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4.6 Systematische Fragen zum Sanktionensystem und zur Strafzumessung

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Das deutsche Sanktionensystem basiert auf dem Grundsatz der schuldangemessenen Strafe. Diese wird selbst bei der einzigen wesentlichen Alternative zur Freiheitsstrafe in Einheiten des Freiheitsentzugs bemessen: Ein Tagessatz Geldstrafe entspricht in letzter Konsequenz einem Tag Freiheitsentzug. Bei der Bewährungsstrafe ist der Zusammenhang ebenso klar und eindeutig. Im Falle des Widerrufs droht schlicht der Vollzug der ausgesetzten Freiheitsstrafe. Das alles scheint unproblematisch. Betrachtet man dies jedoch aus der Sicht eines 80-jährigen Bewährungshilfeprobanden, so könnten Zweifel entstehen. Für diesen stellt sich angesichts der möglicherweise verbleibenden Lebensspanne ein Widerruf wie ein »Todesurteil« dar. Es scheint insoweit eine Gemeinsamkeit zwischen Jugendstrafrecht und »Altenstrafrecht« zu geben: Zeit wird im Jugendalter anders, intensiver und damit länger erlebt,60 und dies scheint im Alter erneut von besonderer Brisanz zu sein.

Muss man also ein Jahr Freiheitsstrafe, je nachdem in welcher Altersstufe es verhängt und erlebt wird, unterschiedlich beurteilen (so etwa Poltrock 2013)? Die Rechtsprechung des BGH sagt dazu grundsätzlich nein!

Sollte man aber nicht vielleicht bedenken, ob an Stelle der hohen Strafrahmen des Erwachsenenstrafrechts nicht – ähnlich wie bei der Jugendstrafe – ein gemildertes Strafrahmensystem treten sollte (so etwa Nobis 2006)? Im Jugendstrafrecht ist der Strafzweck der Generalprävention nach herrschender Rechtsprechung bei der Verhängung und Bemessung von Strafen außer Acht zu lassen. Gilt das bei alten Menschen nicht gleichermaßen, auch wenn die Begründung anders sein mag? Das generalpräventive Strafrecht könnte es sich leisten, Ältere (ebenso wie Jüngere) nicht zum Zweck der Abschreckung zu instrumentalisieren.

Abgesehen von den allgemeinen Strafzumessungsvorschriften (§§ 46, 46a StGB) könnte man innerhalb des geltenden Sanktionenrechts über eine altersspezifische Auslegung bestimmter Vorschriften nachdenken. So kann man das hohe Alter nach geltender Rechtsprechung indirekt über den anerkannten Grund der »besonderen Strafempfindlichkeit« (vgl. LG Berlin wistra 1996, S. 72) als besonderen Umstand in der Tat und Persönlichkeit im Sinne des § 59 StGB ansehen und damit eine lediglich auszusprechende Verwarnung mit Strafvorbehalt (d. h. eine zur Bewährung ausgesetzte Geldstrafe) begründen.

Ferner spielen derartige Überlegungen im Rahmen der Aussetzung von Freiheitsstrafen von mehr als einem bis zu zwei Jahren (gem. § 56 Abs. 2 StGB) und schließlich bei der Aussetzung eines Strafrests gem. § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB nach Verbüßung der Hälfte der Strafe eine Rolle. Bei der Frage der Halbstrafenentlassung ist anerkannt, dass typischerweise mit einem hohen Alter korrelierende Umstände wie eine schwere Erkrankung (z. B. Herzinfarkt) und eine damit verbundene erhöhte Strafempfindlichkeit als besondere Umstände i. S. des § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB gewertet werden können.61

Gleichwohl muss man festhalten, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung (Rspr.) und die herrschende Meinung (h. M.) der Literatur einen allgemeinen Strafmilderungsgrund des »fortgeschrittenen« Alters nicht akzeptiert. Dementsprechend kam es in dem eingangs erwähnten »Opa-Fall« 2005 zu angesichts der Zahl und Schwere der Delikte und zahlreichen entsprechenden Vorstrafen zu drastischen Strafen von 12, 10 bzw. 9 Jahren Freiheitsstrafe.62 Die Besonderheit des Falles lag darin begründet, dass die Angeklagten zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung bereits 74, 73 und 64 Jahre alt waren. Die Angeklagten wandten sich mit ihren Revisionen gegen die Höhe der verhängten Strafen, die vermutlich ihre jeweilige Restlebensdauer überschreite. In einem solchen Fall müsse auf eine Strafe erkannt werden, die einem Angeklagten noch einen Rest seines Lebens in Freiheit lasse, selbst wenn dies nur unter der Voraussetzung möglich sei, eine unverhältnismäßig niedrig erscheinende Strafe zu verhängen. Dem ist der Bundesgerichtshof nicht gefolgt: Die Strafe muss gerechter Schuldausgleich sein. Einen Rechtssatz des Inhalts, dass jeder Straftäter schon nach dem Maß der verhängten Strafe die Gewissheit haben müsse, im Anschluss an die Strafverbüßung in die Freiheit entlassen zu werden, gebe es aber nicht. Insbesondere könne sich aus dem Lebensalter eines Angeklagten etwa unter Berücksichtigung statistischer Erkenntnisse zur Lebenserwartung keine Strafobergrenze ergeben. »Allerdings muss« dem Angeklagten »unter Vollstreckungsgesichtspunkten grundsätzlich eine Chance verbleiben, wieder der Freiheit teilhaftig zu werden« (BGH, Urteil vom 27. April 2006 - 4 StR 572/05).

Ebenso hat das LG Lüneburg in einer weiteren Entscheidung unter Bezugnahme auf die Entscheidung des BGH von 2006 betont, dass bei dem inzwischen über 90-jährigen Angeklagten, der wegen Beihilfe zum Mord durch Tätigkeiten als Mitglied der Waffen-SS in der Lagerbesatzung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau verurteilt wurde, seine besondere Haftempfindlichkeit zu bedenken und nicht zuletzt auch darauf Bedacht zu nehmen sei, »dass er mit Blick auf die in Artikel 1 GG verbürgte Menschenwürde zwar nicht die Gewissheit, aber doch zumindest die Chance haben muss, zu Lebzeiten aus der Haft entlassen zu werden« (LG Lüneburg, 15.07.2015 - 27 Ks 9/14, 27 Ks 1191 Js 98402/13). Der BGH hat auch diese Entscheidung bestätigt (BGH, Beschl. v. 20.09.2016 – 3 StR 49/16 = HRRS 2016 Nr. 1123).63

Damit wird insgesamt deutlich, dass es zwar keinen automatischen »Seniorenrabatt« bei im fortgeschrittenen Alter abzuurteilenden Straftaten im Rahmen der Strafzumessung gibt, es jedoch über die Kategorien der besonderen Strafempfindlichkeit bzw. Strafempfänglichkeit und damit subsumtionstechnisch im Rahmen der in § 46 Abs. 1 S. 2 StGB zu berücksichtigenden »Wirkung der Strafe auf das künftige Leben des Täters« regelmäßig zu Milderungen der Strafe kommen soll (vgl. hierzu Ferrario 2015, S. 79 f).

Der wesentliche Ansatz zu einzelfallgerechten Lösungen wird von der Rechtsprechung im vollstreckungsrechtlichen Bereich gesehen, und hierbei dürfte bei originären Freiheitsstrafen die Norm des § 56 Abs. 2 StGB (Aussetzung einer Freiheitsstrafe von mehr als einem bis zu zwei Jahren bei »besonderen Umständen«)64 und bei der Strafrestaussetzung die Norm des § 57 Abs. 2 StGB mit der Möglichkeit bei besonderen Umständen schon nach Verbüßung der Hälfte der Strafe zu entlassen,65 eine besondere Rolle spielen. Bei Ersatzfreiheitsstrafen ist die Norm des § 459 f StPO zu berücksichtigen, wonach die Vollstreckung ganz unterbleiben kann, wenn diese eine »unzumutbare Härte« darstellen würde. Im Falle schwerer Erkrankung kann gem. § 455 StPO die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe aufgeschoben oder unterbrochen werden. Weitergehend kann gem. § 206a StPO das Verfahren wegen eines Verfahrenshindernisses der dauerhaften Erkrankung eingestellt werden. Auf diese Weise wurde im Fall Honecker, dem angesichts eines Krebsleidens nur noch eine geringe Lebensspanne verblieb, reagiert und das Verfahren eingestellt.66 Damit sehen das geltende Straf- und Strafprozessrecht mehrere Möglichkeiten vor, um eine im Einzelfall unzumutbare Härte gegenüber älteren Straftätern zu vermeiden.

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