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Zwischenbemerkung: Der Begriff der Toleranz

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In Paris und Kopenhagen wurde eine blutige Spur gelegt, die ebenso mit Grenzen der Toleranz wie mit dem vernünftigerweise Zumutbaren (i.e. „Tolerierbaren“) zu tun hat. Was heißt es, etwas zu tolerieren? Dazu eine Zwischenbemerkung. Die Grundidee von Toleranz, wie ich sie verstehe, kann in folgendem Satz zusammengefasst werden:

P akzeptiert X, das von P abgelehnt wird, um eines höheren Gutes G willen.

Oder anders gesagt:

(1) P lehnt X in Situation S1 ab.

(2) P akzeptiert G in S1 und S2.

(3) P akzeptiert X in S2 aufgrund von G.

Kommentar: „P“ kann eine einzelne Person, aber auch eine Personengruppe, wohl auch eine Institution und ein Gemeinwesen sein. Freilich bleiben Entscheidungen und Äußerungen des Privileg des bewussten Einzelwesens, also der Person. „X“ kann alles sein, was unter die von Mary Douglas in die Diskussion eingebrachte Kategorie „out of place“ fallen kann. „Out of place“ ist das, was innerhalb einer Kultur, die als Mechanismus zur ständigen Aushandlung der Grenze zwischen „in place“ und „out of place“ verstanden werden kann, in einer bestimmten Situation unerwünscht, fehl am Platz ist; das kann ein Gegenstand, eine Handlung, ein Gefühl, eine Person sein. „S1“ ist eine Situation, in der G von P nicht berücksichtigt werden muss, gewissermaßen eine Situation, in der X für sich betrachtet werden kann oder auch eine Situation, in der P keine weiteren sozialen Handlungssubjekte mitzudenken hat. So steht „S1“ für eine Situation, in der P und X weitgehend isoliert betrachtet werden können. „G“ ist ein Gut, also etwas, dessen Vorliegen seinem Nichtvorliegen vorgezogen wird – es hat den Status des Wünschenswerten; im Sinne dieser Analyse hat „G“ die Funktion des „höheren Gutes“, um dessetwillen etwas akzeptiert wird, was ohne G nicht akzeptiert werden würde. „G“ kann ein einzenles moralisches Gut sein, kann aber auch für ein Bündel von Gütern stehen. „S2“ schließlich ist die komplexe und soziale Situation, in der weder X noch P isoliert betrachtet werden können. Es ist jener Typ von sozialer und moralisch differenzierter Situation, der in Fragen der Gestaltung des öffentlichen Raums und der Koordination menschlichen Verhaltens untereinander auftritt.

ad (1): Sinnvollerweise wird man mit Unterscheidungen und Abstufungen arbeiten – „ablehnen“ ist ein Begriff, der auf einem Spektrum eingetragen werden kann; relevant könnte die Unterscheidung zwischen „begründeter“ und „nicht begründeter“ Ablehnung sein; ebenso scheint die Unterscheidung von Intensitätsgraden der Ablehnung sinnvoll. Relevant ist auch die Form der Äußerung der Ablehnung. Grundsätzlich ist also ein „Warum“ und ein „Wie“ der Ablehnung in Betracht zu ziehen.

ad (2): Analog zum „Ablehnen“ können auch im Fall des „Akzeptierens“ unterschiedliche Begründungsstärken, Intensitätsgrade und Ausdrucksformen unterschieden werden. Der Begriff der „Akzeptanz“ deutet auf eine „Affirmatio“ hin, die das Vorliegen von X grundsätzlich bejaht – das bedeutet, dass X „gut geheißen“ wird. Strittig ist, wie weit diese affirmatio gehen muss. Muss X tatsächlich als „bonum“ betrachtet werden oder reicht es aus, X als „akzeptabel“ anzusehen. Diese Überlegungen knüpfen an Lockes Anliegen in seinem „Letter on Toleration“ an, dass niemand zum Glauben gezwungen werden könne, weswegen er die staatlich anzuerkennende Gedankenfreiheit postuliert, ein Argument, das sowohl (1) als auch (3) untermauern kann.

ad (3): In einer besonderen sozialen Situation S2 steht P vor einem anderen Regelwerk als in einer sozial weniger exponierten Situation S1. Hier gelten unterschiedliche Regelwerke und auch unterschiedliche moralische Güter, die zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. S2 bildet einen „Rahmen“, innerhalb dessen P als soziales und politisches Wesen und S1 als sozial relevante Situation verortet werden können. Die Wahrnehmung von Situationen als soziale Situationen (und damit die Wahrnehmung eines „Q“ durch P) hat Voltaire und andere Aufklärungsdenker dazu gebracht, Toleranz zum Zeichen der Menschlichkeit zu machen. Dennoch – gerade weil wir uns im sozialen Raum bewegen – oszilliert Toleranz zwischen Solidarität und Indifferenz, was sich in der Frage nach den Schattenseiten, den Kosten und den Grenzen von Toleranz niederschlägt. Zusätzlich kann man die Frage nach der Motivation von Toleranz stellen – ist es vernünfiger, auf eine solidarische Haltung oder auf „self interest“ zu setzen?13

Aus dieser Analyse ist klar, dass „Toleranz“ zunächst mehr einer „Duldung“ als einer begeisterten Affirmation von X gleicht. Seneca sprach in den Anfängen der Geschichte des Toleranzbegriffs von der „Dulderkraft“ der Seele, die bei einer gefestigten Seele so weit reiche, dass zwischen Freude und dem Ertragen von Schmerzen kein Unterschied mehr sei.14 An anderer Stelle ist von der „Willenskraft“ der Seele die Rede, „die sich Hartes und Raues zumutet“.15 „Toleranz“ zeigt sich hier als die Kraft, Widriges und Missliches zu ertragen, ohne dabei beeinträchtigt zu werden; es ist eine Form „moralischer Resilienz“, die hier vertreten wird. In diese Tradition fällt auch die christliche Idee, dass die Liebe „alles erträgt“ (1 Kor 13,7). Die jüdisch-christliche Tradition betont auch die „Langmut“ („Toleranz“?) Gottes angesichts des menschlichen Versagens.

Kritische Anfragen wird sich der Toleranzbegriff gefallen lassen müsse, wenn es, um wieder die angeführte Analyse zu zitieren, um das Verhältnis von (1) und (3) geht. Bedeutet Toleranz, dass starke Überzeugungen aufgeweicht und aufgelöst werden? Diese Anfrage hat etwa Friedrich Nietzsche gestellt: Sind starke Überzeugungen mit Toleranz vereinbar? In den „Streifzügen eines Unzeitgemäßen“ (18) in seiner Götzen-Dämmerung macht sich Nietzsche Gedanken über den toleranzbedingten Verlust von starken Überzeugungen: Er spricht von der Heuchelei in der sanften Luft unserer Kultur, in der man vom Glauben loslässt, den man hatte, oder sich einen zweiten Glauben zulegt. „Ohne Zweifel ist heute eine sehr viel größere Anzahl von Überzeugungen möglich als ehemals … Daraus entsteht die Toleranz gegen sich selbst. – Die Toleranz gegen sich selbst gestattet mehrere Überzeugungen: diese selbst leben verträglich beisammen.“16 Nietzsche argwöhnt, dass damit Geradlinigkeit, Echtheit und Willensstärke geopfert werden. Wie stark sind die in (1) ausgedrückten Überzeugungen in Bezug auf „X“, damit sie sich von „G“ überschreiben lassen? Die Gefahr schwacher Überzeugungen hat auch Herbert Marcuse in seinen Überlegungen zur repressiven Toleranz geortet. „Repressive Toleranz“ ist jene Gleichgültigkeit, die damit den je Mächtigeren dient.17

Hier zeigen sich die Fragen nach dem Status von „G“ und nach den Grenzen von (3). Oder anders gesagt: G kann stets das X in (1) werden, dem gegenüber sich ein je höheres G’ in (2) und (3) einstellen kann. Wo aber liegt hier die Grenze eines im Prinzip unendlich reiterierbaren Prozesses? Popper hat diese Grenze prominent mit Blick auf die handelnden Personen gezogen: „We should therefore claim … the right not to tolerate the intolerant.“18 Damit kristallisiert sich die Frage nach der Akezptanz von Andersartigkeit und die Pluralismusfähigkeit als Schlüsselmomente des Toleranzbegriffs heraus.

Toleranz

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