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5. Abschließende Gedanken für die Anwendung im Grundschulunterricht
ОглавлениеDie Natur als ehemals weithin unbekanntes Phänomen hat längst ihren bedrohlichen Charakter verloren, und zwar im Hinblick auf zahlreiche, furchteinflößende meteorologische Phänomene (wie Gewitter, Hagelsturm usw.) – die heute großteils natürlich erklärbar sind. Andererseits beschäftigt Natur heute den Menschen durch eine Bedrohlichkeit, die sich als Folge menschlichen Handelns in und an der Natur ergibt.
Umwelterhaltung und Klimaschutz sind, wie hier in Bezug auf historische Kinderliteratur abgehandelt, entscheidende Herausforderungen von heute. In seiner rasanten technischen Entwicklung eröffnet das Anthropozän, dieser kurze Abschnitt der Erdgeschichte, ungeahnte neue Möglichkeiten für die Spezies des Homo Sapiens: in Medizin, in Forschung und Wissenschaft, in Mobilität. Dies bringt dem Geschöpf Mensch, das wie kein anderes Wesen vor ihm die Erdgeschichte geprägt hat, gleichzeitig aber auch große Risiken: eine unkontrollierte oder kriegerisch eingesetzte Atomkraft, eine Überbevölkerung und ungerechte Ressourcenverteilung, eine künstliche Intelligenz mit ihren Möglichkeiten zur grenzenlosen Kontrolle des Individuums, und eben eine Zerstörung der Umwelt, ein Artensterben, einen Klimawandel, der zwangsläufig auf den Menschen zurückschlägt. Junge Menschen rechtzeitig mit diesem Thema zu befassen und sie zu gesellschaftspolitisch verantwortungsvollen Akteur*innen zu machen, ist eine vordringliche Aufgabe.
Diskutiert wurde im Rahmen dieses Artikels, inwieweit Kinderliteratur auch von vor fünfzig Jahren einen wertvollen Beitrag zur Bewusstseinsbildung bei Kindern leisten kann. In Österreich entstandene Bilder- und Kinderbücher aus vergangenen Epochen finden heute im Grundschulbereich wohl immer wieder, aber vielleicht nicht ausreichend systematisch Verwendung: Neuere Didaktisierungsvorschläge zur Nachhaltigkeit für den Deutschbzw. Sachunterricht greifen oft nicht auf ältere Kinderliteratur zurück (vgl. etwa Nosko & Plank 2020). Eine Didaktik, die auf generationenübergreifendes Literaturwissen verzichtet, beraubt sich jedoch selbst einer wichtigen Dimension, da sie sich dem Primat ständiger Erneuerung unterwirft. Der Vorwurf der Überalterung von Text und Bildern liegt nahe, lässt sich aber bei einer überlegten Auswahl entkräften. Literarästhetisches Lernen ist im Lernraum Schule an keine Altersstufe gebunden, bereits im Grundschulalter können Texte aus der historischen Kinderliteratur herangezogen werden. Die Auswahl erfordert jedoch Geschick: Sprache ändert sich nicht nur rein äußerlich (Rechtschreibung und Grammatik), auch die Benutzung gewisser Ausdrücke und Sprachbilder ist einem stetigen Wandel unterworfen. Die in den Medien oft sehr einseitig geführte Debatte um politische Korrektheit in Kinderbüchern müsste weitaus differenzierter geführt werden, indem bereits früh ein Bewusstsein für ihre Konstruktion, den Wandel in der sprachlichen und bildlichen Darstellung geschaffen wird. Konkrete didaktische Modelle stellen bislang ein Desiderat dar.
Historische Kinderliteratur wie Lobes und Weigels Bilderbuch können im Sinne einer größeren Sensibilisierung einen wichtigen Beitrag leisten, da in ihnen ein offener Protest in einer deutlichen Form gezeigt wird. Der Nachhaltigkeitsdiskurs lässt sich seit den 1970er-Jahren verstärkt in der österreichischen Kinderliteratur nachweisen. Dies wurde exemplarisch an Kinderbüchern, welche die sozioökologische Transformation behandeln, gezeigt. Dabei konnte (kindliche) Empörung als ein zentrales Motiv ausgemacht werden. Der Widerstand der Kinder richtet sich aber, und dies wurde in den ausgewählten Kinderbüchern deutlich, anders als heute vielmehr auf das unmittelbare Umfeld. Veränderung fängt, auch dies mag eine wichtige literaturdidaktische Erkenntnis sein, im Kleinen an. Dabei stellt sich gerade im Grundschulbereich die Frage, wie bei Kindern eine Bewusstseinsbildung für etwas geschaffen werden kann, das wir ständig auch zerstören. Einige Anhaltspunkte dafür liefern die hier vorgestellten Texte.
Nicht nur aktuelle Publikationen eignen sich zur Vermittlungsarbeit in der Primarstufe. Es gilt, auch im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur bei Grundschullehrkräften ein Sensorium zu entwickeln, das weit über tagesaktuelle Publikationen hinausreicht. Tante Tintengrün greift ein und Da ist eine wunderschöne Wiese können so nicht nur als Umweltgeschichten gedeutet werden, da auch das soziale Element, das Miteinander der Generationen schlussendlich zum Erfolg führt. Die unterschiedlichen grafischen Techniken in Das Städtchen Drumherum – so werden Blätter etwa mittels eines Druckverfahrens als Bäume dargestellt – lassen sich im Unterricht nachahmen. Literarische Erfahrungen sollen im Sinne eines mehrdimensionalen Lernens nicht nur auf die Textarbeit konzentriert bleiben, sondern können so haptisch erfahrbar werden. Auch damit wird ein durchaus zeitgemäßer Ansatz im Sinne des literarischen Lernens bemüht: Ästhetische Erfahrung bleibt also keineswegs auf die reine Textebene beschränkt. Gezeigt werden konnte, wie sehr die Kinderliteratur um 1970 das Ernstnehmen kindlicher Anliegen in den Mittelpunkt rückte. Die sozioökologischen Debatten, die damals noch visionär wirkten, wie in Das Städtchen Drumherum dargestellt, werden heute umgesetzt. Umwelterziehung hat eine starke politische Implikation, schließlich geht es um die Vermittlung von andauernden Werten.
Abbildung 5: Vision einer Stadt mit Wald in der Mitte. (© Verlag Jungbrunnen Wien)
Verwiesen wurde auch auf den hohen Einfluss der Theorien von Piaget und Kohlberg. Gerade im Bereich der politischen Bildung wurde bereits gezeigt, wie sehr sich Stufenmodelle wie die von Lawrence Kohlberg für den Unterricht eignen (vgl. Reinhardt 2013). Anwendungsmöglichkeiten für den Deutschunterricht, über den Elementar- bzw. Primarstufenbereich hinaus, sind naheliegend: Gerade Bilderbücher und Erstlesebücher sind in ihrer vermeintlichen Einfachheit mehrfachadressiert und verfügen über vielfältige didaktische Einsatzmöglichkeiten. Es wäre gewinnbringend, ältere Texte der Kinderliteratur auch in diesem Sinn wiederzuentdecken.
Diskutiert wurde darüber hinaus, ob die heutige Jugend – auch im Vergleich mit früheren Generationen – politikverdrossen sei. Anhaltspunkte dazu geben einige empirische Studien aus der Sozialwissenschaft. Stéphane Hessel machte in seinem Werk Empört Euch! (2010) drei große Probleme für die Zukunft aus, die heute nichts an ihrer Aktualität eingebüßt haben: Nachhaltigkeit, Verteilungsgerechtigkeit sowie Terrorismus. Doch die Wirkung der streitbaren Schrift begrenzte sich im deutschsprachigen Raum auf mediale Debatten, meist geführt von einem interessierten Publikum. Demonstrationen auf der Straße stellen heute nicht mehr das alleingängige Protestmittel dar. Große Kundgebungen, die meist schon eine globale Dimension („Fridays for Future“, „Black lives matter“) haben, scheinen heute zwar mehr denn je ein adäquateres Mittel, um Empörung zu zeigen. Darüber hinaus bieten die digitalen Medien Jugendlichen eine Vielzahl an Möglichkeiten, sich zu organisieren und ihren Unwillen zu äußern. Abseits der gängigen Social-Media-Plattformen geschieht dies oft in von außen nur schwer kontrollierbaren Bereichen. Anders als den Jugendlichen suggeriert wird, handelt es sich aber um keine rechtsfreien Zonen. Gefahren wie Radikalisierung in einem bislang unbekannten Größenausmaß sind heute präsenter als je zuvor. Kinder- und Jugendliteratur kann hier eine Art Brückenfunktion einnehmen, da in ihr ein Appell zur politischen Partizipation fernab von jeglicher Radikalisierung bewusst gemacht werden kann. Dies wurde in den hier präsentierten Textbeispielen der Literatur um 1970 deutlich. Im Gegensatz zur Radikalisierung werden in ihnen das Mitdenken sowie das Engagement im sozialen und ökologischen Bereich gefordert.