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3.2. Zur sozialen Bedeutung von Standardsprachen
ОглавлениеAn dieser Stelle müssen wir jedoch die Grenzen der soziolinguistischen Perspektive erkennen und uns vor deren Beschränktheit hüten. In den letzten 50 Jahren hat sich die relativ neue soziolinguistische Forschung darum bemüht, das ganze Spektrum der Variation in einer Sprachgemeinschaft und die Bedingungen des Gebrauchs von Varietäten und Varianten eingehend zu untersuchen und die Funktion der Variation in der Gesellschaft zu verstehen, neuerdings auch in einem historischen Kontext (vgl. u.a. Elspaß et al. 2007). Die Prestige- bzw. Standardvarietät sollte nicht mehr den alleinigen Fokus der linguistischen Untersuchung bilden, wie es früher oft der Fall gewesen war, und Sprachwissenschaftler sind von den präskriptiven und normativen Traditionen der Vergangenheit abgekommen, die Milroy & Milroy (1999) treffend als die „Ideologie des Standards“ bezeichnet haben. Dazu gehört die Vorstellung, dass es nur eine gültige, bzw. „korrekte“ Form einer Sprache gebe und dass jede Abweichung von den Normen dieser Varietät als unrichtig oder schlecht zu betrachten sei. Auch wurde die Entstehung sowie auch der Status von Standardvarietäten in Sprachgemeinschaften eingehend untersucht, was zu der schon erwähnten Erkenntnis von Haugen (1966) führte, dass es sich bei diesen grundsätzlich um „kulturelle Artefakte“ handelt, die charakteristischerweise durch die häufig absichtlichen Bestrebungen einer Bildungselite entstehen, der es im Laufe der Zeit gelingt, die Sprachgemeinschaft zu überzeugen, dass nur die von ihr präferierten Sprachformen Gültigkeit besitzen und dass andere konkurrierende Formen nicht korrekt bzw. einfach schlecht seien (vgl. für das Deutsche Davies & Langer 2006). Dabei ist zu erkennen, dass diese Elite von dem Mythos einer grundsätzlich homogenen und unveränderlichen Sprache ausgeht und ihre Bemühungen als die Festlegung dieser Varietät für alle Zeiten versteht (vgl. Joseph 1987). Solche Standardsprachen sind dann typischerweise Sprachen der Macht, die ihr Prestige von der kulturellen Elite gewinnen, die sie geschaffen hat, und sie werden im Bildungswesen als die allein gültigen Formen aufgezwungen und des Öfteren mit dem Staat als „Nationalsprachen“ identifiziert. In diesem Fall entwickeln sie einen enormen Symbolwert als repräsentativ für die Einheit und Selbstständigkeit des Staates oder der Nation und können letztendlich als Legitimierung für die Existenz des Staates benutzt werden. Viele Staaten haben Maßnahmen ergriffen, um die Vorherrschaft einer solchen Sprache sicherzustellen und dabei eine Situation zu schaffen, die mit Herders Vorstellung übereinkommt, dass der ideale Staat ethnolinguistisch einheitlich sein sollte, mit einem einzigen Sprachvolk in dessen erblichem Territorium.
Jedoch kann eine zu enge soziolinguistische Perspektive zu einer Unterschätzung der Funktion und des Status von Standardvarietäten und zu einer Überbewertung der Bedeutung der sprachlichen Variation führen. Auch heute wird diese Perspektive außerhalb der Sprachwissenschaft selten vollständig wahrgenommen, so dass die mit der „Ideologie des Standards“ verbundenen Mythen in weiten Kreisen der Bevölkerung häufig ohne Hinterfragung akzeptiert werden, insbesondere die Vorstellung, dass es eine einzig gültige, homogene Sprachvarietät gibt, so wie sie in den gängigen Standardwerken kodifiziert ist, und dass Abweichungen davon als Sprachverfall oder dgl. zu bewerten seien und von einem Mangel an Bildung, niedrigem sozialem Status, rustikaler Rückständigkeit oder sittlicher Verderbtheit zeugen. Diese Vorstellung herrschte aber schon Ende des 18. Jahrhunderts vor, zu einer Zeit, als Kompetenzen im Hochdeutschen ausschließlich im Bildungsprozess erworben werden konnten, weil es niemandes Primärsprache war. Für die Bildungselite galt aber diese Varietät als die „deutsche Sprache“ schlechthin. Für die Grammatiker des 17. und 18. Jahrhunderts, die die endgültige Form der Standardsprache kodifizierten, waren die Mythen einer homogenen, unabänderlichen Sprache eine Selbstverständlichkeit und sie stellten es sich als Ziel vor, die – in den Termini von Schottel (vgl. McLelland 2011) – grundrichtigen und somit für alle gebildeten Sprachteilhaber verbindlichen Formen dieser Sprache festzustellen. Wie Joseph (1987: 17) zu diesem Prozess schreibt: „There existed a general belief in an original God-given language, and in original, perfect and static forms of existing languages, from which actual usage could err“. Dialekte und andere gesprochene Varietäten wurden für korrupte Abweichungen von diesen festen Normen oder einen von Ungebildeten herrührenden Sprachverfall gehalten. Man nahm an, dass diese ursprüngliche, „echte“ Sprache mit Hilfe von Vernunft und Logik aufgedeckt und ihre Grammatik und Lexik dann für alle Zeiten in der Form von Präskriptionen kodifiziert werden konnte.
Diese Schreibsprache war im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts weitgehend kodifiziert (vgl. von Polenz 2013: 144–192) und im ganzen Reich als verbindliche Form des geschriebenen Deutsch akzeptiert worden – auch im Norden trotz des großen Unterschieds zu den autochthonen niederdeutschen Mundarten und in Österreich, wo bis zur theresianischen Sprachreform etwas andere Normen gegolten hatten (vgl. Wiesinger 2000). Und dieses Hochdeutsch war es und nicht irgendwelche gesprochenen Varietäten, das den wichtigsten Fokus für die Bestrebungen nach der Gründung eines Nationalstaates im 19. Jahrhundert bildete. Typisch für allgemeine Vorstellungen über Sprache im 19. Jahrhundert – sowie oft noch heute – war die Tatsache, dass man die Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache nicht zur Kenntnis nahm und dass man allein auf die geschriebene Sprache achtete. Wie Anderson (1991: 43–46) erkannt hat, genießen allein „print-languages“ Prestige, was sich auf drei Funktionen gründet. Erstens sind sie ein einheitliches Kommunikationsmittel für alle Sprecher der vielen Varietäten, die eine auch nur lose Verwandtschaft mit dieser Schriftsprache aufweisen. Dabei handelte es sich zunächst vielleicht um eine kleine Bildungsschicht, aber für diese bedeutete sie eine gemeinsame Kultur, die schon seit langem bestanden hatte, und für gebildete Deutsche im 19. Jahrhundert war die „Nation“ genau die durch diese Sprachform gestaltete Kulturnation. Zweitens haben „print-languages“ den Anschein der Permanenz. Sie entsprechen dadurch dem Mythos der Homogenität und der Unabänderlichkeit und scheinen die Vorstellung zu bestätigen, dass sie die ursprüngliche, althergebrachte, „reine“ Sprache verkörpern. Diese ahistorische Betrachtungsweise, die Annahme, dass es diese Sprache in genau dieser Form (wie auch das dazu gehörige Sprachvolk) immer gegeben hat, ist wesentlich für die Vorstellungen des 18. Jahrhunderts über Sprache und liegt den Ansichten Herders über das Verhältnis von Sprache und Volk zugrunde, sowie auch Fichtes Ideen über die Ursprünglichkeit des deutschen Volks und seiner Sprache. Drittens sind „print-languages“ die Sprachen von Herrschaft und Macht, sie wurden vornehmlich von einer Bildungselite geschaffen und deren Verbreitung ist ein Zeichen für die anhaltende kulturelle Dominanz dieser Elite. Abweichende Varietäten werden stigmatisiert und marginalisiert. Anderson (1991) verweist in diesem Kontext ausdrücklich auf das Beispiel des Niederdeutschen, und in der Tat stellt eine der bemerkenswertesten und zugleich wichtigsten Aspekte der deutschen Sprachgeschichte der Ersatz des Niederdeutschen als Schriftsprache in Norddeutschland nach 1600 dar (vgl. Sanders 1982 und von Polenz 2013: 234–240), denn dadurch sind die Einwohner des Nordens „Deutsche“ geworden (bzw. geblieben) und ihre angestammten Dialekte gelten als Varietäten der deutschen Sprache, obwohl sie linguistisch gesehen dem Niederländischen näher stehen.
Ein besseres Verständnis der Entwicklung wird daher nur möglich, wenn wir die Sprache und insbesondere die sprachliche Variation aus der zeitgenössischen Perspektive betrachten und nicht aus dem heraus, was uns die moderne Soziolinguistik darüber gelehrt hat. Denn es ist letztendlich das standardisierte Hochdeutsch gewesen, das im 19. Jahrhundert zum zentralen Fokus der nationalistischen Ideologie wurde, obwohl es sich, wie oben ausgeführt, von allen gesprochenen Varietäten des Deutschen unterschied und fast ausschließlich in der Schrift von einer kleinen Bildungselite verwendet wurde, wie Heinrich Bauer im ersten Band seiner Vollständige[n] Grammatik der neuhochdeutschen Sprache bestätigte (1827: I, 146): „In keiner Provinz Deutschlands wurde Hochdeutsch je gesprochen“ (zit. nach Evans 2004: 21). Diese Unterschiede in den tatsächlich verwendeten gesprochenen Varietäten waren jedoch nicht relevant, denn diese wurden als ungebildete Abweichungen aufgefasst, da allein die homogene und kodifizierte schriftliche Varietät als das echte korrekte Deutsch galt. Wie Hobsbawm (1992: 113) schreibt, am wichtigsten ist „the written language, or the language spoken for public purposes“, denn „linguistic nationalism was the creation of people who wrote and read, not of people who spoke.“ Und diese Gruppe, das Bildungsbürgertum, war es, die im 19. Jahrhundert die Ideen von Herder, Fichte, Humboldt und anderen über die Einzigartigkeit von Sprachvölkern aufnahm: Die ethnolinguistische Einheit der Sprach- oder Kulturnation, so wie diese auf der Basis der in der Schrift verwendeten Varietät empfunden wurde, galt als Legitimierung für das Streben nach einer Staatsnation, einem Ziel, das dann durch die Reichsgründung 1871 erfüllt wurde – obwohl das kleindeutsche Reich keineswegs dem Herderschen Ideal eines ethnolinguistisch einheitlichen Staats entsprach, dem alle deutschen Muttersprachler, und nur diese, angehörten.