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Fordert die Toleranz ein Recht auf kulturelle Identität?

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Charles Taylor wurde mit seiner Kritik am auf strikter Nicht-Unterscheidung der Betroffenen beharrenden „Rechte-Liberalismus“ bereits angesprochen. Er stellt diesem eine Version des Liberalismus entgegen, die eine „öffentlich akzeptierte Definition des Guten“ unterstellt und sich dezidiert um die Umsetzung dieser Vorstellung bemüht. Ein Beispiel sei die Politik der survivance in Quebec, die dafür sorgen wolle, dass es auch in Zukunft noch Frankophone in Kanada gibt. Heute noch mehr als in den 80er und 90er Jahren sind wir mit mitunter emphatischer Verteidigung der Identität, aber auch der Kritik an diesem Konzept konfrontiert.45 Kritik an einzelnen Verhaltensweisen von Individuen wird mit Kritik an ihrer Identität als Mitglied einer bestimmten Gruppe, damit als Intoleranz gegenüber deren Kultur gedeutet.

Warum ist dieser Gedanke der Identität derart attraktiv und inwieweit haben bestimmte Gruppen Anspruch auf Respekt oder sogar Wertschätzung ihrer Identität?

Wichtig ist sicher die Selbstidentifikation als Deutsche, als Französin oder als Mitglied der abendländischen oder der arabischen Kultur, ähnlich, wie man „mit Leib und Seele“ Ärztin oder Sportler sein kann. Es kommt jedoch noch etwas hinzu: Wenn man zur Identität eines Menschen die Menge seiner individuellen Lebensbedingungen rechnet, dann hat sie insofern einen doppelten Aspekt, als sie den Möglichkeiten freier, autonomer Entwicklung der individuellen Persönlichkeit, wie sie dem liberalen Ideal entspricht, deutliche Grenzen setzt. Wir werden, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort unter bestimmten Umständen in diese Welt geworfen, sind weiblich oder männlich, schwarz oder gelb oder weiß oder rot, arm oder reich usw. Manche dieser Vorbedingungen lassen sich ändern, andere nicht. Gemeinsam prägen sie unsere Weltsicht, formen die Weise, wie wir die Welt erfahren und beurteilen. Sie begrenzen nicht nur das Ausmaß, in dem wir unsere Pläne verwirklichen können. Sie bestimmen auch, wie unsere Pläne aussehen, was wir für rational und erstrebenswert halten. Auf der anderen Seite bietet diese Art der Identität dem Menschen eine Art mentales zu Hause, die Sicherheit des moralischen und weltanschaulichen Urteils, die Freiheit von selbstzerstörerischem Zweifel in einer Welt konstanter Reizüberflutung. Wir wissen, was wir als gute Christen, gute Muslime, gute Spanier oder gute Deutsche zu denken haben, so lange wir mit einer kohärenten Welterklärung zufrieden sind. Man kann dies weiterführen und im Rückgriff auf Nietzsche festhalten, für ein sinnvolles, gelungenes Leben sei es wichtig, „der zu werden, der man ist“.

Besondere Bedeutung erhalten in diesem Kontext kollektive Identitäten. Die Selbstidentifikation mit einer Gruppe ist für viele Menschen in unterschiedlichen Kontexten deshalb so wichtig, weil man sich innerhalb einer bourgeoisen Gesellschaft nach einer Gemeinschaft im Sinne von Ferdinand Tönnies sehnt: In der Gemeinschaft, so Tönnies, sind die Menschen trotz aller Trennungen wesentlich verbunden.46 Es gab und gibt immer wieder Versuche, eine Nation oder eben auch eine Kultur als solche Gemeinschaft zu deuten. Die Identifikation innerhalb der Kultur bietet demnach die Möglichkeit, sich als Mitglied einer echten, nicht nur auf den Eigennutz schielenden Gemeinschaft aufgehoben zu fühlen.

Als gesellschaftlich wichtiges Motiv zur Bewahrung von Kulturen und ihrer Identität ist zudem der Erhalt der Vielfalt zu nennen, wofür mit großer Wortgewalt und immer noch gültigen Argumenten in John Stuart Mills On Liberty argumentiert wird. Wir können auch heute noch sagen, dass die Gesellschaft die vorhandenen Unterschiede zwischen den Menschen akzeptieren und das Ausleben verschiedener Lebensformen fördern sollte, so lange damit keine Unterdrückung verbunden ist. Diese Vielfalt bildet durch die damit vorhandene Bandbreite unterschiedlicher Ideen einen Reichtum der Gesellschaft, der ihr helfen kann, die unterschiedlichen Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert ist, zu meistern. Dies kann auch durch das Ermöglichen unterschiedlicher Lebensstile größerer Gruppen geschehen, die man dann gerne als Kulturen bezeichnet. Dazu gehört die Bewahrung einer Vielfalt von Ansichten über Schönheit, die uns vor ästhetischer Uniformierung, Verarmung und Langeweile schützt.

Wie aber stellt man die Identität einer Kultur fest? Wesentlich am Begriff der Kultur ist für viele an der gegenwärtigen Debatte Beteiligten daher ihre Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit mit anderen Kulturen,47 doch haben sich essentialistische Deutungen von Kulturen wie von Nationen als unhaltbar erwiesen, da es unmöglich sein dürfte, Eigenschaften zu finden, die allen oder zumindest den meisten Menschen gemeinsam sind, die einer Nation oder einer Kultur angehören – und den anderen nicht. Im Unterschied zur Staatsbürgerschaft ist es zudem nicht die Ausnahme, sondern der Regelfall, dass man unterschiedlichen Kulturen, ethnischer, religiöser und anderer Art zugleich angehört, ohne dass immer eine klare Präferenzordnung zwischen den Zugehörigkeiten bestünde, dass Menschen wirklich wissen, was ihnen wichtiger ist.

Kulturelle Rechte lassen sich so deuten, dass zum Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit und auf Suche nach dem persönlichen Glück das Recht gehört, seine persönliche Identität in vielerlei Belangen zu finden und zu entwickeln. Dazu gehört, dass niemand aufgrund der Zugehörigkeit zu ethnischen oder religiösen Minderheiten Benachteiligungen ausgesetzt werden darf und jeder und jede die Freiheit erhalten sollte, sich innerhalb der Traditionen der Gruppe, der man sich zugehörig fühlt, zu bilden und sich in der Gemeinschaft aufgehoben zu fühlen.

Umstritten ist, inwieweit man kulturellen Minderheiten, das heißt in concreto Persönlichkeiten, die darin Autorität in Anspruch nehmen, Entscheidungsbefugnis über ihre Mitglieder einräumt, wenn es ihnen zum Erhalt der kulturellen Identität erforderlich scheint.

Die Ansprüche, die mit der Forderung nach Wahrung kultureller Identität verbunden sind, vermögen in der liberalen Gesellschaft nicht selten zu irritieren, ja zu verstören. Zum Vorschein kommt die Problematik am deutlichsten im Strafrecht und im Familienrecht. Benhabib listet einige spektakuläre Fälle von cultural defense auf, wie Doriane Lambelet Coleman bereits 1996 das Phänomen bezeichnet hatte, dass wegen schwerer Straftaten Angeklagte sich darauf berufen, sie hätten aufgrund ihrer kulturellen Herkunft und Einbindung gar nicht anders handeln können.48 Eine zumindest zeitweilige Offenheit der Strafjustiz gegenüber derartigen Argumenten, zu der man sich aus Gründen der Toleranz gegenüber den anderen Kulturen verpflichtet fühlte, führte zu einer gewissen Stabilisierung dieser Tendenz.49

Es lässt sich jedoch bezweifeln, dass die soziale Welt sich in säuberlich getrennte Kulturen aufteilen lässt, die einander dann als geschlossene Einheiten zu tolerieren haben.50 Mehr noch, falls es innerhalb einer Gesellschaft gelingen sollte, derartige Trennungen ins Werk zu setzen, so wäre dies höchstens ein Zeichen pathologischer Entwicklung. Angesichts der unsicheren, oft umstrittenen Zugehörigkeitskriterien ist obendrein keineswegs klar, wer sich erlauben darf im Namen einer Kultur, oder auch nur im Namen einer bestimmten kulturellen Minderheit zu sprechen. Die Personen, die von den staatlichen Behörden oder in den Medien, etwa in Talkshows, als Sprecher derartiger Minderheiten akzeptiert werden, besitzen oftmals keine demokratische Legitimation. Zugehörigkeit zu einer Kultur ist also viel zu unbestimmt, um zur Abgrenzung individueller oder kollektiver Identität tauglich zu sein. Nicht selten wird jedoch in Minderheiten ein erheblicher sozialer Druck, bis hin zum Drohpotential, aufgebaut, um eine derartige Abgrenzung aufrecht zu erhalten und damit Privilegien einzelner exponierter Vertreter oder von Statusgruppen zu sichern.

Die Gesellschaft sollte berücksichtigen, dass Migranten oder andere Minderheiten in einer für sie fremden Welt das Verlangen haben, auch mit ihren andersartigen Gewohnheiten, deren Summe gleichfalls als Kultur bezeichnet werden mag, respektiert und angenommen zu werden, dass sie ferner das Bedürfnis haben, wesentliche Teile ihrer Überzeugungen aufrecht zu erhalten. Es ist sicherlich nützlich und wichtig, angesichts der Vielfalt von Minoritätenproblemen überall auf der Welt die Rechte aller Menschen auf die Suche nach dem guten Leben in Übereinstimmung mit kulturellen Traditionen anzunehmen, so lange die anderen Rechte davon nicht beschädigt werden. Da ist allerdings wichtig, dass die Gruppenzugehörigkeit durchlässig bleibt, dass man sich weder gegen neue Mitglieder abschottet, noch den Wunsch von Mitgliedern, die Gruppe zu verlassen, wenn sie sich benachteiligt fühlen, ignoriert oder sogar verfolgt. Eine eigene Generation von Menschenrechten, die über die Persönlichkeitsrechte und die sozialen Rechte in der Weise hinausgehen, dass sie davon logisch unabhängig sind, scheint dazu nicht erforderlich.

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