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Eine phänomenologische Annäherung an Differenz

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Wie eingangs erwähnt, ist es Horton und Mendus zufolge das Problem der Differenz, das den Debatten um Tolerierung und Toleranz zugrunde liegt. Wenngleich damit das Ausmaß der Herausforderung jener Debatten anerkannt wird, so muss dennoch die Frage aufgeworfen werden, warum in diesen Debatten das Problem der Differenz unmittelbar mit dem Verhältnis und den vorgegebenen Identitäten von ‚Selbst‘ und ‚Anderem‘ gleichgesetzt wird. Empfehlenswerter wäre es, einen Moment lang inne zu halten, diese Gleichung in Frage zu stellen und zu reflektieren, ob die Klassifizierung in ‚Selbst‘ und ‚Andere‘, wie oben angedeutet, nicht bereits immer schon zu einer dichotomischen und essentialisierenden Sichtweise auf das Problem der Differenz führt. Falls dies als Möglichkeit akzeptiert wird, sollte zunächst die Problematik der Differenz selbst theoretisch ergründet werden. Im Folgenden werden einige Ideen der phänomenologischen Tradition diskutiert, welche sich mit Differenz befassen. Sie kommen zu dem Schluss, dass die Verwendung der Begriffe ‚Selbst‘ und ‚Anderer‘ auf soziale Wirklichkeit gestützt sein muss, die aus empirischen Untersuchungen der Entstehung und d.h. der Konstruktion dieser Kategorien gewonnen werden. Die Existenz von ‚Selbst‘ und ‚Anderem‘ kann nicht einfach so angenommen werden, insbesondere nicht als voneinander abgegrenzte und binäre Kategorien.

Die Problematik der Differenz ist im phänomenologischen Diskurs ein ebenso wichtiges Thema wie in liberalen Debatten zu Tolerierung und Toleranz. Sie steht für eine Tradition, welche die Soziologie von Georg Simmel sowie Alfred Schütz und die Philosophie von Martin Heidegger bis hin zu den zeitgenössischeren Vertretern Emmanuel Lévinas und Jacques Derrida durchzieht. Anstatt die Existenz und die voneinander getrennten Identitäten von ‚Selbst‘ und ‚Anderem‘ anzunehmen, beginnt der phänomenologische Diskurs einen Schritt früher und nähert sich Differenz(en) als menschlichen Erfahrungen erster Ordnung an. Wenngleich es auch hier Terminologien und eine Sprache des ‚Selbst‘ und des ‚Anderen‘ gibt (z.B. als ‚der Fremde‘, ‚the other‘, ‚the stranger‘, ‚l’Autre‘, etc.), werden diese Kategorien jedoch nicht als ursprünglich oder vorgegeben angesehen. Das Gegenteil ist der Fall: Sie werden bewusst offen gelassen, um, wie Simmel argumentiert,30 nur nach Erfahrung und tatsächlichen Handlungen („als Träger sachlicher Inhalte“) verwendet zu werden, nicht aber nach Annahmen.

Ein weiteres gemeinschaftliches Merkmal des phänomenologischen Diskurses, welches das zuvor diskutierte gleichsam ergänzt und ermöglicht, ist eine Diskussion von Differenz anhand einer zeitlichen, oder besser verzeitlichenden Ontologie. Kurz gesagt bedeutet dies, dass Differenzen weder als Einheiten, Entitäten oder Substanzen betrachtet werden (können), sondern ihnen im jeweiligen historischen und kulturellen Kontext ein temporaler, d.h. vergänglicher und ungewisser Charakter zugeschrieben wird. Aus phänomenologischer Sicht ist es weder bekannt noch relevant, ob die gesellschaftliche Welt, d.h. auch Differenzen,31 tatsächlich etwas Unveränderliches, Essentielles und Unvergängliches an sich hat oder ob ‚die Dinge‘ tatsächlich vergänglich und ungewiss sind. Entscheidend ist, dass wir von dieser Welt, sozialwissenschaftlich gesprochen,32 kein Wissen über jeweilige Wesenseigenschaften oder das Sein haben;33 vielmehr erfahren wir von allen gesellschaftlichen und politischen Dingen und schließlich eben auch von der ontologischen Frage über das Sein selbst lediglich ihre Veränderbarkeit und Vergänglichkeit, d.h. ihre unterschiedlichen historischen und kulturell abweichenden Bedeutungen. Dieser phänomenologische Diskurs ist auf radikale Weise von der Philosophie Friedrich Nietzsches geprägt: Der Phänomenologie liegt die Überzeugung zugrunde, dass es unmöglich ist, zu definieren, was Geschichte hat34 – und da alle ‚Dinge‘ Geschichte haben, d.h. zeitlich sind, kann nichts fixiert, definiert oder als vordefiniert bzw. gegeben erachtet werden (dies gilt folglich auch für das ‚Selbst‘ und das ‚Andere‘). Aus phänomenologischer und genealogischer Sicht ist diese Erkenntnis alles, was wir über ‚die Dinge‘ wissen (können) – und damit auch alles, was zur Untersuchung der Entstehung von Identitäten und Konstruktionen von ‚Selbst‘ und ‚Anderem‘ zur Verfügung steht. Alle anderen Wissensansprüche werden im phänomenologischen Diskurs entweder als ideologisch oder metaphysisch zurückgewiesen (während letzteres ebenfalls als ideologisch erachtet wird).35

Doch welchen politischen Vorteil hat ein phänomenologischer Diskurs gegenüber dem liberalen (und analytischen)? Diese Frage muss insbesondere deshalb gestellt werden, um die Annahme zu entkräften, ein phänomenologischer Diskurs lasse ‚nur‘ Aussagen darüber zu, was nicht ist oder wie ‚die Dinge‘ entstanden sind, ohne jedoch Auskunft darüber zu geben, was tatsächlich ist oder getan werden sollte, da dieser Diskurs davon ausgehe, ‚die Dinge‘ würden sich ständig und stetig ändern; und diese Ausgangslage, so mag man glauben, ist für politisches Handeln nicht gerade günstig. Doch liegt gerade in dieser Unbestimmtheit der Vorteil gegenüber (der Logik von) Annahmen und Identitätszuweisungen. Es ist gerade diese Unbestimmtheit, die den normativen Rahmen für eine Annäherung an die Thematik der Differenz bieten kann, d.h. nicht für die Diskussion von Tolerierung bzw. Toleranz selbst, aber für den Umgang mit Differenz und damit für die dem Tolerierungs-/Toleranz-Diskurs zugrunde liegende, zentrale Problematik. Im Weiteren soll diese Normativität diskutiert werden.

Die Normativität, die aus dieser Unbestimmtheit hervorgeht, liegt in der theoretischen und praktischen Offenheit gegenüber anderen Mitgliedern der Gesellschaft sowie in der Hervorhebung der Tatsächlichkeit der Begegnung von ‚Selbst‘ und ‚Anderem‘ – sie ist also in der Theoretisierung von Differenz auf Grundlage einer zeitlichen Ontologie und einer empirischen Studie von tatsächlichen Prozessen von Identitätsformierungen sowie etwaigen Konflikten, die im Laufe solcher Formierungsprozesse entstehen, begründet. Dass das ‚Selbst‘ in und durch diesen Prozess ebenso konstituiert wird wie ‚das Andere‘, ist ein wichtiger Aspekt des phänomenologischen Diskurses. Denn dadurch gibt es weder einen ‚Anderen‘, noch ein ‚Selbst‘, und gewiss keinen ‚Urzustand‘ und keine ‚ideale Kommunikations- und/oder Handlungssituation‘, welche als schon bestehend oder gegeben erachtet und vorausgesetzt werden könnte. ‚Selbst‘ und ‚Anderer‘, ebenso wie ihre sozialen und politischen Kontexte, werden vielmehr in einem unbefristeten und ergebnisoffenen Prozess durch tatsächliche empirische Aufeinandertreffen geformt. Dadurch haben sie keine ursprünglich dichotomische, binäre oder metonymische Beziehung.

Die Begründung dieser Normativität kann mit Hilfe der Philosophien von Emmanuel Lévinas und Jacques Derrida bereichert werden. Danach ergibt sich die theoretische und praktische Notwendigkeit einer bewussten Schaffung sozialer und politischer Räume, worin sich diese Offenheit und Unbestimmtheit entfalten kann. So wird eine Norm für den Umgang mit Differenz gewonnen, welche sich fundamental von den Debatten um Tolerierung und Toleranz unterscheidet. Anstatt ein Aufeinandertreffen von angenommen ursprünglichen Identitäten und Interessen eines ‚Selbst‘ und eines ‚Anderen‘ und daraus entstehende Konflikte zu typologisieren und konzeptualisieren, und anstatt nach politischen Praktiken (‚Tolerierung‘) und Einstellungen (‚Toleranz‘) zu suchen, um mit diesen Identitäten, Interessen und Konflikten umzugehen, wäre ein (philosophisch radikalisierter) Ansatz zum Umgang mit Differenz möglich, der durch die folgenden Merkmale gekennzeichnet ist: (1) Eine auf einer zeitlichen Ontologie basierende Theoretisierung führt zu einer offenen Wahrnehmung von Gesellschaft und Politik. (2) Eine solche Wahrnehmung resultiert in der theoretischen Unmöglichkeit, die Existenz verschiedenartiger und voneinander getrennter Identitäten – und somit auch die Existenz eines ‚Selbst‘ – anzunehmen; vielmehr beruht sie (3) auf empirischen Begegnungen und der Frage, wie sich Menschen tatsächlich verhalten, während sie gleichzeitig Essentialisierungen solcher Begegnungen vermeidet. Dies geschieht (4), um folglich die Schaffung gesellschaftlicher und politischer Räume zu fordern, worin eine unvoreingenommene und nicht vorkonzipierte Entwicklung solcher Begegnungen möglich wird.

Die philosophische Radikalisierung im Denken von Differenz, welche durch Lévinas und Derrida ermöglicht wird, resultiert also politisch in der Forderung nach gesellschaftlichen und politischen Räumen für die Entfaltung und Artikulation von Differenz. Diese Radikalisierung wird vor allem dadurch deutlich, dass sie mit der traditionellen erkenntnistheoretischen Annahme bricht, es gäbe eine Beziehung zwischen ‚Noesis‘ und ‚Noema‘ oder zwischen ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘. Innerhalb des phänomenologischen Diskurses herrscht diese Annahme noch in den früheren Theorien von Simmel und Schütz (wie auch von Heidegger) vor. Das Brechen mit dieser Beziehung hat die weitreichende Konsequenz, dass ‚Dinge‘ nicht mehr als Objekte der Erkenntnis betrachtet werden können. Sie entziehen sich dem Wissen und der ‚Wissbarkeit‘. Es gibt dann weder ‚Subjekt‘ noch ‚Objekt‘. Dies gilt sowohl für die ‚andere‘ Seite von Differenzen, wie auch für das ‚Selbst‘, weshalb ‚das Selbst‘ und ‚das Andere‘ bzw. Identitäten generell weder angenommen noch antizipiert werden können oder dürfen. Dadurch wird, wie vor allem Lévinas argumentiert, der ‚Andere‘ – bzw. die Wahrnehmung von Differenz – freigesetzt.

Auch wenn diese Forderungen radikal erscheinen, sind sie ‚lediglich‘ eine Konsequenz von ‚Zeitlichkeit‘ und Verzeitlichung.36 Denn wenn alle Dinge durch die Geschichte hindurch in konstanter Bewegung sind und permanenten Transformationen unterliegen, kann es keinen neutralen Blickwinkel geben, der auf ‚die Dinge‘ blickt, sie fixiert und ihr Wesen erkennt. Es gibt nur Prozesse, so dass sich ‚die Dinge‘ nicht nur Definitionen, Identifikationen oder Konzeptualisierungen entziehen, sondern auch dem Wissen und der ‚Wissbarkeit‘.37 Aus normativer Sicht sollen deshalb weder ‚das Selbst‘ noch ‚das Andere‘ definiert, konzeptualisiert, fixiert, identifiziert oder als bekannt erachtet werden. Auf diese Weise wird politisch die Schaffung von Räumen zur Norm, die von all diesen Praktiken und Versuchen frei sind und bewusst freigehalten werden. Diese Trennung von ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘ hat also weitreichende Konsequenzen; man könnte sogar denken, zu weitreichende, denn, wie argumentiert werden mag, droht sie letztlich unsere politische Handlungsfähigkeit zu zerstören. Wie im nächsten Absatz weiter erläutert und argumentiert wird, geht es aber nicht darum, bestehende Handlungsräume (sprich: Institutionen, Rechtssysteme etc.) abzuschaffen und komplett zu ersetzen, sondern darum, sie um eine kritische Komponente der Selbstreflexion und gegebenenfalls der Selbstkorrektur zu erweitern. Dies zielt hier im Rahmen von Tolerierungs- und Toleranzdiskursen im Wesentlichen darauf ab, dass Essentialisierungen um den Vorteil invidueller Freiheiten de-essentialisert werden. Im Zentrum der Forderungen steht hier deswegen die Hybridität, d.h. die Gleichzeitigkeit, liberal-essentialisierender (da politisch-kulturell und institutionell wirksam) und kritisch-deessentialisierender (da zur Korrektur ersterer notwendig) Vorstellungen und Praktiken.38

Diese normative Forderung wird im Werk Derridas am deutlichsten. Derrida bettet dieses erkenntnistheoretische Verständnis und seine praktischen politischen Konsequenzen der Unbestimmtheit und Offenheit in ein politisches Grundverständnis ein, das Politik nicht als einen feststehenden und (institutionell, rechtlich etc.) gegebenen Zustand begreift, sondern immer nur als vorübergehend und bevorstehend.39 Dies bedeutet nicht, dass es kein politisches System, ein Rechtssystem, politische Organisationen, eine politische Kultur usw. gibt und auch immer geben muss. Doch müssen all diese Institutionen stets um die normative Vorgabe erweitert und gegebenenfalls verbessert werden, sich bewusst als unvollendet und ergebnisoffen zu betrachten; d.h. diese Institutionen dürfen nicht mit einem vordefinierten telos und Zweck versehen werden, sondern sollten immer suchend und erfindend bleiben. Diese permanente Suche nach Möglichkeiten, einen institutionellen, rechtlichen, etc. Rahmen zu schaffen, der frei ist von a-priori-Konzeptualisierungen, Definitionen etc., ist das (zusätzliche) Ziel von Politik und politischem Handeln, das aber nie als erreicht, da dann bereits vernichtet und erloschen, angesehen werden darf. Im Sinne der im obigen Absatz erwähnten Hybridität von liberal-essentialisierenden und kritisch-deessentialisierenden Vorstellungen und Praktiken geht es auch hier um die Gestaltung einer zusätzlichen und erweiterten Dimension politischer Handlungsräume (sprich: Institutionen, Rechtssysteme etc.). Gerade mit Blick auf die Frage des Rechts und rechtlicher Garantien und Ansprüche des Einzelnen besteht diese zusätzliche Dimension aus einem Recht auf Unbestimmtheit und Offenheit bzw., wie in den Schlussfolgerungen weiter ausgeführt wird, auf Nicht-Identifikation.

Sowohl das erkenntnistheoretische Verständnis dieser Unbestimmtheit, als auch die praktisch-politische Norm der bewusst ergebnisoffenen Herangehensweise werden dann am deutlichsten, wenn Derrida über Europa, über Gastfreundschaft und über Vergebung spricht.40 Insbesondere Letzteres eignet sich zur Illustrierung: In sogenannten Wahrheitskommissionen (z.B. in Südafrika, Ruanda etc.) stehen sich Täter und Opfer – ‚Selbst‘ und ‚Anderer‘ – gegenüber. Während die Opfer vor den anwesenden Richtern, dem Publikum, anderen Opfern und den Tätern aussagen, durchleben sie sehr wahrscheinlich ihre traumatischen Erlebnisse erneut. Dabei kann jeder im Verlauf solcher Zeugenaussagen zum ‚Opfer‘ und/oder ‚Täter‘ werden. Im Verlauf solcher Begegnungen geschieht daher, wie Protokolle solcher Kommissionen zeigen, oft Unvorhergesehenes und Unerwartetes. Und genau deshalb ist es nötig, innerhalb dieser Institutionen intellektuelle, psychologische und praktische Räume der tatsächlichen Begegnung zu schaffen, die das Unvorhersehbare oder Unerwartete ermöglichen.

An dieser Stelle wird bewusst nicht dazu aufgerufen, Tolerierung/Toleranz aporetisch zu verstehen. Stattdessen wurde Derrida in die Argumentation eingeführt, um aufzuzeigen, dass starke normative Argumente wichtig sind für Unbestimmtheit, Offenheit und eine möglichst offen gehaltene Theoretisierung von Differenz (inklusive der Frage der Gerechtigkeit und Verantwortung), letztlich als Begründungsrahmen für Tolerierung/Toleranz. Gerade bezüglich der Frage der Gerechtigkeit ist zu fragen, wie denn unter Bedingungen der Unbestimmtheit und Offenheit ein rechtliches und politisches System, inklusive entsprechender Institutionen, geschaffen werden kann, in dem Gerechtigkeit verbürgt und ein verantwortungsvolles politisches Subjekt konzipiert werden kann. Natürlich wäre es vermessen, hier einen Entwurf zu dieser Frage präsentieren zu wollen, doch die Richtung einer Antwort mag in dem Gedanken liegen, dass eine neue, hybride Dimension von Gerechtigkeit gerade in der Einführung und Schaffung jener Räume der Offenheit, Unbestimmtheit und Differenz als Korrektiv und erweiterter Optionalität von Politik liegt, gekoppelt an die politische Verantwortung des Einzelnen, für die Schaffung solcher Räume einzutreten, sie auszfüllen und zu verteidigen.

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