Читать книгу Alter und Devianz - Группа авторов - Страница 52

4.9 Fazit: Anderes Strafrecht, anderer Strafumgang oder alternative Lösungen?

Оглавление

Am Ende stellt sich natürlich die Frage, ob wir tatsächlich ein anderes Strafrecht oder vielleicht nur einen anderen strafrechtlichen Umgang mit älteren Menschen brauchen. Die Einführung eines anderen Strafrechts, eines eigenständigen Altersstrafrechts würde die gleichen Abgrenzungsprobleme der Definition von Altersklassen aufwerfen, die uns im Jugendstrafrecht wohlbekannt sind. Sind schon 60-Jährige generell anders zu beurteilen, oder erst 65-Jährige, 70-Jährige etc.? Sollte man nicht vielleicht – analog zur Systematik des § 3 JGG mit einer flexiblen Verantwortungsreife – ein System des flexiblen Ausschlusses bzw. der Minderung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit vorsehen? Sollte – um in der Systematik des Erwachsenenstrafrechts zu bleiben – die strafrechtliche Verantwortlichkeit nach §§ 20, 21 StGB ab einem gewissen Alter nicht grundsätzlich angenommen, sondern in Frage gestellt werden? Dies wäre genau die Parallele aus dem Jugendstrafrecht (hier: § 3 JGG), die übertragbar wäre: Ab einem gewissen Alter – von z. B. 70 Jahren – könnte die strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht mehr grundsätzlich unterstellt werden, sondern müsste ggf. stets positiv festgestellt werden. Das »normale« StGB geht dagegen anders vor: Bei erwachsenen Menschen wird grundsätzlich von der Schuldfähigkeit und damit der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ausgegangen, von der nur bei Vorliegen ausnahmsweise anzunehmender Einschränkungen abgewichen wird. Allerdings geben auch die Neurowissenschaften keine klaren Altersgrenzen vor, ab denen eine solche Vermutung der geminderten und fehlenden Schuldfähigkeit nahegelegt würde. Daher sollte es nach hier vertretener Auffassung bei dem System des geltenden Strafrechts bleiben, allerdings bei sehr fortgeschrittenem Alter eine besondere Prüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nahegelegt werden.

Weitergehende Vorstellungen, dass wir ein eigenständiges Sanktionensystem für Senioren bräuchten, sind gleichfalls nicht zwingend. Spezifische, erzieherische Sanktionen für Senioren drängen sich nicht gerade auf. Kann man sich ein »Soziales Training« für alte Menschen vorstellen? Allenfalls doch, um den Erhalt, ggf. auch eine Revitalisierung sozialer und kognitiver Kompetenzen zu gewährleisten, während es bei Jugendlichen häufig eher um den erstmaligen Erwerb von Kompetenzen gehen dürfte.

Gibt es überhaupt altersspezifische Sanktionsformen für Senioren? Denkbar sind hier natürlich Sanktionen, die den Freizeitbereich und die Mobilität betreffen. Der Entzug des Angel- oder Jagdscheins (in Frankreich und Italien eine gefürchtete Sanktion, in ihrer Übertragbarkeit auf Deutschland jedoch fragwürdig), Fahrverbote, Weisungen, Meldeauflagen u. ä. wären hier zu nennen. Zu Recht sind solche Sanktionen allerdings nicht auf alte Menschen zu begrenzen. Denkbar wäre, wie in Italien bei mindestens 70-Jährigen gesetzlich vorgesehen, den Anwendungsbereich der Strafaussetzung zur Bewährung zu erweitern (vgl. hierzu Ferrario 2015, S. 84 ff) oder eine frühere Strafrestaussetzung nach einem Drittel oder der Hälfte der Strafe zu erleichtern.72

Was notwendig erscheint, sind spezifische Formen des Sanktionsverzichts, also erweiterte Einstellungsmöglichkeiten, oder – wie erwähnt – erweiterte Möglichkeiten der Straf- und Strafrestaussetzung zur Bewährung. Aber dies sollte in erster Linie für alle Altersgruppen, nicht nur die »Älteren« reformpolitisch bedacht werden (vgl. Dünkel 2018b, S. 60 ff., 65), ferner lässt sich manches auch durch eine »älterenfreundliche« Rechtsprechung entwickeln, ohne dass es eines eigenständigen Altersstrafrechts bedarf.

Weiterhin bedenken könnte man analog zum allgemeinen Strafrahmen für die Jugendstrafe ein reduziertes Höchstmaß von 10 Jahren Freiheitsstrafe anstatt lebenslanger oder zeitiger Freiheitsstrafe bis zu 15 Jahren. Eine Alternative wäre ein genereller Strafmilderungsgrund »vorangeschrittenen Alters«, der über § 49 StGB zu einer Strafrahmenverschiebung führen könnte und damit eine »altersadäquate« Strafzumessung ergäbe. All dies mag in der Praxis durchaus im einen oder anderen Fall im Ergebnis erreicht worden sein, Ziel einer Gesetzesinitiative wäre demgegenüber, das Verständnis gegenüber Älteren, auch wenn sie mit dem Strafrecht in Konflikt geraten, zu verbessern.

Zusammenfassend kann man sicherlich einige Optionen für ein milderes Strafrecht für ältere Straftäter identifizieren, jedoch scheint es, dass ein dringender Reformbedarf jenseits der genannten von der Strafrechtspraxis weitgehend schon entwickelten Milderungsmöglichkeiten eher zweifelhaft ist.

Insgesamt gesehen sollte man statt eines eigenständigen Altersstrafrechts über etwas anderes als das Strafrecht nachdenken. Bei älteren Menschen noch am ehesten können wir uns Milde und Nachsicht leisten. Straftaten älterer Menschen und selbst diejenigen der eingangs erwähnten »Opa-Bande« rufen eher Schmunzeln und Belustigung, vielleicht sogar heimliche Sympathie hervor (man wünscht den Tätern einen angenehmen Lebensabend im Süden anstatt im heimischen Knast). Könnte man also nicht sagen: Ab einem Alter von 70 Jahren wird nur noch bei besonders gravierenden Taten strafrechtlich reagiert und im Übrigen werden restorativen (wiedergutmachungsorientierten) Formen der Konfliktregelung der absolute Vorrang eingeräumt? Wann und ggf. in welchem Umfang die Gesellschaft strafrechtlicher Reaktionen bedarf, kann im Randbereich der Alterskriminalität mit der Toleranz und tendenziellen Zurückhaltung diskutiert werden, die man sich gerne auch für das Strafrecht insgesamt wünschen würde. Jedoch haben sich dort Aufgeregtheiten und Panikmache breitgemacht, die den Blick für eine rationale und den Stellenwert des Strafrechts im Gesamtsystem gesellschaftlicher Sozialkontrolle berücksichtigende Kriminalpolitik verstellen. Vielleicht öffnen uns die älteren Straftäter den Weg zu einem klugen und behutsamen Umgang mit dem scharfen Schwert des Strafrechts insgesamt.

Alter und Devianz

Подняться наверх