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Neunter Brief.
Euphranor an Palemon.
ОглавлениеUngegründete Beschwerden wider die Vorsehung. Selbstmord, kann einen jeden in Versuchung führen. Die Religion kann uns nicht dazu bewegen. Gründe eines Engelländers für dessen Zuläßigkeit. Gründe von der Schaubühne entlehnt.
Hat es wirklich, wie du sagst,3 Blödsinnige gegeben, die an der Einrichtung in dieser Welt vieles zu tadeln gefunden? Und war es ihnen möglich, für diese Ausschweifung so hartnäckig zu streiten? Nein, Palemon! Ihr Hertz konnte nie von dem frechen Tadel überzeugt seyn, den sie im Munde trugen. Denn gesetzt, was mir niemals wahrscheinlich schien; gesetzt, sie wa-|ren wirklich mit allem Unglücke beladen, ihr Körper war siech, und ihre Seele von tausend Martern gedrückt; warum würden sie selbst ihr Unglück verdoppelt, Traurigkeit mit ängstlichen Klagen, Sorgen mit Verzweifelung, und Schmerz mit nagenden Kummer verbunden haben? Konnten eingebildete Weise so thöricht handeln?
Wenn sie aber in den Tagen des Jammers eine Art von Beruhigung in ihren Wehklagen gefunden; wenn der Ausbruch in solche schwärmerische Beschwerden wider ihren Schöpfer, nur einen Augenblick, ihre Seele von den gegenwärtigen Schmertzen abgezogen und auf minderquählende Vorstellungen gelenkt hat; so gönne man diesen Unglücklichen ihren Trost. Ihre Klagen sind Beweise von der Güte des Schöpfers, dessen Rechte heilet, eben da | die Linke verwundet. – Allein ietzt, da der Sturm vorüber ist, wollt ihr der Welt eure Verwünschungen bekannt machen? Ihr wollet den Unsinn in Schriften verewigen, den ihr gleichsam in der Hitze des Fiebers ausgestossen? Warum? Ihr findet Vergnügen, (ich traue euch die uneigennützigsten || Absichten zu) wenn eure Nebenmenschen eben so denken wie ihr? Vergnügen! So findet ihr das? O gestehet es! Die Menschen sind zur Lust geschaffen, nur ihr findet Lust im Klagen.
Doch haben sich nicht einige Unglückliche aus Verzweifelung selbst das Leben geraubt? Entsetzlicher Gedanke! Kaum würde ich mich wagen ihn zu denken, wenn wir nicht so manche traurige Erfahrung davon hätten; Erfahrung von Leuten, die es mehr aus Ueberlegung als aus Raserey gethan zu haben scheinen. Wahr ists! In | den wenigen Jahren, die ich auf Erden gelebt, habe ich die Möglichkeit dieser ausgelassenen Verzweifelung nie begreifen können. Ich habe den Tod unter tausend verschiedenen Gestalten betrachtet, aber niemals hat er sich mir als ein Ziel unsrer Wünsche dargestellt, dahin wir uns drengen sollten. Jedoch vielleicht habe ich diese Liebe zum Leben dem Temperamente zu verdanken. Ein jugendliches Blut, das ietzt in meinen Adern rollt, belebt mich unaufhörlich zur Munterkeit, und macht mir die Augenblicke kostbar, die mir mein Schöpfer hienieden bestimmt. Die Jugend gleicht einem aufgehenden Frühlingsmorgen. Alles ist belebt, ein reges Feuer dringt durch alle Wesen, und kein Wachender senkt sich vorsetzlich in die Arme des Schlafs. Die arbeitende Natur ermuntert die Geschöpfe zu | Leben und Beschäftigung. So bald aber die Nacht ihren finstern Schleier um unsern Horizont wältzt, und die geschäftige Hand der Natur vor unsern Augen verbirgt; so siehet man den größten Haufen sich ängstlich nach der Hülfe des Schlafes sehnen. Das Bewußtseyn wird ihnen eine beschwehrliche Last. Sie wünschen, sich lieber eine Zeitlang nicht zu fühlen, daß sie sind, als das Leere zu empfinden, das sich von der Natur auf ihre Seele ausbreitet, oder noch unglücklicher, Kummer und Sorgen, die mit der einbrechenden Nacht in ihrer Seele erwachen.
Ich erschrecke, Palemon! Wenn mein Alter dem Abend dieser Unglücklichen gleichen sollte; wenn mit der Jugend meine gleichmüthige Munterkeit verschwände; wenn es möglich wäre, daß sich mit der | Zeit Sorgen, Ueberdruß und Kummer in mein Leben einflechten könnte; ist die Folge gegründet, daß ich mich alsdenn nach dem Schlafe sehnen müßte? Was wird die Vernunft rathen, wenn mich das Temperament verläßt?
Und kann ich zweifeln, daß es mich verlassen wird? Ich, der ich gewiß heute nicht so brittisch gedacht haben würde, wenn sich nicht || der Himmel plötzlich mit Wolken überzogen hätte. Nunmehr heitert sich die Gegend wieder auf; Fluhr und Wiesen gewinnen ihr lachendes Antlitz wieder, und ietzt lache ich selbst über meine unzeitige Schwermuth.
Wie wird sich Eudox freuen, wenn er diese Stelle lesen wird. Er, der jedem Jünglinge Glück wünscht, sobald sich ein Ansatz zur Schwermuth bey ihm einfindet. | Jedoch wir wollen uns mit minder fürchterlichen Gedanken beschäftigen.
Es haben einige Weltweise der Religion aufbürden wollen, sie gebe uns Gründe an die Hand, den Selbstmord zu rechtfertigen. Der Kampf mit unsrer Selbsterhaltung, sagen sie, wird leichter, wenn wir einer Zukunft von lauter Glückseligkeiten entgegen sehen. Ist diese Beschuldigung nicht ungereimt?
Nur die lebhafteste Ueberzeugung von den Warheiten der Religion, und von unserer eigenen Unschuld kann die Erwartung zukünftiger Glückseligkeiten vergewissern. Wie kann aber diese Ueberzeugung mit der ausgelassensten Verzweifelung bestehen? Nach den Begriffen der Religion kann uns nichts anders, als Geduld und Vertrauen auf Gott, den Weg zur Glückseligkeit bah-|nen. Sollen irrdische Unglücksfälle mehr erschüttern als die Kinder der Welt, dem die Religion Ruhe und Besänftigung eingeflößt hat?
Lindamour, der jüngst in einer Gesellschaft, die Ehre des philosophischen Selbstmörders Blount retten wollte; suchte die Unsträflichkeit dieser grausaumen That, unabhängig von der Religion zu erhärten. Seine eigensinnige Gedanken schienen mir so ungewöhnlich, daß ich alle seine Ausdrücke behalten zu haben glaube.
„Wenn das Daseyn eines Gequälten“, sagte er, „mit soviel Schrecknissen verbunden ist, daß er nie eine Rückkehr in die grosse Welt, nie eine Aussöhnung mit ihren betrüglichen Gütern hoffen kann; so verdient die Vernichtung seiner selbst weder in der Natur sträflich, noch ein Eingriff in | die göttlichen Rechte genannt zu werden. Die Erhaltung unsrer selbst ist kein so allgemeines Gesetz als uns einige verzagte Weltweise einbilden wollen. Sie ist vielmehr eine Folge, aus einem weit ursprünglicherm Gesetze, das der Schöpfer mit unserm denkenden Selbst verknüpft hat, aus der Bestrebung nach dem Guten. So lange wir uns mit der Welt vertragen, so lange wir uns Ruhe und Zufriedenheit von ihr versprechen können; so zielen diese beide Bedürftnisse nach einem eintzigen Endzwecke. || Die Erhaltung unsrer selbst erlangt ihre Thätigkeit, und kann für die eintzige Triebfeder aller menschlichen Handlungen genommen werden. Wenn wir aber keinen Blick an unser zukünftiges Daseyn ohne Entsetzen thun können; wenn uns jeder Augenblick mit Ueberdruß, | Selbsthaß und innerlichem Aufruhr drohet; so wendet sich das Blat. Der Trieb zur Selbsterhaltung verschwindet. Das ursprünglichere Gesetz, die Bestrebung nach dem Guten, und seine unzertrennliche Gefährtin, die Vermeidung eines grössern Uebels, behaupten allein und eigenmächtig ihre Rechte, dringen auf die Abkürtzung unsres Leidens, auf die Befreyung aus einem elenden Gefängnisse, auf die Flucht aus der verdrießlichen Welt.
Gesetzt, wir wären zu keiner zukünftigen Herrlichkeit bestimmt; gesetzt unser Daseyn ende sich mit dem gegenwärtigen Leben. Was gewinnt man dadurch wider den Selbsthaß? – Der Tod, sagt man, ist eine gäntzliche Zernichtung, er ist unter allen möglichen Uebeln das größte, und muß nothwendig in der | Vergleichung verliehren. O nein, das größte Uebel, das wir nicht fühlen, kann unserm denkenden Selbst erwünschter seyn, als ein Zustand des Bewustseyns, darinn das Uebel das wenige Gute überwiegt. Ein Algebraist würde das Gute in seinem Leben mit positiven, das Uebel mit negativen Grössen und den Tod mit dem Zero vergleichen. Wenn in der Vermischung von Gut und Uebel nach gegenseitiger Berechnung eine positive Grösse übrig bleibt; so ist der Zustand erwünschter als der Tod. Heben sie sich einander auf; so ist er dem Zero gleich. Bleibt eine negative Grösse; was weigert man sich ihr das Zero vorzuziehen?
Die Stimme der Freundschaft, des Vaterlandes und der gantzen Gesellschaft, rufen ihn in das Leben zurück. O! was können Freunde, was | kann das Vaterland, was kann die gantze menschliche Gesellschaft, von einem Elenden erwarten, der, so lang er lebt, sich in seinen Kummer vergraben, und keinen Theil mehr an der Gesellschaft nehmen wird? Er hat seine Rolle ausgespielt; er ist ein abgestorbenes Glied, das man vom Gantzen trennen muß. Beklaget ihn, ihr Freunde! Aber danket ihm zugleich, daß er euch den Verdruß erspart, einen Freund zu umarmen, der nur zum Schmertze noch ein Gefühl hatte. ||
Doch er wagt einen Eingrif in die göttlichen Rechte. Er ist ein Knecht seines Schöpfers und kann ihm seinen Gehorsam nicht entziehen. Wodurch hat sich Gott dieses herrschaftliche Recht über ihn erworben? Er hat ihm das Daseyn geschenkt? Eben dieses | überlästigen Geschenkes sucht er sich zu entledigen. Und wo ist die Ueberzeugung, daß diese Handlung dem göttlichen Willen zuwider sey?
Wir halten es alle für erlaubt, uns ein Glied abnehmen zu lassen, das nach der Aussage der Aertzte, Zeit unsres Lebens eine Quelle von unsäglichen Schmertzen seyn wird. Nennt ihr dieses einen Eingrif in die göttlichen Rechte? Gewiß nicht! Denn Gott hat uns die Freyheit verliehen, alles Ungemach von uns abzuwenden, und die Beraubung eines Gliedes dem beständigen Gefühle seiner Verstümmelung vorzuziehen. Ist aber dieses Glied nicht eben so wohl ein Theil des Menschen, als der Mensch ein Theil des Gantzen?“
Er wollte fortfahren; allein es war Zeit, daß sich die Gesellschaft trennete. Wir sa-|hen uns einander ernsthaft an, leerten unsre Gläser, und gingen stillschweigend von einander.
Ich bitte dich, Palemon! Erwege die Gründe dieses englischen Weltweisen, und prüfe sie nach deiner Theorie der Empfindungen. Wie sehr wirst du deinen Freund verpflichten, wenn du ihm deine Gedanken über diese knotigte Materie eröfnen wirst. Ich gestehe es. Ich kann mich aus dieser Verwickelung nicht loswinden. Auf der einen Seite scheinet Lindamour nicht durchgehends Recht zu haben, auf der andern hingegen der Selbstmord nicht so sehr wider die Natur des Menschen zu streiten, als man glaubt. Wie würde er, um des Himmels willen, auf der Schaubühne Thränen aus den Augen der Zuschauer locken können, wenn er in allen ersinnlichen Umständen | lasterhaft, in allen möglichen Fällen abscheulich wäre? Ein Bubenstück kann Widerwillen, Abscheu und Entsetzen erwecken, aber kein Mitleid, keine stille Regung, keine angenehme schmerzende Empfindung, die nur das Vorrecht der leidenden Tugend ist.
Orosman und Mellefont würden wenig Antheil an unserm Mitleid haben, das Zayre und Sara allein zu verdienen scheinen. Jene haben sich gewissermassen unsern Unwillen zugezogen. Ihre Unart scheinet das Unglück angerichtet zu haben, das wir in der Person ihrer Geliebten beweinen. Allein jetzt fühlt ihr zerknirschtes Hertz die Martern tausendfach, die uns nur leichte Thränen kosten; jetzt || sehen sie mit versteinerten Blicken auf die geliebte Leiche. Sie brechen in eine verzweifelungsvolle Reue aus, und stossen den Dolch in ihre | beklemte Brust. Sie sind dahin! Den Augenblick verschwindet aller Unwille über ihre Unbesonnenheit. Ein wehmüthiges Mitleid überrascht uns plötzlich, und wir zerfliessen in Thränen. Woher diese seltne Veränderung? Nichts als ein gelegentlicher Selbstmord hat den zweydeutigen Charakter dieser Personen in ihr gehöriges Licht gesetzt, und das Siegel auf ihre Güte gedrückt. Unsere Verwünschung hat sich in Wohlwollen, unser Gram in Gewogenheit, und unser Unwille in Mitleiden verwandelt. Kann dieses ein Bubenstück? Vermag dieses eine Handlung, die dem menschlichen Geschlechte immerdar ein Greuel ist? | ||