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2. Zu den jugendlichen Protestbewegungen damals und heute
ОглавлениеInwiefern ist das wiederkehrende Moment des Protestes, das sich in Das Städtchen Drumherum in allgemeinem Einvernehmen auflöst, auf die heutige Zeit übertragbar? Der Diskurs um die „Jugend als Kraft politischer Erneuerung“ (Großegger 2017) scheint heute anders geführt zu werden, als noch vor einem halben Jahrhundert, gibt die wissenschaftliche Leiterin des Instituts für Jugendkulturforschung Beate Großegger zu bedenken. Ein wesentlicher Grund dafür ist die geänderte Arbeitsmarktsituation, die auch die Jugend vor neue Herausforderungen stellt. Herrschte noch zu Beginn der 1970er-Jahre nahezu Vollbeschäftigung in den deutschsprachigen Ländern, sind die letzten beiden Jahrzehnte von „Krisen“ (Weltwirtschaft, Flüchtlinge, Corona etc.) geprägt. Wiederholt wurde der jungen Generation ein Rückzug vom Politischen hin zum Privaten, verbunden mit Trägheit und Egoismus attestiert. An die Populärkultur angelehnte Formulierungen wie „Neo-Biedermeier“ oder „Generation Me“ stehen sinnbildlich für die Generationen Y und Z. Aufrufe zu mehr politischem Engagement blieben ungehört. Die Post-Millennials seien angepasster als ihre (Groß-)Eltern und stärker von einem Krisenbewusstsein geprägt: Sie „reagieren nicht etwa mit Gestaltungswillen oder Protest. Sie suchen nicht nach neuen Wegen. Und sie experimentieren auch nicht mit Selbstkonzepten, die in Abgrenzung zu den Werten und Lebensphilosophien des Etablierten entstehen.“ (Großegger 2017)
Diese Einschätzung findet sich in zahlreichen Texten der angewandten Sozialforschung. Noch 2013 kamen die Autor*innen der 16. Shell Jugendstudie (2010) zu folgendem Ergebnis: Besonders im deutschsprachigen Raum äußere sich politische Partizipation bei Heranwachsenden selten durch Protest auf der Straße, sondern fände ihren Ausdruck vielmehr in Anpassung und Geduld, verbunden mit einem von Individualismus geprägten Pragmatismus (vgl. Hurrelmann, Albert & Quenzel 2013, 345). Dem gegenüber stehen rezente Ereignisse, wie die seit 2018 von Kindern und Jugendlichen mitinitiierten Proteste „Fridays for Future“ oder auch die 2020 durch den Tod von George Floyd (1973–2020) ausgelösten Demonstrationen „Black lives matter“. Sie relativieren die Bewertung einer vornehmlich auf das Private konzentrierten Jugend. Die Folgeuntersuchungen aus den Shell Jugendstudien aus 2015 und 2019 zeichnen dementsprechend ein positiveres Bild der vermeintlich träge gewordenen Jugendlichen. Gesamt gesehen steige das Interesse zur politischen Mitbestimmung:
Einer Jugend, für die der Aufenthalt in der digitalen Welt mittels Smartphone stark die Lebenswelt bestimmt, machen Umweltzerstörung und Klimawandel Angst. Es bleibt aber eine deutliche Vielfalt anerkennende und tolerante junge Generation. Einer Generation, bei der heute ein Drittel einen Migrationshintergrund oder nicht die deutsche Staatsbürgerschaft hat, macht dabei Ausländerfeindlichkeit deutlich mehr Angst als die Zuwanderung nach Deutschland. (Albert, Hurrelmann, Quenzel & Schneekloth 2019, 489f.)
Doch ist das sich hier zeigende Umweltbewusstsein, ähnlich wie in den 1970er-Jahren, klassenübergreifend? Jüngere, auf den deutschsprachigen Raum konzentrierte, empirische Studien zeigten zudem den Einfluss der (oberen) Mittelschicht, betont der Soziologe Bjorn Milbradt. Noch immer gelinge es nicht, Politikbewusstsein und sozioökologisches Interesse in allen sozialen Gesellschaftsklassen zu erwirken: „Aus der Sicht von Demokratieförderung und politischer Bildung stellt sich einmal mehr die Frage, wie eigentlich all jene für Politik und gesellschaftliches Engagement zu gewinnen sind, die an solche Bewegungen nicht anschließen können oder wollen.“ (Milbradt 2020, 4)