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Berlin und Frankfurt

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Im Lichte (oder Schatten) von Paris und Kopenhagen wurde die Aushandlung von Individuum, Pluralismus und öffentlichem Raum als Kernfrage identifiziert. Dies hat sich mit Blick auf die Analyse des Toleranzbegriffs verschärft. Isaiah Berlin ist einer der wichtigsten Vertreter eines Verständnisses von Pluralismus als eines Wertes in sich. Monismen mit ihren Ansprüchen auf kohärente und umfassende Erklärungen gingen nach Berlin an den vielfältigen (heterogenen, fragmentierten) Formen, in denen sich uns die Realität darstellt und an den entsprechend vielen Perspektiven vorbei. „Empathie“ und „Vorstellungskraft“ werden als entscheidende Pluralismusfähigkeiten herausgeschält: „ If I am a man or woman with sufficient imagination (and this I do need), I can enter into a value-system which is not my own, but which is nevertheless something I can conceive of men pursuing while remaining human, while remaining creatures with whom I can communicate, with whom I have some common values – for all human beings must have some common values or they cease to be human, and also some different values or else they cease to differ, as in fact they do.“19 Empathiefähigkeit und Vorstellungskraft sind die Voraussetzungen dafür, dass ich mich in ein anderes Wertesystem einbringen kann. Dazu kommt die Einsichtin die eigene Fehlbarkeit, die gerade im Verbund mit Empathie zu einer Voraussetzung gedeihlichen Zusammenlebens in Vielfalt wird : „Let us have the courage of our admitted ignorance, of our doubts and uncertainties. At least we can try to discover what others […] require, by […] making it possible for ourselves to know men as they truly are, by listening to them carefully and sympathetically, and understanding them and their lives and their needs, one by one individually. Let us try to provide them with what they ask for, and leave them as free as possible.“20

Während Isaiah Berlin den Pluralismus verteidigt, betont der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt die Bedeutung von starken Überzeugungen; Frankfurt hat in seinen Arbeiten immer wieder auf „Strukturen der Sorge“ hingewiesen, die die Identität eines Menschen prägen; durch das, worum wir uns sorgen, bekommt unser Leben ein unverwechselbares Profil und wir werden an unserem eigenen Leben beteiligt – und gleichzeitig erfahren wir Einschränkungen und Verwundbarkeiten: „Caring about something makes us susceptible to certain additional gratifications and disappointments. It is primarily because it serves to connect us actively to our lives“.21 Durch Strukturen starker Sorge entwickelt sich ein gestaltetes Leben, das Personen mit Identität, die durch besondere Bindungen und besondere Verpflichtungen konstituiert – und entsprechend eingeschränkt – ist, auf sich nehmen. Hier kommen auch starke Übezeugungen ins Spiel. Aufgrund der Bindung an einen Menschen sorgen wir uns um etwas, was wiederum entscheidenden Einfluss auf unseren Charakter und die Qualität unseres Lebens hat.22 Dadurch, dass wir uns um Dinge sorgen, werden sie für uns wichtig, „it is by caring about things that we infuse the world with importance.“23 Dieser Sinn für Bedeutsamkeit verdichtet sich, wenn wir etwas „mit ganzem Herzen“ anstreben – erst dann, wenn diese „wholeheartedness“ gegeben ist, haben wir uns das Leben zu eigen gemacht und handeln aus Eigenem heraus. Uns selbst ernst zu nehmen bedeutet, mit starken Überzeugungen starke Sorge zu übernehmen und etwas mit ganzem Herzen zu verfolgen.

Nun wird Toleranz zwischen Berlin und Frankfurt zu lokalisieren sein – auf der einen Seite geht es um Empathiefähigkeit und Vorstellungskraft, auf der anderen Seite um eine Kultur starker Überzeugungen und starker Sorge. Ich möchte vorschlagen, dass diese beiden Ansätze auf ein Plädoyer für „Polyglottie“ hinauslaufen. Diese Idee stellt sich gegen eine neutrale Konzeption des öffentlichen Raums, die gerade in der Frage der Präsenz von Religionen und religiösen Symbolen eine wichtige Rolle in Europa spielt.24 Es is auch vorgeschlagen worden, dass es gerade die Konzeption des öffentlichen Raumes ist, die dazu führt, dass es in Frankreich einen Kopftuchstreit gibt, in den USA hingegen nicht.25 Bedeutet Toleranz im öffentlichen Raum, dass dieser neutral ist? Einschlägige Diskussionen wie der Kruzifixstreit (ist das Kreuz primär ein religiöses oder primär ein kulturelles Symbol?) oder der Kopftuchstreit (darf eine Frau im öffentlichen Raum aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen, gerade auch dann, wenn sie im öffentlichen Raum – als Repräsentantin einer Institution oder des Staates – tätig ist?) haben die Sensibilität für die Frage nach den Konturen des öffentlichen Raumes geschärft. Die Frage nach der Neutralität bzw. Konturiertheit des öffentlichen Raumes wird gerade in der Frage nach der Präsenz von Religion im „public square“ deutlich, wie sich wiederholt im Vereinigten Königreich gezeigt hat: Im Jahr 2003 sagte Alastair Campbell, der damalige Medienberater des englischen Premierministers Blair: „We don’t do God“. Drei Jahre später nahm Blair das Wort „Gott“ in einem Interview mit Michal Parkinson in den Mund, als er auf die Rechtfertigung des Irakkrieges angesprochen wurde. Die einflussreiche Philosophin und Politikerin Baroness Mary Warnock schrieb im New Statesman im April 2008, dass Politiker nicht fragen dürften: „‘What does my religion teach about this measure’ but ‚Will society benefit from it in the empirical world?’“ Diese Momentaufnahmen weisen auf ein zweifaches Unbehagen und eine mögliche Sehnsucht hin. Das Unbehagen rührt zum einen daher, dass Gott nicht für politische Zwecke, gleichsam als stiller Wahlhelfer, instrumentalisiert werden möge. Hier geht es auch um die Achtung vor dem religiösen Empfinden von Menschen, die ihren gemeinschaftlichen Glaubensausdruck ernst nehmen. Das andere Unbehagen wird durch den Artikel Mary Warnocks deutlich: Politikschaffende werden als Menschen gezeichnet, die die eigene religiöse Überzeugung unter den Scheffel stellen, um der Gesellschaft „in der empirischen Welt“ zu dienen. Hier deutet sich bei allem Verständnis für das ausgedrückte Anliegen kein Übermaß an Vertrauen auf die eigene religiöse Tradition und kein Übermaß an Tiefe bezüglich der eigenen Glaubensposition an. Die mögliche Sehnsucht ist freilich die: Politikprägende Persönlichkeiten mögen ihre Arbeit nicht als gespaltene Personen tun, sondern im Einklang mit den Überzeugungen, die die tiefsten Identitätsschichten des Menschen ansprechen.

Die Tradition des liberalen Denkens betont mitunter zwei große Grundsätze, auf denen die liberale Philosophie aufruht: Zum einen der Grundsatz von der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates und der öffentlichen Sphäre, zum anderen der Grundsatz vom privaten Charakter religiöser Angelegenheiten. Beides scheint bei näherer Betrachtung nicht so einfach. Was darf man sich unter einem weltanschaulich neutralen Dorfplatz in Tirol, Sardinien oder Sussex zur Weihnachtszeit vorstellen? Und: Wie attraktiv wären weltanschaulich neutrale öffentliche Orte für die Touristin und den Touristen? Erinnert uns nicht die identity economics daran, dass wir ökonomische Entscheidungen auf Grundlage von Identitätsvorstellungen treffen?26 Die These lautet, dass identitätsstiftenden Kategorien mit sozialen Erwartungen verbunden sind, denen Menschen zu entsprechen suchen. „Individuals’ behaviour depends on who people think they are.“27 Verhält es sich bei politischen Entscheidungen grundlegend anders?28 Wieviel Profil hat öffentlicher Raum ohne weltanschaulich-religiöse Elemente? Auf welcher Grundlage können Entscheidungen getroffen werden?

Zwischen Berlin und Frankfurt will ich, wie angedeutet, den Begriff der Polyglottie einbringen. Der öffentliche Raum bzw. diejenigen, die diesen gestalten, mögen vielsprachig sein. Dieser Gedanke steht der Idee einer agnostischen Einheitssprache im („neutralen“) öffentlichen Raum entgegen.29 John Rawls hatte seinerzeit akzeptiert, dass sich religiöse Menschen in den öffentlichen Diskurs einbringen, allerdings in einer nichtreligiösen Sprache, die den Standards von „public reason“ Genüge tue.30 Nun wissen wir seit Horkheimers und Adornos Ausführungen in ihrer Dialektik der Aufklärung zu viel über die Probleme einer vermeintlich „neutralen Vernunft“, um dies einfach akzeptieren zu können. Statt einer Einheitssprache kann deswegen im Sinne Berlins wie Frankfurts für Polyglottie plädiert werden. Es sind „Weltanschauungssprachen“ zu lernen, wenn man sich im pluralistischen Raum bewegt. Hier wird Toleranz als anspruchsvoller Begriff deutlich: Es ist nämlich kein Zeichen von Toleranz, Inhalte zu affirmieren (oder auch zu negieren), die man nicht verstanden hat. Das hat auch viel mit „Achtung“ und „Respekt“ zu tun, ist doch nach Iris Murdoch das Lieben eines Menschen vergleichbar mit dem Erlernen einer Fremdsprache: Man muss demütig, ausdauernd und selbstvergessen sein.31 Ähnlich sehe ich die Begegnung von Menschen im öffentlichen Raum herausgefordert durch die Idee der Vielsprachigkeit. Eine Muslimin darf ein religiöses Argument (als Argument!) in den öffentlichen Diskurs einbringen, wobei es an meiner Fremdsprachenkenntnis liegt, das Argument als Argument zu verstehen. Ein Vertrag allein kann die für ein anspruchsvoll tolerantes Miteinander notwendiges Dialogniveau nicht garantieren. Nichtdialogischer Pluralismus, der eine neutrale Sphäre, in der aufgrund einer Kontraktualisierung Kooperation ohne Gesprächskultur stattfinden kann, ist nicht ausreichend. Silvio Ferrari weist entsprechend auf den Wert des Dialogprozesses hin: „It may be that, at the end of this consultation process, it will still be impossible to reach a mutually agreed solution: In that case, a choice will be required between the application of the majority rule and the recourse to neutrality by exclusion, that is, by banning all religious symbols from schools. But even when a shared decision cannot be reached, consultation and dialogue are not a wasted effort. Through them, the issue of religious symbols becomes part of the educational process. The display of a religious symbol in the classroom is discussed and, whatever decision is taken at the end of the debate, people are compelled to accept their responsibilities. In this way, the crucifix – or another religious symbol – is no longer perceived as something obvious and irrelevant.“32

Die Anerkennung eines anderen kann nicht von der Berücksichtigung der Haltung dieses anderen gegenüber dem, was ihr und ihm heilig ist, getrennt werden. Und damit sind wir von Paris und Kopenhagen über Berlin und Frankfurt in Assisi angelangt.

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