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Tolerierung/Toleranz und das Problem der Normativität

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Die theoretische Sackgasse und die daraus resultierende praktische politische Gewalt liberaler, analytischer politischer Theorie weisen auf das Problem des normativen Rahmens hin, der für eine jede Begründung des Konzeptes der Tolerierung/Toleranz nötig ist. Zur Erinnerung: Das Hauptproblem liberaler politischer Theorie besteht in der Fundierung ihres normativen Rahmens auf einer (jedoch nur anscheinend offensichtlichen und erwiesenen) Existenz eines ‚Selbst‘ und eines ‚Anderen‘ sowie des Konzepts der Andersartigkeit („the other“) selbst. Ein Beispiel dieser Problematik findet sich bei Michael Walzer. Nach Walzer macht Toleranz/Tolerierung Differenz erst möglich; gleichzeitig benötigt Differenz Tolerierung/Toleranz.19 Wie viele andere mit ihm setzt er die Existenz eines ‚Anderen‘, und damit auch eines ‚Selbst‘ hiermit grundsätzlich voraus.

Auf diese Weise wird vorausgesetzt, dass die Existenz eines ‚Anderen‘ stets mit Differenz einhergeht. Diese Gleichung liegt auch dem im vorherigen Teil erläuterten Problem zugrunde und ist der Grund, weshalb liberale politische Theorien unfähig sind, einen normativen Rahmen für die Rechtfertigung von Tolerierung/Toleranz zu schaffen, der nicht in politischer Gewalt oder einer theoretischen Sackgasse endet. Der kleine, aber entscheidende Unterschied zwischen diesen Argumenten im Vergleich zu jenen des Autors ist, dass die Existenz eines ‚Selbst‘ und eines ‚Anderen‘ erstens nicht einfach als gegeben erachtet werden kann und ihnen deshalb zweitens zu keinem Zeitpunkt eine eindeutige Identität zugeschrieben werden darf (wie es für das ‚Selbst‘ beispielsweise nach liberalen Vorstellungen von Toleranz als vernünftige Geisteshaltung und als politische Praxis des liberales Staates versucht wird); drittens bedeutet dies, dass Differenz nicht mit Andersartigkeit gleichbedeutend ist, sondern eine grundständige menschliche Erfahrung ist, während Andersartigkeit Differenz bereits einer bestimmten, nämlich binären und dichotomischen Sichtweise und Konstruktion dieser Erfahrung unterzieht. Das Problem wird durch Forsts Argumentation in Toleranz im Konflikt (2003) deutlich:

Die eigene Wahrheitsauffassung muss sich […] an dem normativen Vorrang der Anderen, an ihrem Recht auf Rechtfertigung brechen, wenn es um eine Regelung geht, die allgemein und reziprok verbindlich zu sein beansprucht […]. Entscheidend ist […], dass […] die Toleranz gerade dann, wenn man die eigenen […] Überzeugungen nach wie vor für wahr und richtig hält, es fordert, diese Überzeugungen nicht ohne entsprechende Rechtfertigung durchsetzen zu wollen. (S. 595)

Daraus schließt er, dass die Grenzen der Rechtfertigung dann erreicht werden, wenn anderen das grundlegende Recht auf Rechtfertigung verwahrt wird.20 Damit, so argumentiert Forst, ist das Wesen und die Bewährungsprobe seiner Theorie das ‚Prinzip der Rechtfertigung selbst‘ (450). Dieses stützt er daraufhin auf vier weitere grundlegende Prinzipien, die jedoch nichts anderes als Mutmaßungen des liberalen ‚Selbst‘ sind: Sie bestehen aus einem ‚diskursiven Prozess‘ (454) ‚rationaler Wesen‘ (451) und ‚autonomer moralischer Personen‘ (456), die sich in einem gemeinschaftlichen Kontext der Verantwortung befinden (456). Hier spiegeln sich die zuvor diskutierten Annahmen des (liberalen) ‚Selbst‘ wider: Erstens in Form einer idealen Kommunikations- und Handlungssituation von, zweitens, Personen, welche sich in einem Urzustand (‚Autonomie‘) befinden, der sich drittens durch geteilte Rationalitäten kennzeichnet. Wenn man nun, wie vielfach von seinen Vertretern geäußert, die Annahme ernst nimmt, dass dem Diskurs um Tolerierung die Auseinandersetzung mit Differenz und die daraus folgenden Themen des sozialen Friedens und der sozialen Gerechtigkeit zugrunde liegen, so muss man anerkennen, dass der Kern dieser Problematik tatsächlich, d.h. empirisch nicht aus Konflikten besteht, die im Rahmen mutmaßlich geteilter Rationalitäten entstanden sind, sondern vielmehr aus Konflikten, in welchen grundlegend andere, unvereinbare Rationalitäten und Wertevorstellungen vorherrschen – Konflikten also, in welchen ‚unsere‘ eigenen Rationalitäten an ihre Grenzen stoßen. Hier wird ein weiteres Problem liberaler Theorie und liberaler politischer Praxis deutlich. Indem sie ‚Andersartigkeit‘ im Falle abweichender Rationalitäten dann noch stärker unter und in ihre mutmaßende a-priori-Logik und politische Ordnung hineinzwingen, und je mehr sich die ‚Anderen‘ den vorherrschenden Rationalitäten entziehen oder sich ihnen widersetzen, führen liberale Theorie und liberale politische Praxis in einen weiteren theoretischen Selbstwiderspruch und zu politischer Gewalt.

Es herrscht unter liberalen Theoretikern die allgemeine Meinung vor,21 dass Rawls zwischen Theory of Justice (1971) und Political Liberalism (1993) generell von a-priori-Konstruktionen zu einer stärkeren Kontextualisierung seiner Konzepte von Gerechtigkeit und politischem Liberalismus vorangeschritten sei. Die hiesige Kritik sei daher verfehlt, da sie diese Entwicklung nicht berücksichtigen würde. Dem sei hier widersprochen. Man betrachte dazu seinen Aufsatz ‚Erwiderung auf Habermas‘22 von 1997, in dem er all jene bekannten Positionen zur ‚original position‘ als Annahmen (d.h. ‚Hypothesen‘, ‚freistehend‘ und ‚analytische Hilfsmittel‘, ganz im Sinne des a priori analytischer Philosophie) wiederholt, um Gerechtigkeit durch ein teilweise redundant anmutendes Vernunftmantra23 zu begründen sowie umfassende Wertesysteme zur Begründung politischen Liberalismus24 abzulehnen. Die einzige Möglichkeit, eine Kontextualisierung seiner Argumente und Konzepte, insbesondere jene von Gerechtigkeit und Fairness, auszumachen, besteht daher in der Sicht, dass das Politische und politische Deliberation stärker als zuvor als verfassungsmäßige (liberale, westliche) Demokratie ‚kontextualisiert‘ und festgeschrieben würden.25 Hierdurch, ebenso wie durch seine Wiederholung der oben genannten, bekannten Positionen, aber wird die hiesige Kritik nur bestätigt. Diese besteht aus zwei Aspekten: (1) Durch analytische Annahmen und Konstruktionen landet man in einer theoretischen Sackgasse zwischen Abstraktionen und konkreten Erfahrungen und kann dadurch keine normative Begründung für die eigenen Konzepte breitstellen; es sei denn durch Redundanzen und Reifizierung der eigenen Annahmen, wodurch (2) Identitäten, d.h. ‚Selbst‘ und ‚Anderes‘, vorweggenommen, stigmatisiert und gegebenenfalls, hier vom Bereich dessen, was als ‚reasonable‘ be- und vorgezeichnet wird, theoretisch und institutionell (u.U. gewaltsam) ausgeschlossen werden. Wir lesen hierzu einen lehrreichen und erhellenden Satz in Rawls, der jene Einschränkungen des Politischen auf den liberalen Staat und seine Rationalitäten als blanke Suche nach Stabilität im Gegensatz zu ansonsten herrschender – und nach Rawls auf alle Fälle zu vermeidender – politischer Kontingenz und flüchtiger Kontexte erscheinen lässt. Durch diesen oft vernachlässigten Aspekt entlarvt sich Rawls als ideologischer Denker. Er schreibt:

Daraus aber [gemeint ist die Begründung von Gerechtigkeit durch Vernunft] folgt die Stabilität aus den richtigen Gründen. Das Gegenbeispiel wäre eine Gesellschaft, in der, wenn man die Bürger nach ihren vollen Begründungen einteilt, deren politische Vorstellungen nicht in einer geteilten politischen Konzeption eingebettet oder mit einer solchen verbunden sind. In diesem Falle gibt es nur einen modus vivendi und die Stabilität der Gesellschaft beruht auf einem Gleichgewicht der Kräfte unter zufälligen und womöglich wechselnden Umständen (S. 211).26

Der Unterschied nun zwischen einer philosophischen Sprache des ‚Selbst‘ und des ‚Anderen‘, die auf der Annahme der Existenz dieser als Entitäten mit den ihnen zugeschriebenen Identitätsmerkmalen beruht, und demgegenüber einer kritischen Position, die eine Sprache von ‚Selbst‘ und ‚Anderem‘ als essentialisierende Konstruktionen zurückweist und stattdessen die Erfahrung von Differenz theoretisiert, mag klein und unbedeutend erscheinen. Wie sich im nächsten Teil zeigen wird, ist dieser Unterschied jedoch von ausschlaggebender normativer und praktischer Bedeutung. In der Konsequenz sollten wir die Sprache von ‚Selbst‘ und ‚Anderem‘ (oder von ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘) vermeiden und stattdessen von Differenz(en) sprechen und empirische Methoden sowie Dynamiken ihrer Konstruktion erforschen. Solch ein alternativer Ansatz sollte Differenz als eine grundständige Erfahrung ansehen, welcher in unterschiedlichsten Formen Ausdruck verliehen wird – sei es in Politik und Gesellschaft, oder in den Künsten, dem Theater, der Lyrik usw. Ein solcher Ansatz würde dann Differenzen als neutral und nicht-essentiell ansehen und sich einer Sprache von ‚Selbst‘ und ‚Anderem‘ nur auf empirische Weise, d.h. auf Grundlage von tatsächlichen Vorstellungen und Formen, und eben nicht basierend auf Annahmen, bedienen und daher die Bedingungen dafür schaffen, einen unvoreingenommenen Raum für Differenz zu öffnen.27

Demgegenüber sind liberale Debatten über Tolerierung/Toleranz ein Beispiel für essentialisierende Konstruktionen von Differenz, da Differenz als gleichbedeutend mit Andersartigkeit angesehen wird; Konstruktionen, die von den Werten und dem Staatsapparat des liberalen ‚Selbst‘ getragen werden, ja diesem entspringen. Sie scheinen daher wegen dieser In-eins-Setzung und Identifizierung nicht in der Lage, einen eigenen normativen Rahmen zu bieten oder zu entwickeln. Zudem wenden sie sich politischer Gewalt zu, indem sie (konstruierte) ‚Andere‘ immer im Gegensatz zu und als minderwertig gegenüber dem liberalen ‚Selbst‘ sehen, welches jedoch ebenfalls konstruiert ist und auf Identitätsannahmen beruht. Folglich wird Andersartigkeit nur toleriert. Tolerierung bedeutet damit, Überzeugungen, Handlungen oder Gebräuche, welche als falsch erachtet werden, unter Vorbehalt zu akzeptieren und nicht zu unterbinden.28 Die Bedingungen für Tolerierung werden in der Praxis jedoch im Einklang mit dem liberalen ‚Selbst‘ formuliert und basieren theoretisch, wie oben erwähnt, auf idealen Kommunikations- und Handlungssituationen sowie jeweils eigenen Rationalitäten. Dies bedeutet, dass alle anderen ‚Anderen‘, die es zu tolerieren gilt, hierarchisch nach Werten und Glaubenssystemen gegenüber dem ‚Selbst‘ abgestuft werden. Liberale Debatten über Tolerierung/Toleranz wirken somit als hegemonialer Mehrheitsdiskurs gegen all jene Minderheiten, die vom liberalen ‚Selbst‘ abweichen, daher als ‚falsch‘ betrachtet werden und sich deshalb mit auferlegten Existenzbedingungen konfrontiert sehen. Diese Bedingungen sind letztlich willkürlich und entstammen ihrerseits lediglich den Dynamiken, Stimmungen und Schwankungen (der Konstruktion) des liberalen ‚Selbst‘.29

Toleranz

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