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4. Wiederkehrende Motive im Nachhaltigkeitsdiskurs der 1970er-Jahre
ОглавлениеDie 1970er-Jahre sind auch die Zeit eines neuen Miteinanders auf Seite der Autor*innen und Institutionen. Die akademische Etablierung der Literatur für die Jugend beschleunigte sich, wobei die internationale Vernetzung zunahm. Dafür steht etwa die Gründung der „International Research Society for Childrens’ Literature“ (1970). Für die (oftmals internationale) Zusammenarbeit stehen viele Anthologien, die damals entstehen und Schreibende aus unterschiedlichen Ländern versammeln. Der Verleger Hans Joachim Gelberg war selbst an diesen Prozessen beteiligt. Er nennt die größte Errungenschaft der Autor*innen dieser Zeit, eine „Literatur wirklicher Nähe“ (Gelberg 2015, 8) geschaffen zu haben: „Literatur der Erfahrung also, Literatur im Generationen-Dialog, Entwicklung sozialer Fantasie. Das Wagnis, Kindern eine Literatur vorzulegen, die Anspruch und Maßstab aus der Erwachsenenliteratur bezieht.“ (Gelberg 2015, 8) Engagiert waren viele Verlage tätig, für Deutschland stehen hier etwa Beltz-Gelberg, Bitter und Anrich, Ellermann, Hanser sowie Suhrkamp (vgl. Doderer 2015, 5).
In Österreich erschienen zahlreiche – damals als „fortschrittlich“ geltende Texte – bei Jungbrunnen und Jugend & Volk. Hier wurden die meisten Texte der Gruppe der Wiener Kinder- und Jugendbuchautor*innen veröffentlicht. Die Gründung dieses Kollektivs kann als eines der stärksten Signale für die Aufbruchsstimmung der 1970er-Jahre gedeutet werden. Sie stellt in der österreichischen Kinderliteraturgeschichte eine Zäsur dar, da sie auch als ein Widerstand gegen die Deutungshoheit etablierter Einrichtungen, wie dem Buchklub der Jugend, gesehen werden (vgl. Seibert 2015, 72). Verbunden mit der Eigeninitiative der Autor*innen war das Bemühen um eine Neudeutung der Kinderliteratur im literarischen Diskurs, fernab der Vorherrschaft institutioneller Settings und Regelungsversuche. Zum engsten Kreis dieses Kollektivs zählten neben Mira Lobe, Wilhelm Meissel (1922–2012), Vera Ferra-Mikura (1923–1997), Hans Leiter (1926–1990), Käthe Recheis (1928–2015), Ernst A. Ekker (1937–1999), Renate Welsh und Lene Mayer-Skumanz (*1939). Zeittypische Diskurse dürften bei der Themenauswahl eine wichtige Rolle gespielt haben. Den Einzelwerken der Autor*innen folgten bis in die 1980er-Jahre hinein zahlreiche Anthologien, in denen unterschiedliche Facetten des Nachhaltigkeitsdiskurses (u.a. Umweltschutz, Ressourcenknappheit, Afrika) aufgenommen wurden (vgl. Huemer 2015, 114). Dabei sind die Texte als Signal an eine junge Generation zu verstehen, das einen klaren Aufruf zur politischen Partizipation impliziert. Aber auch die Einzeltexte der Autor*innen, die in der Gruppe stark besprochen wurden, weisen „Empörung“ als ein zentrales Motiv auf. In Die Zeiger standen auf halb vier (1987), einem der letzten preisgekrönten2 Kinderbücher des unter dem Pseudonym Hans Domenego schreibenden Autors Hans Leiter, wird die Welt aus Sicht eines hochbegabten Kleinkindes erzählt. Seine Wut richtet sich gegen die Erwachsenen:
Sagen Sie den afrikanischen Kindern, die morgen oder übermorgen an Hunger sterben werden: Euer Tod hat nichts mit Politik zu tun. Sagen Sie den Kindern, die wochenlang auf einem Floß übers Meer flüchten: Eure Angst hat nichts mit Politik zu tun. Vergessen Sie auch nicht die Kinder, die von Bomben verbrannt werden, von den Terror-Bomben der Attentäter und von den Terror-Bomben der Pflicht-Tuer in Militärflugzeugen, und erklären Sie ihnen: Eure Schmerzen haben nichts mit Politik zu tun. Und sagen Sie, bitte, den Kindern in den beiden Hälften der Welt: Der Hass, den man euch eingepflanzt hat, der hat nichts mit Politik zu tun. (Domenego 1987, 86)
Dabei findet sich in den Kinderbüchern, die im Kreis der Gruppe entstanden, ein deutlicher Appell, politisch mitzuwirken und nicht alles hinzunehmen. Der Vorwurf, solche Texte seien Radikalisierungsliteratur, wurde erhoben. Gerade Mira Lobes Roman Die Räuberbraut, dessen Veröffentlichung in die Zeit der RAF-Attentate fiel, löste heftige Kritik aus (vgl. Wolf 1978). Ökologie ist einer der vielen Themenkomplexe, der in Die Räuberbraut angesprochen wird. Auch hier kommt dieses Thema in Verbindung mit dem Motiv der (jugendlichen) Empörung vor. Die Protagonistin durchlebt jedoch einen Wandel von einer Träumerin hin zu einer sozial engagierten Akteurin: Am Ende gründet sie ein Kollektiv und beschließt, gemeinsam mit ihren Freund*innen „wirklich-etwas-zu-tun“ (Lobe 1974, 199), sich also in ihrem sozialen Umfeld für eine gerechtere Gesellschaft einzusetzen.
Interessant ist die Selbsteinschätzung der in diesem Kollektiv Mitwirkenden, die, zumindest was die Kinderbuchpublikationen in Österreich anbelangt, oftmals eine Art Themenführerschaft übernommen haben. Literatursoziologische Vergleiche mit anderen Autorenkollektiven, in denen die unterschiedlichen Wechselwirkungen (Mitwirkende, Verlage, Werke u.a.) berücksichtigt werden, stehen bislang noch aus. Die Herausbildung eines sozialökologischen Bewusstseins ist jedenfalls vielen Texten dieser Gruppe eingeschrieben. Es gab zahlreiche Einzelveröffentlichungen, die ebenso erkennen lassen, wie sehr sich die Gruppenmitglieder untereinander ausgetauscht haben. Exemplarisch mag dies an dem Kinderbuch Tante Tintengrün greift ein (1973) von Wilhelm Meissel gezeigt werden. Sowohl die Handlung als auch die Motive weisen frappierende Ähnlichkeiten zu Das Städtchen Drumherum auf.
Kurz sei der Plot an dieser Stelle skizziert: In den Städten Dinglstadt und Dunglstadt wird Stadterweiterung anvisiert, ein Flugplatz und etliche Hochhäuser sollen gebaut werden. Dies stellt jedoch eine Bedrohung für den idyllischen Wald dar, durch den ein kleiner Fluss läuft und der den Kindern bislang als Spielgrund diente. Sie sind es auch, die sich vehement gegen die neuen Baumaßnahmen wehren. Gemeinsam mit zwei Außenseiter*innen, Adelheid Tintengrün mit dem „Chlorophyllblick“ (Meissel 1973, 27) und dem lärmmeidenden Adalbert Seidelstroh, der über eine „Zeitstehstillmaschine“ (Meissel 1973, 29) verfügt, machen sie sich auf, den Wald zu retten. Anders als in Das Städtchen Drumherum bleibt es jedoch nicht nur bei einem bösen Traum. Die Dystopie wird zunächst Wirklichkeit und den Naturgeräuschen weicht industrieller Stadtlärm:
Mittlerweile aber bauten die Männer von Dinglstadt und Dunglstadt eine Untergrundbahn und eine Brücke über den See, und Autobahnen und Schnellstraßen und normale Straßen. Die Autofahrer auf den Autobahnen winkten denen auf den Schnellstraßen und umgekehrt, und die Autofahrer auf den normalen Straßen winkten denen auf den Schnellstraßen und umgekehrt, so nahe lagen die Straßen nebeneinander, mit einem Wort, es gab schon mehr Straßen als Futterweiden und Wiesen und mehr Unterführungen und Überführungen und Einfahrten und Ausfahrten und Zufahrten und Abfahrten als Rübenäcker und Weizenfelder. (Meissel 1973, 64)
Der Lärm hindert die Erwachsenen jedoch an ihrer Arbeit: Die Zerstörung soll wieder rückgängig gemacht werden. Die rettende Idee stammt wieder von einem Kind – die Zeit wird auf magische Weise zurückgedreht. Aus Dank wird er von den etwas titelverliebten Erwachsenen zum „Professor für Naturzustandserhaltung“ (Meissel 1973, 94) ernannt. Die Kinder schreiben diese Bezeichnung auf einen Zettel und verbrennen ihn. Am Ende steht, wie bereits in Das Städtchen Drumherum, der Wald als locus amoenus, der Kindern und Tieren gleichsam ein Refugium bietet:
Einige liefen hinaus aus dem Wald, an dessen Rand ein schmaler Ackerstreifen war, der niemand gehörte. Dort holten sie die Erdäpfel. Einige Hasen waren darüber verärgert, weil sie gestört wurden, ein Eichelhäher schimpfte hinter den Erdäpfelklaubern her, der Geruch von Holzfeuer und Föhrenharz zog schwer und süß durch das Unterholz, und ein Kuckuck rief von weither. Die Bäume warfen lange Schatten, der Wind schaukelte hohe Gräser, einige Wespen surrten durch die Luft. Auch Schmetterlinge gab es. Es war schön. || Hoffentlich gibt es ihn noch, den Dinglstädter und Dunglstädter Urwald – recht lange, immer, in ewige Zeiten. (Meissel 1973, 94)
Die Darstellung des Waldes ist in beiden Kinderbüchern durchaus ähnlich. Dem Wald wird zudem eine klare Bedeutung zugewiesen: Er ist ein Rückzugs- und Spielort, an dem Kinder und Tiere quasi friedlich nebeneinander walten. Auch rezente deutschdidaktische Publikationen betonen das Potenzial dieses Bestandteils des Lernraums Natur für den Unterricht: Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf das jüngst erschienene Heft ide. Informationen zur deutschdidaktik, das sich schwerpunktmäßig dem Wald widmet (vgl. Esterl & Mitterer 2021, 5–10).
Tante Tintengrün greift ein zählt, wie Das Städtchen Drumherum und Da ist eine wunderschöne Wiese, zu den erfolgreichsten Kinderbüchern mit sozioökologischem Anspruch der 1970er-Jahre. Sie zeigen noch deutlich die Aufbruchsstimmung der 1968er-Generation, die sich besonders stark im damals als „fortschrittlich“ bezeichneten Kinderbuch manifestierte. Alle drei waren Longseller und weisen durch ihre generationenübergreifende Bekanntheit einen allgemeinen hohen Wiederkennungswert auf, der erst heute, rund fünfzig Jahre später, nachzulassen scheint. Gemein ist den drei Texten, dass am Ende ein Ort in der Natur beschrieben wird, ein kindlicher Freiheitsraum, der bevormundungsfrei ist – wenn auch nicht frei von Erwachsenen. Solche Darstellungen sind geradezu exemplarisch und können auch als Sieg über den in der Kinderliteratur stark verfestigten „Traditionalismus“ (Ewers 2013) gesehen werden.