Читать книгу Standardsprache zwischen Norm und Praxis - Группа авторов - Страница 17

4. Zu einer Neuevaluierung der Bedeutung des „Alten Reichs“ im Standardisierungsprozess

Оглавление

Mit der kleindeutschen Reichsgründung unter preußischer Führung wurde jedoch dann eine narrative Teleologie assoziiert, nach der sie als Endpunkt eines natürlichen und unabänderlichen geschichtlichen Prozesses aufgefasst wurde. Diese wurde schon in den 1840er Jahren von Droysen in seinen Vorlesungen über das Zeitalter der Freiheitskriege suggeriert, wo er nach Sheehan (1989: 842–843) die Meinung vertrat, dass „it belonged to the true nature of the state to be national, and to the true nature of the Volk to have a state“, und sie kommt auch nach der Reichsgründung in Treitschkes Deutsche[r] Geschichte im neunzehnten Jahrhundert sehr klar zum Ausdruck. Diese These bezeichnet Hughes (1988: 150) als „a deliberate perversion of Germany’s history designed to present it as unbroken progress towards the Prussian-led creation of Kleindeutschland in 1871“. Allerdings lebe sie nach ihm immer noch im allgemeinen Bewusstsein weiter. Nach dieser Auffassung wurde durch die deutsche Einigung 1871 das natürliche Schicksal der Nation erfüllt, das im Mittelalter durch den Zerfall des Reichs nach der Stauferzeit und später durch die Einmischung fremder Mächte vereitelt worden war, was die ungerechte Verspätung der deutschen Nationsbildung zur Folge gehabt hatte. Dies war nun überwunden, und das deutsche Volk hatte nunmehr den Nationalstaat, der ihm immer zugestanden hatte. Diese Darstellung des Laufs der deutschen Geschichte gilt heute als vollkommen überholt, obwohl Wilson (2016: 3) schreibt, dass sie „still continues as the ‘basso continuo’ of German historical writing and perception, not least because it appears to make sense of an otherwise thoroughly confusing past“, aber ein Aspekt davon lebt immer noch weiter, und zwar die Vorstellung, dass das „Alte Reich“ ein im 18. Jahrhundert völlig überholtes Staatsgebilde gewesen sei, eine strukturlose Zusammensetzung von unbedeutenden Duodezfürstentümern und dgl., die keineswegs als nationaler Staat der Deutschen angesehen werden kann.

Damit gelangen wir jedoch zur zweiten eingangs gestellten Frage, und zwar wie bzw. warum trotz der Vielfalt der sprachlichen Variation eine einzige standardisierte Varietät der deutschen Sprache in diesem zerbröckelnden Reich ohne Hauptstadt und ohne zentrale Machtbasis entstehen konnte. Eine Antwort lässt sich nur finden, wenn wir die heute noch verbreiteten Vorstellungen über das „Alte Reich“ und den Verlauf der deutschen Geschichte in der frühen Neuzeit hinterfragen sowie auch die damit verbundene These, dass die sprachliche Einigung der politischen Einigung vorausging und erst die Basis für diese schuf. Dazu ist eine grundsätzliche Neubewertung des herkömmlichen Bilds des Heiligen Römischen Reichs nötig, indem wir erkennen müssen, dass das traditionelle in der deutschen Geschichtsschreibung kolportierte Konstrukt auch zur besprochenen „deliberate perversion of German history“ (Hughes 1988: 150) beiträgt, und zwar zur Darstellung der Reichsgründung unter preußischer Führung als Überwindung des Partikularismus, unter dem die deutsche Nation nicht nur nach dem Wiener Kongress gelitten hatte, sondern auch während des ganzen Bestehens des „Alten Reichs“.

Diese herkömmliche Darstellung des Verlaufs der deutschen Geschichte seit dem Mittelalter wurde jedoch in letzter Zeit stark revidiert. In der einleitenden Zusammenfassung des Inhalts von Evans et al. (2011) heißt es:

Over the last forty years or so, research on the history of the Holy Roman Empire of the German Nation (1495–1806) has been transformed almost beyond recognition. Once derided as a political non-entity, a chaotic assemblage of countless principalities and statelets that lacked coercive power and was stifled by encrusted structures and procedures, the Reich has been fully rehabilitated by more recent historiography. […] The multi-layered, federal structure of the old Empire and its system of collective decision-making have been held up as a model for a peace-loving, multi-ethnic Europe, a European Union avant la lettre. Other historians have described the Reich as the first German nation-state, a political configuration based not on power and expansion, but on rights and liberties, the rule of law and a structural lack of capacity for aggression.

Ausführliche Darstellungen dieser Neubewertung findet man außer bei Evans et al. (2011) vor allem bei Schmidt (1999), Whaley (2012) und Wilson (2016). In diesen Arbeiten wird z.B. die Ansicht vertreten, dass das Reich genauso gut als ein zusammenhängender, kohärent organisierter Staat zu betrachten sei wie andere, die zu dieser Zeit in Europa existierten, insbesondere nach der Reichsreform am Wormser Reichstag 1495. Es war natürlich kein Staat im modernen Sinne, aber wir müssen uns davor hüten, geschichtliche Staatsgebilde nach modernen politologischen Kriterien zu beurteilen. Insbesondere sind die Bemerkungen von Whaley (2012: 650) für unsere Diskussion relevant: „The constructed memories after 1871 came to overlay any sense of the Reich as it had actually existed“ sowie (2012: 441): „Diversity and complexity was no obstacle to a sense of belonging to a larger system or to identifying this system with the wider national community of the Germans. […] the overwhelming majority of educated Germans seems to have associated the Reich with the ‚nation‘.“ Wilson (2016: 7) beurteilt die Situation ähnlich: „Germans already saw themselves as a political nation well before unification in 1871, identifying the Empire as their natural home“. Eine ausführlichere Darstellung der sprachlichen Verhältnisse im „Alten Reich“ bietet Wilson (2016: 259–262).

Diese neuen Forschungsergebnisse führen unabdingbar zu dem Schluss, dass die These einer politischen Einigung auf der Basis einer schon vorhandenen sprachlichen Einigung auch ein ideologisches Konstrukt der nationalistischen Geschichtsschreibung um die Zeit der Reichsgründung war, mit dem Ziel, diese durch nicht-politische Argumente zu rechtfertigen. Die Neubewertung der Geschichte des „Alten Reichs“ lehrt uns aber, dass man sich als Deutscher vornehmlich durch die Identifizierung mit einem Territorium, und zwar mit dem des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, bezeichnete und letztendlich Untertan des Kaisers war, und nicht weil man Deutsch als Muttersprache hatte. Allerdings war, wie Abb. 1 zeigt, Deutsch die dominante Sprache innerhalb dieses Territoriums. Dann (1996: 45) behauptet zwar:

Aufgrund seines universalen Charakters und seiner territorialen Dimension konnte dieses Reich nicht zum Nationalstaat eines einzigen Volkes werden; seine politischen Grenzen deckten sich fast nirgendwo mit den ethnischen Siedlungsgrenzen seiner Bevölkerung.


Abb. 1: Reichsgrenze und Sprachgrenze1

Bei näherem Hinsehen ist diese Ansicht aber keineswegs stichhaltig. Erstens gibt es kaum einen heutigen europäischen Nationalstaat, dessen politische Grenzen mit sprachlichen übereinstimmen und der somit ethnisch einheitlich wäre. Aus Abb. 1 lässt sich klar erkennen, dass das „Alte Reich“ in dieser Hinsicht viel einheitlicher war als das Deutsche Reich von 1871, denn es fanden sich verhältnismäßig wenige Deutschsprachige außerhalb seiner Grenzen – wir haben es vorwiegend mit den relativ neulich vom Reich abgespalteten Gebiete des Elsass und der Schweiz, sowie Gebieten, die nie zum Reich gehörten, wie Ostpreußen und den Sprachinseln im Osten zu tun – und innerhalb des Reichs waren verhältnismäßig wenige Nicht-Deutsche – vor allem in den südlichen Niederlanden, in Böhmen und Mähren, im Tirol und im heutigen Slowenien. In Preußen und dem Habsburger Reich waren natürlich sehr viele Angehörige anderer Volksgruppen, aber diese Gebiete lagen jenseits der eigentlichen Reichsgrenzen.

Durch diese Schlussfolgerung wird natürlich die These, dass im deutschen Sprachgebiet vor allem die Sprache identitätsstiftend war, grundsätzlich in Frage gestellt. Wir können weiter daraus schließen, dass der Standardisierungsvorgang im Deutschen ebenso sehr mit einem Staatsterritorium verbunden war wie im Falle von ähnlichen Vorgängen bei den anderen größeren europäischen Sprachen und auf der Identifizierung mit diesem Territorium als Nationsstaat beruhte. Da dieser Staat kein politisches Zentrum und keine Hauptstadt hatte, entstand die Standardvarietät, anders als in Frankreich, England oder Spanien, nicht an einem königlichen Hof und hatte keine Verbindung mit einer gesprochenen Varietät (etwa an einem fürstlichen Hof). Sie entstammte einem relativ komplizierten und erst in letzter Zeit einigermaßen einwandfrei erforschten Selegierungsprozess unter regionalen Schreibvarietäten (vgl. z.B. von Polenz 2013: 144–192). Aber sie war nicht minder eine werdende National- und Staatssprache als die anderen europäischen Sprachen, und die kulturpatriotischen Grammatiker und Dichter, die sie pflegen wollten, haben sie explizit als solche betrachtet. Insbesondere sind Gottscheds Bemühungen in der Deutschen Gesellschaft so zu verstehen, denn sie bezeugen nach Whaley (2012: 342) „a growing identification with the Reich“ und stellten sich als Ziel vor, dass

true patriots should seek to speak a common High German language free of dialect or provincial elements, and in this way the cultivation of the common language would be the first step towards the promotion of the ‚honour of the Germans‘.

So entstand im 17. und 18. Jahrhundert eine standardisierte Sprache, die den zeitgenössischen Ansprüchen an eine homogene Kultursprache entsprach, in einem Staatsgebilde, mit dem sich die maßgeblich am Prozess der Standardisierung beteiligte Bildungselite identifizierte und die es als „Deutschland“ bezeichnete. Auf diese Weise unterstützt der hier dargestellte Standardisierungsvorgang die von Schmidt (1999), Whaley (2012) und anderen vorgeschlagene Neubewertung des „Alten Reichs“ und widerlegt die traditionelle Annahme, dass in Deutschland die sprachliche Einigung vor der politischen Einigung erfolgte. Wir konnten zeigen, dass es sich bei dieser These um ein ideologisches Konstrukt handelt, das die Gründung des kleindeutschen Reichs 1871 unter preußischer Führung rechtfertigen und diese gleichzeitig als den lang ersehnten ersten echten deutschen Nationalstaat vorstellen sollte, der es eigentlich nicht war. Und auf dieser Basis lässt sich natürlich auch erklären, dass diese Sprache nach der modernen Etablierung unabhängiger Staaten mit Deutsch als offizieller Landessprache auch polyzentrisch geworden ist.

Standardsprache zwischen Norm und Praxis

Подняться наверх