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5. Standardsprachliche Variation im Kräftefeld der Norminstanzen

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Wie die in Kap. 3 erwähnte Internetbefragung von über 900 Gewährspersonen zeigt, ist das in der Variationslinguistik und Lexikographie gut etablierte Konzept der Plurizentrik, das auf einer soliden empirischen Basis fusst (vgl. z.B. Schmidlin 2011: 144–177), in den Einstellungen der Sprecherinnen und Sprecher kaum vorhanden (vgl. Schmidlin 2011: 179–281). Insbesondere den Varianten des südlichen deutschen Sprachgebiets wird der standardsprachliche Status nicht zugetraut, selbst wenn ebendiese Varianten in Qualitätszeitungen belegt werden können und in den Kodices als standardsprachlich ausgewiesen sind.

Auch die Art und Weise, wie Lehrpersonen Sprachnormen vermitteln, wird von ihren eigenen Einstellungen gegenüber der Sprachvariation und ihrem theoretischen Konzept der Standardsprache geprägt. Lehrpersonen bilden einen Teil des Kräftefeldes, welches hinter der Standardisierung und Normierung von Sprachen steht: Sie werden als Normautoritäten wahrgenommen, die neben Lexikographinnen und Lexikographen, Modellsprechern und -schreiberinnen sowie Sprachexpertinnen und -experten das Kräftefeld der Sprachnormierung bilden (vgl. Ammon 1995: 80), auch wenn sie sich dieser Rolle möglicherweise nicht immer bewusst sind. Über die Gewichtung dieser einzelnen Akteure in Ammons Modell kann man diskutieren; unabhängig davon sind Normen nichts anderes als das Produkt sozialer Prozesse, in denen bestimmte sprachliche Phänomene einen normativen Status bekommen oder dabei sind, diesen zu bekommen, andere nicht oder noch nicht (vgl. Auer 2014). Normen sind nichts mehr als dies, aber auch nichts weniger.

Wird jedoch verinnerlicht, in einer Sprachregion zu leben, wo nicht richtig Hochdeutsch gesprochen (oder sogar geschrieben) wird, kann sich dies negativ auf das Selbstbild in Bezug auf die standardsprachliche Kompetenz auswirken – zum Selbstbild der Standardsprachkompetenz bei Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern vgl. z.B. Schläpfer, Gutzwiller & Schmid (1991), Hägi & Scharloth (2005), Schmidlin (2011: 231f) sowie Studler (2013).1 Um dem negativen Selbstbild in Bezug auf die Standardsprachlichkeit entgegenzuarbeiten, sollen sprachliche Zweifelsfälle nicht als Kristallisationspunkt der eigenen vermuteten standardsprachlichen Defizite verstärkt werden – „weil ich in der Standardsprache unsicher bin, weiss ich nie, ob man Bahnhofbuffet oder Bahnhofsbuffet schreibt“ –, sondern als Zeichen der Dynamik des Sprachsystems betrachtet werden. Die innere Mehrsprachigkeit (de Cillia 2014) soll nicht in sprachliche Selbstzweifel münden („ich spreche verschiedene Varietäten des Deutschen, ich mische sie, ich fühle mich unsicher“), sondern als Ausgangspunkt für eine Form des Nachdenkens über Sprache dienen, das über die Dichotomie von korrekter vs. nicht korrekter Standardsprache hinausgeht (vgl. Rastner 1997, de Cillia 2014: 16) und vor der vielschichtigen Frage der situativen2, textuellen3 und inhaltlichen Angemessenheit4 bestimmter Varianten nicht zurückschreckt.5

Man könnte jetzt den Standpunkt vertreten, dass bereits die nicht regional und national bedingten Zweifelsfälle (vgl. den „Zweifelsfälle-Duden“, DUDEN 2011) genug sprachdidaktische Arbeit verursachen, und dass man den schulischen Unterricht mit der Kategorie der Zweifelsfälle, die durch die plurizentrische Sprachvariation entstehen, nicht zusätzlich belasten möchte. Tatsächlich ist gemäss Dürscheid & Sutter (2014) der Anteil der Zweifelsfälle im Zweifelsfälle-Duden, die ganz explizit auf regionale und nationale Varianten zurückgeführt werden können, gering: Nur 348 Einträge enthalten einen expliziten Verweis auf ein Geltungsareal (nordd. 29, südd. 63, deutschl. 10, schweiz. 97, österr. 149).6 Regional und national bedingte Zweifelsfälle nun aufgrund ihrer relativ geringen Anzahl Types zu vernachlässigen, halte ich nicht für angemessen, da die Varianten als Tokens – z.B. bin gestanden und habe gestanden – durchaus häufig sind. Zudem sind im Korpus, das dem Zweifelsfälle-Duden zugrunde liegt, vor allem die „Süddeutsche Zeitung“, die „Frankfurter Rundschau“, „Die Zeit“ und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ massgeblich. Dagegen wurden die überregionale Presse Österreichs und der Schweiz nur in sehr geringem Umfang berücksichtigt. Das Wörterbuch der Zweifelsfälle, von dem man ja annehmen könnte, es sei für alle Zweifelsfälle des Deutschen das einschlägige Referenzwerk, scheint in Bezug auf die regionale und nationale Variation des Standarddeutschen also nicht umfassend genug zu sein. Die Situation wird jedoch dadurch entschärft, dass man sich über die Standardsprachlichkeit von sehr vielen Varianten bereits in anderen Wörterbüchern ein Bild machen kann – oder könnte, wenn man wollte.

Es gibt verschiedene Studien, die nachweisen, dass Lehrkräfte in ihren Korrekturen sprachliche Formen und Ausdrucksweisen anstreichen, die von den Kodices eigentlich zugelassen werden (vgl. Davies 2000 und Davies in diesem Band), von den Lehrkräften dennoch mehrheitlich als falsch angestrichen werden – im Sinne von Klein 2003 also wie eine Nullvariante behandelt wird. Henggeler (2008) zeigte ebenfalls auf, dass einige Konstruktionen von Lehrerinnen und Lehramtsanwärtern als falsch angestrichen werden, obwohl die Kodizes die Formen ausdrücklich akzeptieren, wie z.B. der doppelte Akkusativ neben der ebenfalls standardsprachlich anerkannten Dativ-Akkusativ-Konstruktion (Dieses Abenteuer kostete mich /mir fast das Leben). Ferner sind Korrekturen von Lehrkräften heterogen und zuweilen widersprüchlich. Häcker (2009) (vgl. Dürscheid 2011: 163) konnte grosse Unterschiede in der Korrektur von Abiturarbeiten nachweisen. Die Fragilität des Fehlerbegriffs und die Varianz der Fehlerwahrnehmung und Fehlerkorrektur auch bei professionell mit Sprache umgehenden Personen zeigt eindrücklich Henning (2012) (vgl. Schneider 2013: 30).

An dieser Stelle fragt man sich vielleicht, wie es zu diesen Divergenzen und teilweise ungerechtfertigten Korrekturen kommen kann, die doch durch den Blick in einschlägige Wörterbücher und Grammatiken hätten vermieden werden können. Es geht mir hier nicht etwa darum, Wörterbücher gegen die sprachliche Intuition der Lehrerinnen und Lehrer in Stellung zu bringen, sondern vielmehr um ein Plädoyer für die Differenzierung zwischen statuierten, subsistenten und individuell vermuteten Normen. Die vielfältigen lexikographischen und korpuslinguistischen Mittel, die aus variationslinguistischer Forschung hervorgegangen sind, können dabei hilfreich sein.

Wie gut ist der Griff zum Wörterbuch oder zur Grammatik im Alltag von Lehrpersonen verankert? Wie bekannt sind die mittlerweile gut ausgebauten lexikographischen elektronischen Portale oder auch, für die explizite Thematisierung von Zweifelsfällen auf höheren Schulstufen, die durchsuchbaren Korpora wie DWDS7, OWID8 und COSMAS9? Auch zur im vorliegenden Aufsatz diskutierten standardsprachlichen Variation gibt es neben dem Variantenwörterbuch (Ammon et al. 2004, 2016) einige lexikographische Werke: Bickel & Landolt (2012), Meyer (2006), Ebner (2009), Österreichisches Wörterbuch (2012). Aber bereits in den Vollwörterbüchern (DUDEN Deutsches Universalwörterbuch 2015, Wahrig 2006) und in Wörterbüchern für Deutsch als Fremdsprache (z.B. Langenscheidts Grosswörterbuch Deutsch als Fremdsprache 2003) bekommt man Informationen zu nationalen und regionalen Varianten des Standarddeutschen. Selbst die Aussprachevariation der Standardsprache ist dokumentiert – s. z.B. König (1989) und Krech et al. (2010). Die lexikographische Datenlage zu den regionalen und nationalen Varianten des Standarddeutschen kann also als gut bezeichnet werden. Dennoch: Einzelne Studien weisen darauf hin, dass generell nicht gern in Wörterbüchern nachgeschlagen wird (Engelberg & Lemnitzer 2009: 86) – lieber nehme man ein grosses Mass an Unsicherheit bei der Textproduktion in Kauf, als dass man ein Wörterbuch zurate ziehe. Eine gewisse Wörterbuchabstinenz ist auch in anderen so genannten Sprachberufen beobachtbar. So wies Markhardt (2005) darauf hin, dass professionelle Übersetzerinnen und Übersetzer Zweifelsfälle eher informell im Fachkollegium klären, als sie in Wörterbüchern nachzuschlagen. Inwiefern trifft dies auch für Lehrerinnen und Lehrer zu? De Cillia (2014: 17) zitiert eine Interviewerhebung des Klagenfurter Deutschdidaktikers Werner Wintersteiner, woraus hervorgehe, dass für die Beurteilung der standardsprachlichen Korrektheit letztendlich die individuellen Normvorstellungen der Lehrkräfte ausschlaggebend seien. Gerade die Varietätenfrage finde im Unterricht kaum Niederschlag. Empirische Untersuchungen zum Nachschlage-Verhalten von Lehrkräften zur Klärung von varietätenbedingten Zweifelsfällen liegen erst punktuell vor. So hat z.B. eine Befragung von Läubli (2006) von 15 Lehrpersonen ergeben, dass zwar der Rechtschreibduden neben einem Schülerwörterbuch regelmässig konsultiert wird, aber keine Varianten überprüft werden.

Wie bereits erwähnt, gibt es eine Reihe von lexikographischen Werken, die Zweifelsfälle, die durch regionale und nationale Variation der Standardsprache entstehen können, zu klären helfen. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Kodices selbst nicht immer konsistent sind. Dürscheid & Sutter (2014) zeigen auf, dass das Wörterbuch Schweizerhochdeutsch. Wörterbuch der Standardsprache in der deutschen Schweiz (Bickel & Landolt 2012), das Variantenwörterbuch (Ammon et al. 2004) und das Wörterbuch Richtiges und gutes Deutsch. Das Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle (Duden 2011) Zweifelsfälle, die national und regional bedingt sind, teilweise unterschiedlich behandeln. Dies hänge einerseits damit zusammen, dass es keine klare Unterscheidung von standardsprachlichen und nonstandardsprachlichen Varianten gibt. Dürscheid & Sutter (2014) monieren zudem, dass das Variantenwörterbuch die Kategorie „Grenzfall des Standards“ in 10 % der Einträge vergibt. Dies trage nicht zur Klärung bei und sei für den Benutzer unbefriedigend. In einem Wörterbuch zur standardsprachlichen Variation erhoffe man sich eindeutige Aussagen zum Status einer Variante. Wo das nicht möglich sei, solle man besser auf einen Eintrag verzichten. Meines Erachtens handelt es sich bei diesen 10 % nicht um einen hohen, sondern im Gegenteil um einen geringen Anteil an Varianten, deren standardsprachlicher Status als nicht eindeutig ausgewiesen ist. Und anders, als Dürscheid & Sutter (2014) dies sehen, erachte ich die Markierung „Grenzfall des Standards“ gerade als besonders hilfreich bei der Klärung von (in Kleins Begrifflichkeit) konditionierten Zweifelsfällen, also solchen, deren Standardsprachlichkeit je nach Verwendungszusammenhang unterschiedlich beurteilt wird. Gerade die Grenzfälle des Standards halte ich als Ausgangspunkt für die Sprachreflexion für besonders wichtig. Sowohl Lehrkräfte als auch Lernende müssen damit umgehen lernen – auch mit dem Umstand, dass Varianten ihren Status ändern können. Dürscheid & Sutter (2014) nennen dazu das Beispiel, dass die nicht-reflexive intransitive Verwendung von ändern bspw. in Das Wetter ändert erst seit 2013 im Rechtschreib-Duden figuriert, und selbst die Mitglieder des Schweizerischen Dudenausschusses seien sich über die Standardsprachlichkeit dieser Konstruktion nicht durchwegs einig. Widersprüche in den Kodices liegen in der Natur der Dynamik von Varietätensystemen. Widersprüche in den Kodices sollen keine Entschuldigung sein, Wörterbücher nicht zu verwenden.

Bei der Vermittlung lexikographischer Kompetenzen sind die sprachwissenschaftliche Grundausbildung und die Fachdidaktik gleichermassen gefordert. Es geht nicht nur darum, dass Lehrkräfte Wörterbücher benutzen, sondern auch darum, das informative Potenzial von Wörterbüchern zu vermitteln und zu üben, wie man mit der Makro- und Mikrostruktur von Wörterbüchern umgeht. Gemäss Engelberg & Lemnitzer (2009) werden in Wörterbüchern generell vor allem die Rechtschreibung verifiziert sowie Bedeutungserklärungen nachgeschlagen. Andere Informationsangebote von Wörterbüchern werden ungleich seltener genutzt bzw. es wird nicht der für die spezifische Information vorgesehene lexikographische Slot verwendet. So würden Syntaxinformationen aus den Beispielen extrahiert anstatt aus dem grammatischen Apparat des Wörterbuchartikels (Engelberg & Lemnitzer 2009: 88). Die Umtexte von Wörterbüchern, welche explizite Erklärungen zur Lesart der Artikel liefern würden, werden selten zur Kenntnis genommen. Insgesamt konstatieren Engelberg & Lemnitzer (2009: 88–90) einen generellen Mangel in der Nachschlagkompetenz von Lernenden. Insbesondere in der muttersprachlichen Didaktik des Deutschen werde die Wörterbucharbeit nur unzureichend (sowie einseitig auf die Rechtschreibung fokussiert) berücksichtigt. Das Informationsangebot zur Angemessenheit der Lexik und Semantik und zu weiteren Sprachgebrauchsangaben wird offenbar zu wenig genutzt. Von zentraler Wichtigkeit im Zusammenhang mit regionalen und nationalen Zweifelsfällen scheint mir die Vermittlung des Stellenwerts arealer Markierungen zu sein. Möglicherweise kommt die Variantenskepsis dadurch zustande, dass die Markierungen schweiz. oder österr. nicht als Angabe zur Herkunftsregion einer standardsprachlichen Variante gelesen wird, sondern als Warnhinweis bei der Verwendung von Standardsprache – neben einem weiteren, weit verbreiteten Missverständnis, wonach ein Helvetismus eine Dialektvariante sei, die bei der Redaktion standardsprachlicher Texte eliminiert werden müsse.10 Dabei bräuchte es gerade für die Differenzierung zwischen Dialektalismen und standardsprachlichen Varianten – wahrscheinlich die grösste Herausforderung im Umgang mit variationsbedingten Zweifelsfällen – linguistisches Wissen und lexikographische Informiertheit. Die Variantentoleranz ist keineswegs ein Freipass für Dialektinterferenzen. Zum linguistisch-lexikographischen Wissen gehört, dass es keinen Grund gibt, das Poulet durch das Hähnchen oder das Trottoir durch den Bürgersteig zu ersetzen, aber dass gewunken als Partizip für winken standardsprachlich nicht korrekt ist, ebenso wie die einten und die andern anstatt die einen und die andern, anderst statt anders oder der ach-Laut anstelle des ich-Lauts bei der Aussprache, oder der ich-Laut anstelle des ach-Lauts.

Es gilt, zwischen dem Zweifeln selbst und den Zweifelsfällen zu unterscheiden (Dürscheid 2011: 155). Das didaktisch Interessante scheint der Prozess des Zweifelns zu sein, das Abwägen von Korrektheit und Angemessenheit. Antos (2003: 43) (vgl. Dürscheid 2011: 161) bringt es so auf den Punkt: „Dumme, Ignoranten, Stolze können nicht zweifeln. Ihnen fehlt gerade jenes Wissen, das sie benötigten, um Lücken, Unklarheiten oder Grenzen überhaupt erst erkennen zu können.“ Bleibt zu hoffen, dass die digitalen Möglichkeiten, lexikographische und grammatikographische Mittel zu nutzen, sowie korpusgestützte Analysen von Zweifelsfällen (vgl. dazu Konopka 2011) vermehrt Einzug in die Lehrerausbildung halten. Nicht nur, um Korrektheit und Angemessenheit von Varianten gezielt zu überprüfen, sondern auch um damit umgehen zu lernen, dass Varianten ihren Status ändern können und ihre Angemessenheit an einen spezifischen Verwendungszusammenhang gebunden sein kann, aber nicht muss.11

Standardsprache zwischen Norm und Praxis

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