Bin Ladens Netzwerk im Januar 2009 seine Kämpfer in Saudi-Arabien und im Jemen zur „Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel“ (AQAP) zusammengeführt hat, gehen die perfidesten Aktionen vom Jemen aus. (Der Spiegel, 08.11.2010)

1 39 Treffer für die drei Types AQIM, AQMI und AQM mit ReferenzReferenz auf eine maghrebinische Untereinheit von Al-Qaida.

(6)Al-Qaida im Maghreb (AQIM) gelang derweil in Marrakesch ein überraschend zielgenaues Attentat […] (Die Zeit, 05.05.2011)
(7)„Boko Haram“ soll mittlerweile Verbindungen zu der in Algerien, Mauretanien, Mali und Niger aktiven „al-Qaida im islamischen Maghreb“ (AQMI) unterhalten. (taz, 01.11.2010)
(8)Ableger gibt es außer im Irak inzwischen auch in Nordafrika, das ist „Al Qaida im islamischen Maghreb“ (AQM), in Saudi-Arabien und Jemen, „Al Qaida auf der arabischen Halbinsel“ (AQAH) genannt, und in Somalia. Dort hat sich die Shabab-Miliz der Terrororganisation angeschlossen. (Der Tagesspiegel, 03.05.2011)

1 3 Treffer für den Type AQI mit ReferenzReferenz auf eine irakische Unterorganisation von Al-Qaida.

(9)Was Wunder, dass den Sunnis im Überlebenskampf jeder Verbündete recht war, auch die Terror-Brigaden der „Al-Qaida im Irak“ (AQI). (Die Zeit, 19.06.2008)

1 2 Treffer für den Type AQT mit ReferenzReferenz auf eine gemeinsame OrganisationOrganisation von Al-Qaida und den Taliban.

(10)Was offenbar nicht ganz deutlich wurde, ist erstens die Rolle, die Osama bin Laden bei der Detailplanung spielte, und zweitens sein Verbleib. Die Londoner Times will aus einem Versprecher herausgehört haben, dass er nicht mehr lebe. Das ist jedoch nicht sicher. Spezialeinheiten aus den USA und Großbritannien suchen jedenfalls noch immer nach ihm und nach „AQT“ in bestimmten Regionen Afghanistans. Die Abkürzung bedeutet „Elemente der Al Qaeda und der früheren Taliban“. (Frankfurter Rundschau, 11.09.2002)

Die Konkurrenzformen unter b.) und c.) erklären sich daraus, dass fremdsprachliche, nämlich englische und französische KurzwörterKurzwort auf Basis exogener Bildungen ebenso vorkommen wie deutschsprachige Bildungen auf Basis von Übersetzungsparaphrasen. Im Fall von AQAP versus AQAH betrifft dies die letzte Initialenvariante (P/H < peninsula/Halbinsel). Im anderen Fall ist die Anzahl und Reihung der AQ nachfolgenden Initialen betroffen (OrganisationOrganisation al-Qaïda au Maghreb islamique versus Al-Qaida im (islamischen) Maghreb). Damit wird zugleich deutlich, dass Kurzwörter im Allgemeinen und insbesondere AkronymeAkronym für international beachtenswerte Organisationen einen global relevanten Phänomenkomplex ausmachen, der nicht auf eine einzelsprachliche Betrachtung beschränkt werden sollte.

Von Bedeutung ist in den exemplarischen Textstellen der Vorkommensmodus der AkronymeAkronym, nämlich in (4) bis (9) in Gestalt der erwähnten dominanten Einführungsstrategie „Vollform (KurzwortKurzwort)“. Es handelt sich jeweils um die Erstnennungen der Akronyme, im Fortlauf der Texte werden sie dann ohne weitere Erläuterungen verwendet. In Gestalt eines ganzen Satzes und zusätzlich metasprachlich markiert erfolgt die Texteinführung hingegen in Beispiel (10). Die Erklärung des akronymischen Organisationsnamens erfolgt durch die Wiedergabe der Vollform, die im Grunde nur eine formseitige Erweiterung des Namenszeichens durch einen Rekurs auf den Kürzungsinput darstellt. Das Wissen über Al-Qaida und die Taliban wird dabei weiterhin vorausgesetzt, sonst ergäbe auch die Namensrückführung keinen Sinn. Auffällig ist auch, dass die zur Erklärung angeführten Vollformnennungen oft durch Anführungszeichen typographisch abgesetzt werden, so etwa in (4), (5), (7) bis (10), was wiederum den metasprachlichen Charakter dieser textuellen Prozesse verdeutlicht.

Des Weiteren ergab sich aus der Korpusanalyse eine Bestätigung der im Vorigen angenommenen Wortbildungsaffinität, wie die folgende Kompilation von Determinativkomposita mit AkronymenAkronym in der Rolle des Determinans und verschiedenen Grundwörtern verdeutlicht:

(11)AQ-Schule; AQAP-Krieger; AQAH-Propaganda; AQM-Kämpfern; in AQM-Camps; „AQT“-Führern

Verfahrensorientiert lassen sich die beschriebenen Kürzungen als Reihenbildung bestimmen. Der bekannte Reduktionsprozess liefert zunächst die generischen Default-Initialen AQ, die je nach Bezug um weitere Initialen wie AH/I/MI ergänzt und sozusagen attributiv spezifiziert werden können. Die Kurzwortbildungen fungieren hier so als erweiterbares Label für eine OrganisationOrganisation mit einer tiefen Binnenstrukturierung und regionaler Differenzierung. Al-Qaida wird folglich als ein Netzwerk mit einer übergreifenden Ideologie konzeptionalisiert, das aus Untereinheiten mit großer Handlungsautonomie besteht. Hierzu passt auch die häufige Übersetzung des Namens al-qā’ida als „Basis“ (cf. Wichmann 2014: 202). Entsprechend wird auch manchmal von Mutter- und Tochterorganisationen gesprochen (ebd.).

Auch MetaphernMetapher können fruchtbar mit den AkronymenAkronym zusammenwirken. Eine analoge KonzeptualisierungKonzeptualisierung, die nunmehr durch metaphorische Konstruktionen erfolgt, nämlich AL-QAIDA ALS (FRANCHISE-)UNTERNEHMEN, findet sich etwa in folgendem Beispiel:

(12)Al-Qaida hat sich in ein Franchise wie McDonald’s verwandelt. […] Wer die AQ-Schule durchlaufen hatte, konnte eine „Filiale“ aufmachen. (Die Zeit, 05.05.2011)

Mehrere solcher Franchise-MetaphernMetapher treten in der öffentlichen Berichterstattung über Al-Qaida auf (siehe hierzu v.a. Schwarz-Friesel (2014: 66–68) und Kromminga/Becker 2015: 72–77). Fokussiert wird hierbei die Strukturkomplexität und Handlungseffizienz der Gesamtorganisation, die deshalb auch nur sehr schwer zu bekämpfen sei. Al-Qaida sei gerade wegen ihrer Untereinheiten strategisch sehr erfolgreich und gefährlich. Interessanterweise ergeben sich diese Lesarten erst aus der kontextuellen Konzeptkombination und Merkmalsexplikation. Metaphorisierungen als Franchise-Unternehmen haben, im Gegensatz zu beispielsweise mythischen Ungeheuern wie Hydra und tödlichen Erkrankungen wie Krebs, zunächst kein starkes Implikatur- und Emotionspotenzial, vermitteln im gegebenen Fall aber dennoch ein große Bedrohung und eine intensivierte Gefahrenlage durch die so perspektivierte Al-Qaida (cf. Kromminga/Becker 2015: 75–76).

Innerhalb dieses Konzeptualisierungsmusters zeigen die metaphorischen Verbalisierungen und die AQ-AkronymeAkronym auch eine ähnliche Auftretensverteilung, sowohl in Bezug auf den diachronen Diskursverlauf als auch im Kontrast der analysierten Publikationsmedien. Die ersten Vorkommen der Akronyme wie auch der Franchise-MetaphernMetapher finden sich vereinzelt Anfang/Mitte der 2000er Jahre (die ersten Metaphern treten 2004 auf, AQT bereits 2002), dann vermehrt ab 2008 und schließlich mit einer signifikanten Häufung in den Jahren 2010 und 2011 (den letzten Jahren des Untersuchungszeitraums). Es ist zudem auffällig, dass sowohl die Akronyme als auch die genannten Metaphern überhaupt nicht in den ebenfalls untersuchten Boulevardzeitungen (Bild, B.Z., Kölner Express) vorkommen, sondern nur in umfangreicheren Presseartikeln, die sich um präzise Darstellungen terroristischer Gruppen bemühen und teilweise auch Hintergrundanalysen einbeziehen.

Zwischen beiden sprachlichen Mitteln, den innovativen MetaphernMetapher mit dem Herkunftsbildbereich der Ökonomie und den zur Referenzialisierung komplexer Organisationen dienenden AkronymenAkronym, kann somit ein enger Konnex konstatiert werden. Sie tragen gemeinsam entscheidend zu einem elaborierten und aktuellen Deutungsmodell über islamistischen TerrorismusTerrorismus bei.

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