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3. Zur linguistischen Konzeptualisierung standardsprachlicher Variation

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Das Modell der Plurizentrik von Standardsprachen trägt dem Umstand Rechnung, dass Standardsprachen überall dort, wo sie National- oder Amtssprachen sind, aufgrund politisch-historischer Eigenentwicklung der betreffenden Gebiete Besonderheiten aufweisen. Dass das Nebeneinander (und nicht hierarchische Übereinander) von Standardvarietäten nicht zum kommunikativen Chaos führt, zeigt uns die Anglophonie (Trudgill & Hannah 2008). Britizismen gelten nicht als korrektere Varianten als Varianten anderer englischer Varietäten. Umgekehrt halten bspw. Amerikaner Britizismen nicht für weniger korrekt als die Varianten des General American Standard, auf den man sich global zunehmend bezieht und der (in Bezug auf den kommunikativen Umsatz weltweit) deshalb als dominante Varietät gelten dürfte. Das Englische kann auch auf eine lange plurizentrische lexikographische Tradition zurückblicken – begünstigt durch seine globale Verbreitung und die geographische Abgrenzung der einzelnen Standardvarietäten. Auch die Varietäten der südlichen Hemisphäre sind Teile des englischen Standardvarietätenkonglomerats. Wie verhält es sich im Vergleich dazu mit der Plurizentrik des Deutschen?

Die lexikalischen und semantischen nationalen und regionalen Varianten des Standarddeutschen sind mittlerweile gut dokumentiert und lexikographiert (Ammon et al. 2004, Ammon et al. 2016.) Die Variation der Standardsprache wird nicht durch die Landesgrenzen allein strukturiert, sondern ist auch regional bedingt (vgl. dazu sowie zur theoretischen Debatte zur Plurizentrik und Pluriarealität des Deutschen Niehaus in diesem Band). Quantitativ von geringerer Bedeutung als lexikalische und semantische Varianten sind grammatische Formen, deren systematische Erforschung erst in jüngster Zeit eingesetzt hat. Allerdings ist auch dieser Bereich nicht zu unterschätzen, wie die aktuellen Ergebnisse des Projekts Variantengrammatik des Standarddeutschen zeigen (Dürscheid & Elspaß 2015). Nachfolgend werden einige Beispiele solcher grammatischen Formen genannt, die Anlass zum Zweifel geben könnten, wo jedoch mehrere Varianten als korrekte Standardsprache gelten. Ich stütze mich bei den Beispielen auf Götz (1995), Bickel & Landolt (2012), Elspaß, Engel & Niehaus (2013), Dürscheid, Elspaß & Ziegler (2011), Dürscheid & Sutter (2014), aber auch auf Material des Variantenwörterbuchs (Ammon et al. 2004, 2016). Um der Anschaulichkeit willen werden die genannten Fälle im Folgenden gleich in Sprechakten des Zweifelns formuliert: Wo sagt man bin gestanden und wo habe gestanden? Darf man auch in einem formellen Text ich bin am Arbeiten schreiben, wenn man meint, dass man gerade dabei ist zu arbeiten? Was ist häufiger: Bestandesaufnahme oder Bestandsaufnahme, Mittelklass- oder Mittelklassehotel? Ist die artikellose Konstruktion bei Anfang oder Ende plus Zeitangabe (Ende Jahr, Anfang Februar) korrekt, inkorrekt oder salopp? Heisst es gewoben oder gewebt, gespiesen oder gespeist? Fragt man bei jemandem an oder jemanden an? Nimmt man sich jemandem an oder jemandes an? Mit welchen Genera können diese Wörter vorkommen: Salami, Achtel, Radio, Spray, Kamin? Welche Pluralformen haben Park und Bogen? Heisst das Wetter ändert etwas anderes als das Wetter ändert sich? Bereits sind die Professuren besetzt – ist an dieser Satzstellung etwas falsch? Vergleichbar selten, aber markant und lexikographisch bzw. grammatikographisch schwierig darstellbar sind pragmatische Unterschiede, also Unterschiede im Sprachgebrauch in bestimmten Situationen. Was sagt man nach einer kurzen Unterbrechung eines Telefongesprächs: Da bin ich wieder? Sind Sie noch da? Ebenfalls auf der Ebene der Sprachpragmatik anzusiedeln sind textuelle Unterschiede. In der geschäftlichen Brief- und Mailkorrespondenz zum Beispiel setzt man in der Deutschschweiz gewöhnlich nach der Anrede kein Komma und beginnt die erste Zeile der Nachricht mit Grossschreibung.

Rechtfertigen es nun solche Beispiele, von der Plurizentrik des Deutschen zu sprechen? Dazu hat es in der Linguistik einige Diskussionen gegeben. Einwände gegenüber dem plurizentrischen Konzept der deutschen Standardsprache können in verschiedene Kategorien eingeteilt werden. Genannt sei als erstes die quantitative Argumentation. Aus dieser Perspektive handelt es sich bei der plurizentrischen Variation um ein paar hundert lexikalische Besonderheiten, die nicht genügen, um von einer eigenen Varietät sprechen zu können – im Sinne Wardhaughs (1987), der in Bezug auf das Englische meinte, dass die Standardvariation eher eine Frage von flavor als von substance sei. Quantitativ argumentiert wird auch in Bezug auf die Lautung. So hat Besch (1990) vorgebracht, dass es die nationale und regionale Variation zwar gebe, dass sie sich aber auf die lautliche Ebene beschränke. Wer wesentliche Elemente nationaler Variation in der Schriftlichkeit suche, suche am falschen Platz, so Besch. Die Schrifteinheit, wie er es nennt, sei die Klammer der deutschen Sprachkultur. Weiter gibt es die Argumentation in Bezug auf die normative Geltung. Aus dieser Sicht gibt es zwar Varianten, diese seien aber dialektal. Konkrete Fälle standardsprachlicher Variation würden nicht nur von Laien, sondern auch von Sprachexperten unterschiedlich eingeschätzt. Dadurch, dass man sich in bestimmten Fällen auch unter Modellsprechern, Kodifiziererinnen und Normautoritäten über den standardsprachlichen Status der Varianten uneinig ist, sei sowohl das Konzept der Plurizentrik als auch der Pluriarealität in Frage gestellt. Ein weiterer Einwand gegen das plurizentrische Sprachkonzept ist derjenige, dass die postulierten nationalen Varietäten zu wenig einheitlich seien und es bereits innerhalb dieser Nationalvarietäten grosse areale Unterschiede gebe (vgl. Greule 2002: 58). Hier wird die alte Gliederung des deutschen Sprachraums stärker gewichtet als es die heutigen Staatsgrenzen werden. Gegenüber dem plurizentrischen Modell von Standardsprachen werden ferner kulturpolitische Einwände geäussert. Aus dieser Sicht ist die sprachliche und kulturelle Einheit durch standardsprachliche Varietäten bedroht. Scharfe Kritik wird schliesslich an der Begrifflichkeit der Plurizentrik-Theorie geübt, namentlich am tatsächlich problematischen Begriff Teutonismus (Schmidlin 2011: 75).

Was kann diesen Kritikpunkten entgegengehalten werden? Was die strukturlinguistisch und quantitativ orientierten Einwände anbelangt, ist auf den Unterschied zwischen Types und Tokens hinzuweisen. Gemessen an den Types, also am lexikalischen Inventar, betrifft die Variation der Standardsprache, wie bereits erwähnt, tatsächlich nur einen kleinen Teil des Wortschatzes. Je nach Textsorte kommen diese Wörter aber als Tokens recht oft vor und führen zu Differenzen in der Wahrnehmung von Texten (Schmidlin 2011: 177). Was die normative Geltung anbelangt, so trifft es zwar zu, dass die Einschätzung der Standardsprachlichkeit von Varianten divergieren kann, sogar unter Lexikographinnen und Lexikographen. Jedoch kommen Varianten auch in Qualitätszeitungen vor, welche in der modernen Lexikographie als Beleglieferanten eingesetzt werden, und ein deskriptiver lexikographische Ansatz fordert die Berücksichtigung dieser Varianten ein. Ferner kann das Argument, die Normautoritäten seien sich in Bezug auf die Beurteilung der Standardsprachlichkeit von Varianten des Standarddeutschen selbst nicht einig, dadurch entkräftet werden, dass dies bei anderen Variationsdimensionen, etwa der Stilebene, nicht anders ist. Zum areallinguistischen Einwand, wonach die nationalen Varietäten regional bereits sehr uneinheitlich seien, sei gesagt: Im plurizentrischen Konzept haben beide Variationstypen Platz. Die regionale und die nationale Variation schliessen einander nicht aus. So weist auch Reiffenstein (2001) auf die Durchkreuzung und Unterlagerung der nationalen Varietätsgrenzen durch regionale Variation hin. Niemand wird bestreiten, dass unspezifische Varianten – solche, die sich über die Regionen von mehr als einem Zentrum erstrecken (z.B. Bayern und Österreich) – ungleich häufiger sind als spezifische (z.B. nur in Österreich geltend). Dennoch gibt es sprachliche Bereiche, bei denen Staatsgrenzen kognitiv als Isoglossen wirken können. Mit den Staatsgrenzen gehen Sachspezifika und ein institutionell bedingter Wortschatz einher, wie etwa die Sprache der Gesetzgebung. Diese lexikalischen Spezifika wirken besonders auf die sprachliche Identitätsbildung und Identitätserkennung ein. Dem areallinguistischen Einwand kann also entgegengehalten werden, dass es die nationalen Varianten durchaus gibt, wenn auch viele davon Ausdrücke sind, die an nationale Sachspezifika gebunden sind, namentlich die politischen Systeme, das Schulwesen und das weite Feld der übrigen amtssprachlichen Bereiche. Was schliesslich die gefürchtete Bedrohung der sprachkulturellen Kohäsion betrifft: Die deutsche Sprache blickt auf eine lange plurizentrische Tradition zurück. Insgesamt war ihre Entwicklung seit der frühen Neuzeit eher eine Entwicklung der Konvergenz als der Divergenz. Beispiele für letztere (vgl. etwa DDR-Varianten) sind selten. Was für die Plurizentrik (unter Mitberücksichtigung der pluriarealen Variation) vor allem spricht, ist die sprachliche Realität selbst. Als Tokens lassen sich Varianten der Standardsprache besonders in alltäglichen und institutionellen Domänen in hoher Frequenz belegen, auch über Texte mit Lokalkolorit hinaus. Sie werden produziert und als solche von den Sprechern wahrgenommen. Das bedeutet nicht, dass die Varietäten des Deutschen als starre und klar definierte Konstrukte gesehen werden sollen; als System im System sind sie innerer und äusserer Dynamik unterworfen. Dass sich Sprecherinnen und Sprecher verschiedener Standardvarietäten in der Interaktion einander anpassen können und exonormative Varianten übernehmen können, muss ebensowenig als Widerspruch gegenüber dem Modell der Plurizentrik gelten; die Möglichkeit der sprachlichen Akkommodation der Sprecherinnen und Sprecher spricht nicht per se gegen Varietäten, mit denen sich die Sprecherinnen und Sprecher identifizieren.

Kommt dazu, dass man sich in einigen Fällen – das betrifft besonders die Lexik – für eine Variante aus einer Variantenreihe entscheiden muss, weil es keine überdachende gemeindeutsche Variante gibt. Dies zeigen z.B. die Variantenreihe Fleischer, Metzger, Fleischhauer, Schlachter etc. und Institutionalismen wie Matura, Matur und Abitur. Dies wird oft vergessen, wenn das monozentrische Modell (wonach die Standardsprache ein geographisch lokalisierbares Zentrum hat und eine Peripherie, die sich mit den Dialekten mischt) dem plurizentrischen Modell als das auch in der Didaktik einfacher handhabbare Modell gegenübergestellt wird mit dem Empfehlung, auf das Gemeindeutsche oder „Binnendeutsche“ (zur Problematik dieses Begriffs Schmidlin 2011: 87) zu fokussieren.

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