Читать книгу Standardsprache zwischen Norm und Praxis - Группа авторов - Страница 6
II. Empirische Studien
ОглавлениеIn den Beiträgen von Winifred V. Davies, Eva L. Wyss & Melanie Wagner werden die Ergebnisse der Studie „Deutsch im gymnasialen Unterricht: Deutschland, Luxemburg und die deutschsprachige Schweiz im Vergleich“ vorgelegt, die an den Universitäten Aberystwyth, Basel und Luxemburg durchgeführt wurde. Das Projekt untersucht das Normbewusstsein und -wissen von DeutschlehrerInnen an Gymnasien in Luxemburg, Deutschland (Nordrhein-Westfalen) und der deutschsprachigen Schweiz und beschäftigt sich mit ihrer Rolle als Sprachnormautoritäten. Anhand von Daten, die mit Hilfe von Fragebögen erhoben wurden, werden die Praktiken der Lehrenden in den drei verschiedenen Ländern beleuchtet, in denen die deutsche Sprache eine jeweils unterschiedliche Rolle spielt:
Winifred V.Davies beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Rolle von DeutschlehrerInnen in einer bestimmten deutschen Region (Nordrhein-Westfalen) und untersucht, inwiefern das Plurizentrik-Modell, das in der Soziolinguistik bisher dominant war, den Lehrenden überhaupt bekannt ist und sich auf ihre Praxis auswirkt. Davies zeigt, dass das Modell in den Lehrplänen, die die Lehrenden befolgen sollen, nicht vorkommt und keine Relevanz für sie besitzt. Sie zeigt auch, dass die Meinungen der Lehrenden darüber, was als korrekt bzw. standardsprachlich gilt, nicht immer mit den Meinungen der Kodifizierer übereinstimmt, was das Konzept einer einheitlichen variationsfreien Standardsprache weiter in Frage stellt.
Mit einem Fokus auf die Schweizer Sprachsituation zeigt Eva L.Wyss die Komplexität, die der Überlagerung von Diglossie und Plurizentrik in der Deutschschweiz erwächst. In einem ersten Teil werden die aktuellen Ergebnisse zu konstellativen, medialen, spracherwerbsbezogenen und unterrichtlichen Spezifika des deutschschweizerischen Raumes zusammengefasst, was in einer Kritik am weit verbreiteten Diglossiekonzept mündet, das gemäss Wyss durch eine differenzierte Sprachgebrauchsbeschreibung abgelöst werden sollte. Im zweiten Teil werden die Daten der erwähnten international vergleichenden Studie aus Deutschschweizer Perspektive ausgewertet. Hier finden sich bei den DeutschlehrerInnen sehr vage und variate Standardsprachkonzepte, die auch in den Curricula (vgl. Davies in diesem Band) nachgewiesen werden können. Darauf abgestützt erstaunt nicht weiter, dass auch die sprachdidaktische Situation von DeutschlehrerInnen nicht einhellig als muttersprachlich wahrgenommen wird. Schliesslich werden die divergierenden Einschätzungen der Sprachsituation und wenig loyale Bewertungen von deutschschweizerischen Standardkonstruktionen durch die Lehrenden in drei Typen unterschieden – einmal als Anpassung an die höher bewertete Sprachform, dann als Eigenständigkeit sowie als eine Lücke im Sprachwissen. Diese Sprachgebrauchsrealität wird im Anschluss mit der Metapher des „schielenden Blicks“ erläutert, durch die eine konzeptionelle Inkohärenz als eine Überlagerung der Eigen- und Fremdperspektive begriffen wird.
Melanie Wagner widmet sich in ihrem Beitrag dem Status der deutschen Sprache im luxemburgischen Gymnasium. In einem ersten Schritt beleuchtet sie die Sprachensituation Luxemburgs sowie die aktuell angewandte Lehrmethode für das Fach Deutsch im luxemburgischen Schulsystem. Sodann stellt sie die Ergebnisse einer Befragung von DeutschlehrerInnen vor und liefert eine Analyse der Curricula des Fachs Deutsch im Gymnasium sowie von Leitlinien zur Sprachplanung und Sprachpolitik in Luxemburg. Anhand der Ergebnisse der Befragung und der Analyse der Dokumente zeigt sie, dass eine klare Kategorisierung der Lehrmethode für das Fach Deutsch (Deutsch als Erst-, Zweit- oder Fremdsprache) nicht möglich ist, was die Frage aufwirft, ob Luxemburg, wo Deutsch hauptsächlich Schulsprache, jedoch weder Umgangs- noch Erstsprache ist, heutzutage tatsächlich noch ein Halbzentrum im plurizentrischen Modell darstellt (vgl. Ammon 1995).
Rudolf de Cillia, Ilona Fink & Jutta Ransmayr berichten über das FWF-Forschungsprojekt „Das österreichische Deutsch als Unterrichts- und Bildungssprache“. Anhand einer Analyse von Lehrplänen, Studienplänen an Universitäten und pädagogischen Hochschulen, Lehrmitteln und einer Fragebogenerhebung bei Lehrpersonen und SchülerInnen aus ganz Österreich wird untersucht, ob das Konzept der Plurizentrik in der Ausbildung von Lehrenden bekannt ist, wie das Korrekturverhalten zur Sprachloyalität der eigenen Varietät in Beziehung gesetzt werden kann und ob eine Sensibilisierung der SchülerInnen für die Variation der deutschen Sprache stattfindet. Auch wenn das Konzept der Plurizentrik kaum bekannt ist, ist ein Bewusstsein für unterschiedliche Ausprägungen der deutschen Standardsprache durchaus vorhanden. Allerdings fallen die Einschätzungen der Varietäten unterschiedlich aus – beispielsweise je nach dem, ob man die Korrektheit oder Gleichwertigkeit von Varianten thematisiert. Es ergibt sich ein Komplex unterschiedlicher Variablen, die die Spracheinstellungen der Lehrkräfte beeinflussen, was wichtige Ansatzpunkte für künftige Vergleiche mit Lehrpersonen aus anderen Regionen des deutschen Sprachgebiets darstellt.
Der Aufsatz von Aivars Glaznieks & Andrea Abel präsentiert Ergebnisse linguistischer Analysen zur grammatischen Kompetenz aus einem korpuslinguistischen Forschungsprojekt zum Thema „Bildungssprache im Vergleich“, in dem auf der Basis von ca. 1300 Erörterungsaufsätzen aus Südtirol, Nordtirol und Thüringen die Schreibkompetenz von Oberschülerinnen und -schülern ein Jahr vor der Matura bzw. dem Abitur beschrieben wird. Interessant ist dabei die Tatsache, dass die Alltagssprache der meisten Schülerinnen und Schüler nicht mit der schulischen Varietät, der sogenannten Bildungssprache, gleichzusetzen ist, die im schulischen Kontext erwartet und schliesslich auch bewertet wird. Je nach Region kann die Alltagssprache mehr oder weniger grosse Unterschiede zur Standardsprache aufweisen und zudem durch regionale und nationale Varianten charakterisiert sein. In der Untersuchung gehen Glaznieks & Abel auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Schreibenden bei grammatischen Normverstössen ein. Dazu gehört die Frage, ob und gegebenenfalls welche regionalen Unterschiede bei Schreibenden im deutschen Sprachraum feststellbar sind, oder die Frage, inwiefern andere aussersprachliche Variablen wie Schultyp und Geschlecht in Bezug auf die Verteilung grammatischer Normverstösse eine Rolle spielen. Dabei stehen in der Darstellung der Ergebnisse Analysen zur Rektion im Mittelpunkt. Glaznieks & Abel interpretieren die meisten vorkommenden Rektionsfehler als Normunsicherheiten, die auf die gleichzeitige Beherrschung von verschiedenen Normen zurückzuführen sind. Bei Präpositionen mit Nebenkasus wird aber davon ausgegangen, dass sie als Zweifelsfälle beschrieben werden können, die vielen Deutschsprachigen Schwierigkeiten bereiten, egal, ob diese mehr als eine Norm beherrschen oder nicht. Es wird vorgeschlagen, authentische Beispiele für Zweifelsfälle, die in den Texten der Schülerinnen und Schüler vorkommen, im Unterricht zu verwenden, um eine Diskussion über angemessenen Sprachgebrauch anzuregen sowie die Lernenden unter Umständen auch auf Sprachwandelprozesse aufmerksam zu machen.