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2.1.2 Grundlagen einer Didaktik der aufgeklärten Mehrsprachigkeit

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Aufgeklärte Mehrsprachigkeit

Anhand eines typologischen Vergleichs von drei Mustern europäischer Sprachenpolitik ermittelt Stolle (2013) die unterschiedliche gesellschaftliche Wertschätzung von Migrantensprachen. Demnach verfolgt Frankreich mit seiner SprachenpolitikSprachenpolitik einen eher assimilativen Ansatz, obwohl auch dieser Ansatz Elemente des Multilingualismus aufweist und nicht die äußerste Position des Spektrums, die Sprachenverdrängung, markiert. Schweden ist dagegen auf der anderen Seite des Spektrums angesiedelt. Es ist eines der wenigen Länder, das seit langem eine konsequent dynamische Sprachenpolitik verfolgt. Darin besitzen auch Minderheiten und Migrantensprachen einen anerkannten offiziellen Status, der sich in Unterricht und Gesellschaft manifestiert. Deutschlands Sprachenpolitik verortet Stolle zwischen den beiden Extremen als multilingual-dynamisch. In Deutschland zeigen sich demnach ambivalente Tendenzen zwischen der Betonung der Nationalsprache als Integrationssprache (Integrationskurse, Schulsprache; Dirim 2010 spricht hier von Neo-Linguizismus) und der Förderung oder Berücksichtigung von Migrantensprachen (Förderung von Grenzlandsprachen, Begegnungssprachen, Minderheitenschutz) (für weitere Informationen zur Sprachenpolitik siehe auch Lerneinheit 8.3 im Band »Sprachenlehren«).

Im Gegensatz dazu bezeichnet aufgeklärte MehrsprachigkeitAufgeklärte Mehrsprachigkeit ein sprachenpolitisches Desiderat (und eine sich etablierende Praxis) in internationaler Kommunikation: Statt auf eine einzige Sprache auszuweichen, die im ungünstigen Falle von keinem der Beteiligten (richtig) gesprochen wird, oder Übersetzungen in Anspruch zu nehmen, bietet sich ein Verfahren an, bei dem jeder beziehungsweise jede Beteiligte seine oder ihre eigene Sprache spricht, aber die der anderen hinlänglich versteht. Dabei kann es auch zu Übersetzungen, Übertragungen und einem temporären Ausweichen in eine dritte Sprache kommen, aber die Grundlage der Kommunikation bildet die pragmatische Mischung der verfügbaren Sprachen. Analog zu dieser pragmatischen Kommunikationspraxis bezeichnet der Begriff ‚aufgeklärte Mehrsprachigkeit‘ eine didaktische Perspektive auf Mehrsprachigkeit. Damit wird dargestellt, dass der Unterricht didaktisch oder sprachenstrategisch je nach Nutzen und Bedingungen nicht auf nur eine Sprache fixiert sein muss (wie das mit dem Einsprachigkeitsprinzip eine Zeit lang dogmatisch vorgegeben war), sondern dass je nach didaktischem Nutzen sprachliche Strukturen (wie etwa neue Vokabeln) mehr- oder einsprachig vermittelt oder gemischt werden können (wie es zum Beispiel die diglot weave method propagiert).

Mehrsprachigkeitsdidaktik

Ziel aller mehrsprachigkeitsdidaktischen Modelle ist es, die Faktoren für Mehrsprachigkeit im Rahmen schulischen Unterrichts gezielter zu fördern und nutzbar zu machen. Dabei liegt die Annahme zugrunde, Fremdsprachenunterricht könne mit den gleichen zur Verfügung stehenden Ressourcen auf effizientere Weise einen besseren, aber spezifischeren Kenntnisstand erreichen. Das heißt, bei entsprechender Konzeptualisierung ließen sich mit den allgemein verfügbaren Ressourcen mehrere Sprachen bedienen, und mit einer Fokussierung auf bestimmte sprachliche Fertigkeiten in den unterschiedlichen Sprachen ließen sich die Ressourcen optimieren. So kann man etwa mit Grundkenntnissen des Lateinischen die Grundlagen für den Erwerb mehrerer romanischer Sprachen legen und mit Kenntnissen des Deutschen vergleichsweise leicht und fast ohne Unterricht Lesekompetenzen in Niederländisch oder in skandinavischen Sprachen erwerben. Die TransferdidaktikTransferdidaktik basiert auf Gemeinsamkeiten verschiedener Sprachen (interlinguale Korrespondenzen). Die von Klein und Stegmann (2000) entwickelte Methode des linguodidaktischen Sprachenvergleichs filtert zum Beispiel das romanische Sprachmaterial nach interlingualen Transferbasen in Form eines Wortes, einer lingualen Funktion oder einer konkreten Lernerfahrung aus. Diese Transferbasen bilden die Grundlage der Verständlichkeit von Sprachen einer Sprachfamilie (InterkomprehensionInterkomprehension). Wenn die gemeinsame Basis identifiziert oder ausgefiltert ist, bleiben monolinguale Profilelemente als Spezifika einer zu erwerbenden Sprache übrig. Beim Erwerb einer weiteren nahverwandten Fremdsprache, zu der der Lerner bereits in erheblichem Maße über Vorwissen verfügt, kommt es demnach darauf an, das vorhandene Wissen und seine Organisation so zu aktivieren, dass die zwischen den Ausgangssprachen und der Zielsprache liegenden kognitiven Schemata miteinander verbunden werden können. Es geht also darum das Bekannte mit dem Neuen zu verknüpfen, um das Spezifische der zu erlernenden Sprache verankern zu können (vergleiche auch den Band »Sprachenlernen und Kognition«). Das Prinzip der Ähnlichkeit greift die EuroCom-Initiative auf, die Lehrpläne und Materialien für romanische, germanische und slawische Sprachen entwickelt (siehe Klein & Stegemann 2000).

Die Interkomprehensionsdidaktik stellt das systemische Vorgehen verschiedener Modelle dar, die auf Ähnlichkeiten von Sprachen aufbauen und bemüht sind, diese in Unterrichtsmethoden umzusetzen. Zu ihren wichtigsten Elementen gehören:

1 Die SpontangrammatikSpontangrammatik: Sie entsteht bei der ersten Begegnung mit einer einigermaßen interkomprehensiblen oder transparenten Sprache, und zwar im Moment des ersten Dekodierungsvorgangs der neuen sprachlichen Struktur. Bereits hier erkennt der Lerner bedeutungshaltiges lexikalisches Material und gegebenenfalls weitere Regularitäten in und zwischen den Sprachen. Betroffen ist daher das gesamte Sprachensystem. Die Spontangrammatik spiegelt Identifikations- und interlinguale Korrespondenzmuster, die ein Lerner als Sprachhypothesen zwischen ihm aus unterschiedlichen Sprachen bekannten Schemata und einer neuen lingualen oder semantischen beziehungsweise thematischen kognitiven Einheit generiert. Dies setzt ein tertium comparationis für das zielführende Vergleichen voraus. Ohne dieses wäre die Konstruktion einer Analogie oder eine ,Differenzierung in der Ähnlichkeit‘, das heißt die Identifikation einer Transferbasis, nicht denkbar. Die Spontangrammatik ist also eine flüchtige, instinktive Hypothesengrammatik, die im weiteren Lernprozess modifiziert wird, sofern sich das deklarative und prozedurale Wissen auf den systemischen Charakter der Sprachen einstellt und seinen Umfang erweitert.

2 Mehrsprachenspeicher: Das beim Entwurf der Spontan- oder Hypothesengrammatik konstruierte Wissen bezieht sich auf positive und negative Transferbasen sowie auf gelungene und gescheiterte Transferprozesse und bleibt langfristig verfügbar. „Während die Hypothesenverarbeitung weitgehend eine Angelegenheit des Kurzzeitgedächtnisses ist, bleiben die im Mehrsprachenspeicher gesammelten Sprachen-, Hypothesen- und Sprachlernerfahrungen im Langzeitgedächtnis verfügbar“ (Meißner 2004: 42).

3 Didaktischer Monitor: Das aufgebaute Wissen betrifft nicht ausschließlich Sprachdaten, sondern auch Lernerfahrungen und – so vermuten die Autoren des Gießener Modells – die Lernsteuerung. Der didaktische Monitor erhöht demnach durch Sensibilisierung die Menge der Sprach- und Lerndaten, die durch Perzeption der mentalen Verarbeitung zugeführt werden. Ohne die hier in Gang gesetzten Monitorprozesse bleibt der Mehrsprachenerwerb nach Ansicht der Autoren inzidentell, also nach ihrem Verständnis unvollständig. Des Weiteren intensiviere die Erhöhung der mentalen Verarbeitungsbreite und -tiefe die Speicherung der lernrelevanten Informationen. Indem die Lernsteuerung die Zugriffsleistungen auf Sprachdaten erhöhe, trage sie bereits zur Automatisierung interlingualer Transferroutinen bei. Deshalb verstärke Mehrsprachentraining deutlich die Fähigkeit zur Nutzung des interlingualen Transferpotenzials.

Diese Vorstellung vom Funktionieren des didaktischen Monitors im Kontext der Interkomprehensionsdidaktik erinnert an verbreitete Annahmen zur Effizienz von Steuerungsmaßnahmen im Unterricht und zur Debatte über grammatikbasierte oder metakognitive Sprachbewusstheit. Inzidentelles Lernen wird dagegen in handlungsorientierten Ansätzen gerade als wichtige Grundlage des Sprachenerwerbs angesehen. Die Aktivierung intensiverer kognitiver Verarbeitung kann dementsprechend nicht nur durch metasprachliche Bewusstmachung oder Fokussierung geschehen. Auf die Umsetzung von Interkomprehensionsstrategien im Unterricht und den Schulungsbedarf der Lehrkräfte verweist Marx (2008).

Mehrsprachigkeit und Sprachenerwerb

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