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2.2 „Speicher des Gedächtnisses“ – Erinnerungskulturen
ОглавлениеDer Begriff „Erinnerungskultur“ dient laut dem deutschen Historiker Hans Günter Hockerts (2002) „als lockerer Sammelbegriff für die Gesamtheit des nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichte in der Öffentlichkeit“ (Hockerts 2002, 41). Die Professorin für Anglophone Literaturen und Kulturen Astrid Erll (2008) deutet „Erinnerungskulturen“ als „historisch und kulturell variable Ausprägungen von kollektivem Gedächtnis“ (Erll 2008, 176). Die Schnittmenge beider Definitionen ist die Beschäftigung mit der Geschichte und dass es sich bei Erinnerungskultur nicht um eine unveränderliche Konstante handelt.
Erinnerung und Gedächtnis sind zwei fundamentale Kategorien des menschlichen Denkens. Der französische Soziologe Maurice Halbwachs hat in den 1920er-Jahren den Begriff des kollektiven Gedächtnisses geprägt, welches als „Teil der Identität einer sozialen Gruppe“ (Halbwachs in Reiter 2006, 321) verstanden werden kann. Jan und Aleida Assmann entwickelten daraus die Begriffe „kulturelles und kommunikatives Gedächtnis“. „Unter kulturellem Gedächtnis wird demnach die institutionell geformte und gestützte Erinnerung verstanden, wie sie uns etwa in Denkmälern, Erinnerungsorten, Gedenkritualen und ‚Textbausteinen‘ entgegentritt.“ (Kainig-Huber & Vonwald 2018, 363) Kommunikatives Gedächtnis bezeichnet nach Assmann eine von Zeitzeug*innen individuell erlebte und erzählte Erinnerung.
„Erinnerung ist immer eine Rekonstruktion der Vergangenheit mit Versatzstücken aus der Gegenwart“ (Reiter 2006, 17), formuliert die österreichische Historikerin Margit Reiter. Erinnerungen aus der erlebten Zeit können mit späteren sowie gegenwärtigen Erfahrungen und Einflüssen aus der Medienwelt überlagert werden. Der deutsche Zeithistoriker Martin Sabrow nennt in diesem Zusammenhang Zeitzeug*innen als „Wanderer zwischen den Welten“ (Sabrow in Meissner 2014, 9). Neben individuellen Lebenserinnerungen als Ausdruck persönlicher Erinnerungskultur gibt es im öffentlichen Raum verstärkt ab den 1990er-Jahren sicht- und erlebbare Ausprägungen des kollektiven Gedächtnisses. Diese lassen sich in zwei Hauptkategorien mit verschiedenen Ausformungen gliedern. Zum einen stellen mediale Formen der Erinnerungskultur (Literatur, Filme, Aufzeichnungen von Gesprächen mit Zeitzeug*innen, virtuelle Archive etc.) Möglichkeiten dar, Erinnerungen zu bewahren und ins Gedächtnis zu rufen. Zum anderen fördern Erinnerungszeichen im öffentlichen Raum (Gedenkstätte, Grab, Denkmal, Gedenkkreuz, Gedenktafel, Benennung einer Verkehrsfläche, Kunst-Gedenkinstallation, Mahnmal, Gebäude, Museum, Memorial, Stolperstein) das Nachdenken über die Vergangenheit und die Entwicklung einer Gedächtnislandschaft. Darüber hinaus bieten Gedenktage Gelegenheit, durch Teilnahme an Veranstaltungen den Speicher des historischen Gedächtnisses zu erweitern. In zahlreichen Gesprächen mit Menschen, welche die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten persönlich erlebten, haben die Verfasser dieses Artikels nicht nur Einblicke in die Erfahrungen der Frauen und Männer gewinnen können, sondern darüber hinaus Erkenntnisse, wie Menschen mit ihrer Vergangenheit umgehen. (Vsgl. Vonwald & Fritthum 2015 und Kainig-Huber & Doria 2015)