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1. Sprache und Nation im deutschsprachigen Raum

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In diesem Beitrag werden zwei Ansichten über das Verhältnis zwischen Sprache und Nation im deutschsprachigen Raum im 18. und 19. Jahrhundert zur Diskussion gestellt, die auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen, die jedoch, wie hier gezeigt werden soll, eng miteinander verknüpft sind und auf Auffassungen über den Verlauf der deutschen Geschichte in dieser Zeit zurückzuführen sind, die die neueste historische Forschung in Frage gestellt hat.

Als erstes geht es um die ethnolinguistische Grundlage des deutschen Nationalismus, m.a.W. um die Annahme, dass die deutsche nationale Identität in Ermangelung anderer signifikanter identitätsstiftender Merkmale, wie z.B. eines klar definierbaren Territoriums, allein auf der gemeinsamen Sprache basieren könnte. Daraus entstand der besonders im 19. Jahrhundert verbreitete Topos, dass in Deutschland die sprachliche Einheit der politischen Einheit vorausging und die unabdingbare Voraussetzung für diese bildete – in den von Meinecke (1908) geprägten Termini hatte nach der nationalistischen Ideologie der Zeit eine Sprachnation (und eventuell auch eine Kulturnation) schon lange bestanden, die die Bildung einer Staatsnation in der Gestalt des „kleindeutschen“ Reichs von 1871 rechtfertigte.

Aus der Perspektive der Soziolinguistik erscheint der Begriff einer einheitlichen deutschen Sprache im frühen 19. Jahrhundert jedoch hoch problematisch, denn das Sprachgebiet bestand um diese Zeit aus einem äußerst heterogenen Dialektkontinuum, in dem Sprecher aus entfernten Gegenden sich nur mit großer Schwierigkeit verständlich machen konnten. Wie Barbour (1994: 332) sagt: „[…] probably no other European language is so diverse, and groups of dialects elsewhere which show a similar diversity are considered to be several languages“ (vgl. auch Durrell 2002). Dieser Topos trat in einer Rezension von Misha Glenny (2014) in der britischen Zeitung „The Observer“ neulich wieder auf, in der er anlässlich eines Buches über die ethnische und sprachliche Vielfalt Indonesiens schrieb: „What was it that bound Catholic Bavaria to Protestant Prussia? It clearly wasn’t religion, or language.“ Hier spielt er klar auf die alltägliche Beobachtung an, dass man in Berlin anders spricht als in München, aber in diesem Zusammenhang interessieren vor allem die Anspielungen auf die Mythen um die Bildung eines deutschen Nationalstaats.

Diese sprachliche Heterogenität steht anscheinend in krassem Widerspruch zu der Annahme, dass sich die politische Einigung auf die Einheit der Sprache gründete und darin ihre Rechtfertigung fand. Diese Auffassung war jedoch im 19. Jahrhundert – vor allem im Nachhinein, nach der Reichsgründung 1871 – allgemein akzeptiert, und sie gilt auch heute noch als Gemeinplatz der Geschichte. In einer Rezension des Bandes, in dem Durrell (2002) erschien, schrieb Bonnell (2003: 146), dass Durrells Beitrag „challenges long-conventional assumptions about German linguistic unity preceding political unity“. An dieser Stelle möchte ich jedoch die in Durrell (2002) vertretenen Ansichten sowie auch den Topos der sprachlichen Einheit als Grundlage für die politische Einigung revidieren, denn erstens ist es klar, dass man trotz der eben besprochenen Vielfalt der Erscheinungsformen schon im ausgehenden 18. Jahrhundert von einer „deutschen Sprache“ in einem in diesem Zusammenhang relevanten Sinne sprechen kann. Und zweitens hat es um diese Zeit trotz der späteren Behauptungen einer nationalistischen Ideologie auch ein politisches Gebilde gegeben, das wir mit guten Gründen als einen „deutschen“ Staat bezeichnen dürfen und in dem die deutsche Sprache die wesentlichen Stadien im Prozess der Standardisierung durchmachte. Dieses Gebilde war dann ein wichtiger Fokus für die nationale Identität. Diese Erkenntnis ist m.E. eine klare Folgerung aus der neuen historischen Forschung, insbesondere Whaley (2012) und Wilson (2016), die die Geschichte des „Alten Reichs“ völlig neu evaluiert hat und Einsichten bietet, die eine Überprüfung der herkömmlichen Ansichten über das Verhältnis von Sprache und Nation im deutschsprachigen Raum in dieser Zeit notwendig machen.

Standardsprache zwischen Norm und Praxis

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