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I. Theoretische Betrachtungen

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Im einleitenden Beitrag dieses Bandes stellt Martin Durrell zwei Ansichten über das Verhältnis zwischen Sprache und Nation im deutschsprachigen Raum des 18. und 19. Jahrhunderts zur Diskussion. Da ist zunächst die Annahme, dass die deutsche nationale Identität eine ethnolinguistische Basis hat und dann der daraus resultierende Topos, dass in Deutschland die sprachliche Einheit der politischen Einheit vorausging und die unabdingbare Voraussetzung für diese bildete. Durrell argumentiert, dass der Mythos einer grundlegenden, homogenen Sprache dazu beiträgt, dass die faktische Heterogenität der deutschen Sprache (vor allem auf mündlicher Ebene) ausser Acht gelassen wird und dass man sich auf die standardisierte schriftliche Varietät des Deutschen bezieht, wenn man die Sprache als Symbol der nationalen Identität instrumentalisiert. Dieser Mythos der einheitlichen Sprache hat auch die Perzeption des Deutschen als monozentrischer Sprache geprägt. Ferner zeigt Durrell mit Bezug auf neuere historische Untersuchungen des „Alten Reichs“, dass die sprachliche Einigung doch in einem Staatsgebilde stattfand, mit dem sich die Bildungselite identifizierte und das sich nicht so stark von einem modernen Nationalstaat unterschied, wie oft angenommen wird.

Entlang von Kleins Modell zur Erfassung sprachlicher Zweifelsfälle (Klein 2003) zeigt Regula Schmidlin, dass die Varianten des Standarddeutschen als freie, graduelle und konditionierte Zweifelsfälle betrachtet werden können. Dabei erweitert sie Kleins Modell um die Sprecherperspektive, hängt doch die Beurteilung der Korrektheit von regionalen und nationalen Varianten des Standarddeutschen von der regionalen Herkunft des zweifelnden Subjekts ab. Schmidlin plädiert dafür, nicht nur der Dynamik der Varietäten selbst, sondern auch der Dynamik der Einschätzung der Varietäten in Lehr- und Lernkontexten vermehrt Aufmerksamkeit zu schenken. Das Zweifeln über die Richtigkeit und Angemessenheit sprachlicher Varianten ist ein willkommener Anlass und Anfang von Sprachreflexion. Ein kompetenter Umgang mit lexikographischen und korpuslinguistischen Hilfsmitteln kann dabei Inkongruenzen zwischen subsistenten, statuierten und intuitiv vermuteten Normen aufzeigen.

Konstantin Niehaus präsentiert Erkenntnisse aus dem österreichisch-schweizerischen Projekt „Variantengrammatik des Standarddeutschen“, das die grammatische Variabilität des Standarddeutschen untersucht. Der Autor fokussiert den Mehrwert der korpus- und systemlinguistischen Zugangsweise und zeigt anhand von exemplarischen Analysen einzelner Konstruktionen, dass verschiedene Teilbereiche der Grammatik des Standarddeutschen eine areale Variation aufweisen. Da diese Variation über Staatsgrenzen hinausgeht, wird sie – laut Niehaus – adäquater mit einem pluriarealen Modell als mit dem plurizentrischen erfasst. Der Autor geht auch auf sprachdidaktische Folgerungen für den Deutschunterricht ein und argumentiert für mehr Variationstoleranz, die man seiner Meinung nach eher durch das pluriareale Modell und die höhere theoretische Gewichtung relativer Varianten als durch das plurizentrische Modell erreichen kann.

Die Eigenständigkeit der Standardsprache in Belgien stellt Robert Möller zur Diskussion, denn Deutsch ist in Belgien die Sprache einer kleinen Minderheit. Diese hat in den vergangenen Jahrzehnten zwar an Bedeutung gewonnen und spielt für die Identität der heutigen Ostbelgier eine wichtige Rolle. Die ostbelgischen Varianten werden aber explizit von der deutschen Standardsprache abgegrenzt (im Sinne von Varianten der „Regionalsprache“). In einem Überblick stellt Möller die Heterogenität der Konstellation in den Vordergrund, indem er den dialektalen Hintergrund der Region und ihre Teilung in das südliche Moselfränkisch und das nördliche Ripuarisch sowie die nachbarschaftliche Nähe zu Deutschland hervorhebt und dabei auch historische Entwicklungen in Verwaltung und Schulwesen identifiziert. Schliesslich weist er darauf hin, dass gerade die Identifikation mit Belgien dazu führt, dass die Pflege der Mehrsprachigkeit zumeist einen höheren Stellenwert hat als die eingehende Beschäftigung mit dem Deutschen.

Standardsprache zwischen Norm und Praxis

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