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3. Erstaunliche Parallelen: Anzeichen für eine anhaltende Aktualität von Kinderbüchern aus den 1970er-Jahren?

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Gerade hier zeigt sich die Bedeutung dieses mittlerweile in 16. Auflage (2015) vorliegenden Kinderbuchs, das ganz zu Beginn „des roten Jahrzehntes“ (Koenen 2001) steht und einen besonderen Platz in der österreichischen Kinderliteraturgeschichte der Zweiten Republik einnimmt. Fast ließe sich diese Erzählung auf viele Initiativen, die von kindlichen bzw. jugendlichen Akteur*innen angeführt wurden, übertragen. In Das Städtchen Drumherum spielen jedoch auch phantastische Elemente eine wichtige Rolle. So können die Kinder ihren Vater nicht von seinem Unrecht überzeugen. Erst durch das Eingreifen eines magisches Wesens, des Waldgeistes Frau Hullewulle, und vier aufeinander folgenden Traumszenen gewinnt dieser Einsicht: Es gelte den Lebensraum der Tiere zu schützen.

Träume sind wichtige Erzählbausteine der kinderliterarischen Phantastik, die, argumentiert der Literaturwissenschaftler Rüdiger Steinlein, vorwiegend als Narrativ im Sinne eines größeren Modells oder als Motiv auftreten. In Das Städtchen Drumherum nimmt der Traum deutlich letztere Funktion ein: „Der Traum als Motiv beruht auf der alten Überzeugung, dass Träume in bildhafter Verschlüsselung oder Verrätselung die Wahrheit – z.B. über die Zukunft des Träumers – aussagen.“ (Steinlein 2008, 72) Folglich unterstützt der Bürgermeister nun das Vorhaben der Kinder und stellt sich schützend vor den Wald. Auch das Miteinander der Generationen funktioniert wieder und der Bürgermeister wird sogar zum „Ehrenkind“ ernannt. Die Illustrationen verdeutlichen den Gesinnungswandel: Ein handgeflochtener Blumenkranz ersetzt den schwarzen Zylinder. Am Ende steht fast schon eine kleine Utopie: Die um den Wald herum erweiterte Stadt wird zum Vorbild für den internationalen Städtebau.


Abbildung 3: Ausschnitt des Covers: Der Bürgermeister als bedrohter Schmetterling. (© Verlag Jungbrunnen Wien)

Es ist bezeichnend für die 1970er-Jahre, Konzepte von Urbanität zu propagieren, deren Umsetzung lange Zeit fragwürdig schien. Das Mäandern zwischen magischen und realistischen Elementen findet sich ebenfalls in Mira Lobes Text. Gerade der Einsatz der phantastischen Figur betone die Fiktion. Für den Literaturwissenschaftler Ernst Seibert weist die Erzählung ein offenes Ende auf, denn „schließlich ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die Vision einer um einen Wald herumgebauten Siedlung nicht tatsächlich so etwas wie eine Realutopie sein könnte.“ (Seibert 2005, 172) Gerade mit Blick auf einen gewachsenen Wald mag dies auch heute noch stimmen. Die in Das Städtchen Drumherum entwickelte Grundidee ist jedoch gerade heute zeitgemäß: Die zunehmende Verstädterung wird per se nicht infrage gestellt, aber der Bedarf nach einer Stadtentwicklung im Sinne einer Re-Ökologisierung sehr deutlich gemacht. Der Vergleich mit neueren Projekten im europäischen Städtebau zeigt eine erstaunliche Aktualität des Kinderbuches: In Deutschland werden brachliegende Flächen im städtischen Raum dazu genutzt, neue Wälder entstehen zu lassen. Neuere städtebauliche Konzepte, wie sie etwa in Leipzig verwirklicht werden, weisen den „urbanen Wäldern“ durchaus zukunftsweisendes Potenzial zu (vgl. Rink & Arndt 2011). Die Bedeutung des Waldes für die Stadt wird auch im Sinne der zunehmenden Überhitzung in den Sommermonaten diskutiert. Ein aktuelles Projekt dazu, in dem der urbane Wald dargestellt wird, zeigt die Installation des Klima-Kultur-Pavillons in Graz (2021).


Abbildung 4: Am Ende wird der Zylinder wird durch einen Blumenkranz ersetzt. (© Verlag Jungbrunnen Wien)

Mira Lobes und Susi Weigels Geschichte hatte gerade für die österreichische Kinderbuchszene Vorbildcharakter. Das aufkommende Problembewusstsein für Fragen der sozioökologischen Transformation zeigt ebenso das Bilderbuch von Wolf Harranth (*1941) Da ist eine wunderschöne Wiese (1972), in dem bewusst mit herkömmlichen Erzählmustern experimentiert wird. Auch hier wird die Sehnsucht der Stadtbewohner*innen nach mehr Grünraum thematisiert: Herr Timtim zeigt den Städter*innen eine grüne Wiese, die ganz im Gegensatz zu dem städtischen Grau steht und ideal zur Freizeitgestaltung anmutet. Die Urbanisierung schreitet rasch voran. Mehr und mehr Menschen kommen, das Grün wird in Parzellen geteilt, umzäunt, Geschäfte und eine Fabrik eröffnen. Doch die Idylle ist verschwunden: „Da denkt Herr Timtim zum erstenmal nach. Und alle anderen Leute denken mit ihm. Ganz still ist es. || Man hört nur den Lärm von der Straße und den Lärm aus der Fabrik.“ (Harranth 1972, 29) Um Erholung zu finden und dem Fabriks- und Straßenlärm zu entkommen, führt Herr Timtim die Menschen wiederum aus ihrem Wohnumfeld heraus, zu einer unbebauten grünen Wiese: „‚… da ist eine wunderschöne Wiese. Hier wollen wir bleiben.‘“ (Harranth 1972, 30) Das Ende nimmt den Anfang des Buches wieder auf, eine deutliche moralische Botschaft findet sich, anders als in Das Städtchen Drumherum, nicht: Ob die Menschen nun einen gewissenhafteren Umgang mit der Umwelt haben werden und was mit den bereits verbauten Flächen geschieht, wird nicht angedeutet.

Mit diesem offenen Ende zeigt sich deutlich, wie sehr die Trennlinie zwischen Kinder- und Erwachsenenliteratur uneindeutig gehalten wurde: Dies entspricht dem damals erhobenen Anspruch einer Literatur für Kinder, die diese auf die Zukunft vorbereitet und sie zu sozialpolitisch verantwortungsvollen Akteur*innen macht. Die im Text nicht versprachlichte Quintessenz („Denkt nach und macht es besser!“) ist daher Teil der literarischen Konstruktion: Dies ist bezeichnend für den Einfluss damals vieldiskutierter pädagogischer Ansätze (etwa von Jean Piaget, 1896–1980, und Lawrence Kohlberg, 1927–1987), der sich ebenso im Bereich der Kinderliteratur zeigte. Erst im Prozess der Auseinandersetzung, im gemeinsamen Sprechen über den moralischen Konflikt, kann das „Dilemma“ (Kohlberg) gelöst werden und somit ein höheres moralisches Entwicklungsniveau erreicht werden.

Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren

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