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Paris und Kopenhagen, Berlin und Frankfurt. Und Assisi.
Zur Einleitung Paris und Kopenhagen

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Am 7. Januar 2015 begann ein blutiges Drama um die Idee der Toleranz in Europa: Die Redaktion der Pariser Satirezeitschrift Charlie Hebdo wurde von zwei maskierten Tätern überfallen, elf Menschen, darunter fünf Karikaturisten und der Herausgeber, wurden getötet, weitere Anwesende verletzt. Auf der Flucht ermordeten die Täter einen Polizisten. Sie wurden zwei Tage später in Dammartin-en-Goële von Sicherheitskräften erschossen. Am Tag darauf wurde eine Polizistin im Süden von Paris von einem Mann erschossen, der am 8. Januar einen Supermarkt für koschere Waren in Paris überfiel, vier Menschen tötete und weitere als Geiseln nahm. Er bekannte sich zum Islamischen Staat und wurde bei der Erstürmung des Supermarkts getötet. Am 14. Februar 2015 wurde in Kopenhagen ein Anschlag auf das Kulturzentrum verübt, in dem eine Diskussionsveranstaltung mit dem schwedischen Karikaturisten Lars Vilks stattfand. Ein Dokumentarfilmer und drei Polizisten wurden getötet. Am nächsten Tag wurde ein Anschlag auf die Kopenhagener Synagoge verübt, bei dem ein Wachmann erschossen wurde. Auch der Täter wurde schließlich erschossen.

Sowohl in Paris als auch in Kopenhagen kam es zu Solidaritätskundgebungen, die die Anschläge auch als Anschläge auf die Idee der Demokratie und die Idee europäischer Werte ansahen. „Meinungsfreiheit“ und „Pluralismus“ wurden als grundlegende Werte adressiert. Die erste Ausgabe von Charlie Hebdo nach den Anschlägen wies wiederum eine Karikatur des Propheten Mohammed auf, mit dem Untertitel „Tout est pardonné“. Auch diese Karikatur war Auslöser wütender Proteste. Wir treten hier in ein Minenfeld, in dem Begriffe wie „Blasphemie“ und „Respekt“, „Ehrgefühl“, „Toleranz“, „Pluralismus“, „Freiheit“ und „Humor“ miteinander verhandelt werden. Es kann mit guten Gründen für die „semantische Liquidität“ der Karikaturen, also dafür, dass die Bedeutung der Karikaturen uneindeutig ist, argumentiert werden. Simon Weaver hat etwa vier Interpretationsweisen und Lesarten vorgeschlagen, die zwar nicht allesamt wechselseitig ausschließend sind, aber doch in einem Konfliktverhältnis stehen – die Karikaturen als (1) a criticism of Islamic fundamentalism; (2) blasphemous images; (3) Islamophobic and racist; and (4) satire and a defence of freedom of speech.1 Jede Interpretation – und es können durchaus weitere hinzugefügt werden – bewegt sich damit im Spannungsfeld mit anderen Lesarten.2

Tiefe Einblicke in die Diskussion gibt ein Artikel von Lliana Bird in der Huffington Post vom 13. Januar 2015. Unter dem Titel „Charlie Hebdo: They’re Not Racist Just Because You’re Offended“ sprach sie sich in aller Deutlichkeit für die Zumutbarkeit der Beleidigung in einer pluralistischen Gesellschaft aus: Charlie Hebdo, so Bird, mache sich über alle Formen institutionalisierter Religion lustig, „they were democratic in their ridicule and satirisation“. Für eine pluralistische Gesellschaft erhebt sie die Forderung: „All people, systems and organisations should be open to criticism and mockery (so long as it sticks within the laws of the land).“ Der Übergang von Kritikoffenheit zu Satireoffenheit ist schnell und glatt und geht m.E. zu leichtfertig über eine Schwelle hinweg. Bird zitiert Laurent Leger, ein Redaktionsmitglied, das die Anschläge vom Januar 2015 überlebt hat, mit den Worten: „We want to laugh at extremists – every extremist … Everyone can be religious, but extremist thoughts and acts we cannot accept“. Nun stellen sich hier wichtige Fragen in Bezug auf „Extremismus“ – ist eine Religion bereits dann extremistisch, wenn sie sich selbst ernst nimmt? Eine Religion, die sich selbst ernst nimmt, wird einen Begriff des Heiligen entwickeln und damit auch einen Begriff von Blasphemie. Ist jede Religion, die in aktiver Weise über diesen Begriff verfügt, bereits extrem oder extremistisch? Bird zählt eine Reihe von Beispielen aus früheren Ausgaben von Charlie Hebdo auf, die unterschiedliche Adressaten karikiert und oftmals zu Reaktionen der Empörung geführt hatten. „Freedom of speech means that some things people say and do are bound to offend you and vice versa. That’s ok. As (a personal hero of mine) Majid Nawaz says you have every right to be offended, you do not have the right to not be offended.“ Es gibt kein Recht, nicht beleidigt zu werden. Die Grenzen für die Meinungsfreiheit werden, so Bird, durch die Gesetzeslage des jeweiligen Landes bestimmt – und nur durch diese. Ansonsten gelte die Idee, dass nichts jenseits der Lächerlichmachung liegen dürfe: „The thought that a religion, a set of beliefs, or an idea, could be above criticism or ridicule is, to me, a scary one which could lead us into very dangerous ground“.

Der Toleranzbegriff wird hier klar konturiert: Das je höhere Gut, um dessentwillen Dinge, die man eigentlich ablehnt, akzeptiert werden sollen, ist einerseits das Gut der Meinungsfreiheit, andererseits das wohl noch grundlegendere Gut von Demokratie und pluralistischer Gesellschaft. Demokratie und Pluralismus wird von Bird so verstanden, dass prinzipiell alles kritisierbar und „verhöhungsoffen“ sein müsse. Ersteres ist auf andere Weise zu argumentieren als letzteres: Karl Poppers Idee einer offenen Gesellschaft kann als wichtige Quelle zur Begründung einer Gesellschaft, in der sämtliche Ansprüche kritisierbar und entsprechend begründungspflichtig seien. Es ist auch ein Verständnis von Vernunft, Vernunft als jenes Vermögen anzusehen, Geltungsansprüche zu erkennen, zu begründen bzw. auf ihre Begründung hin zu hinterfragen.3 Eine andere Argumentation muss eingeschlagen werden, wenn es darum geht, zu betonen, dass prinzipiell alles „Spott“, „Hohn“ und „Satire“ unterworfen und ins Lächerliche gezogen werden könne; dieser Anspruch geht implizit davon aus, dass es (öffentlich) Heiliges in einer demokratisch-pluralistischen Gesellschaft nicht geben dürfe, ist es doch das Wesen des Heiligen, jenseits des „Bespaßbaren“ zu sein. Das Heilige ist das, was gerade nicht „angegriffen“ (weder im Sinne von „berührt“ noch im Sinne von „attackiert“ werden kann bzw. darf), es ist das, was sich als „out of place“ dem menschlichen Zugriff entzieht. Das, was einem Menschen heilig ist, berührt im religiösen Sinn das, was sich menschlicher Manipulationskraft entzieht, im nichtreligiösen Sinn das, was die tiefsten Identitätsschichten eines Menschen tangiert. Die Privatisierung dieser Konzeption geht mit dem Anspruch einer Neutralität des öffentlichen Raums, in dem sich die entsprechenden Autoritäten (in einem rechtlich abgestecken Rahmen) äquidistant zu den einzelnen weltanschaulichen Proponenten und Offerten verhalten.

Die Privatisierung des Heiligen im Namen der Toleranz ist eine interessante Gegenbewegung zum öffentlichen Charakter von Religion(en), die die Geschichte des europäischen Toleranzdenkens geprägt haben, ging es doch etwa in Nikolaus von Kues’ De Pace Fidei um die Aushandlung des Verhältnisses von Religionen im gesellschaftlichen Raum, also als politische und nicht als persönliche Frage. Dieser Privatisierung des Heiligen lässt sich auch am Begriff der Blasphemie, der in Kopenhagen wie Paris eine Rolle gespielt hat, zeigen. Konnte Thomas von Aquin noch davon ausgehen, dass Blasphemie jene Sünde ist, die direkt gegen Gott verübt wird (im Unterschied zu Sünden wie Gewalt gegen Mitmenschen, die sich als Verstoß gegen die Ordnung Gottes nur indirekt auf Gott beziehen)4, wurde der Blasphemiebegriff sukzessive „horizontalisiert“ und als Gegenstand sozialer Situationen rekonstruiert: Blasphemie als „the use or abuse of language, or behavioural acts, that scorn the existence, nature or power of sacred beings, items, or texts.“5 Damit wurde Blasphemie auch als soziale und nicht mehr bloß innerreligiöse Kategorie politisch relevant. „Blasphemie“ wurde freilich von Anfang an in einem sozialen Rahmen gesehen, der den Verdacht, dass eine Blasphemie (oder auch Häresie) die Kohäsion der religiösen Gemeinschaft erodiere, nährt.6 „Religion“ und „Zusammenleben“ sind insofern als politisch relevante Themen nicht voneinander zu trennen, als der Begriff der Religion (etwa im Unterschied zu Spiritualität) die Idee einer (geordneten und konturierten) Gemeinschaft einschließt. Als Gemeinschaftsmitglied ist der religiöse Mensch Mitglied verschiedener Vergemeinschaftungsformen (Religionszugehörigkeit, Staatsbürgerschaft) und bringt diese unterschiedlichen Identitätsquellen wie auch Loyalitäten in den öffentlichen Raum ein. Paris und Kopenhagen zeigen Bruchlinien dieser Diskussion auf; ist der Begriff „Blasphemie“ in einer pluralistischen Gesellschaft veraltet? Christoph Baumgartner hat dies verneint und vorgeschlagen, Blasphemie als Form psychologischer Gewalt anzusehen. Damit ist Blasphemie eine politisch relevante Kategorie, geht es doch im Politischen wenigstens darum, weitgehende Gewaltfreiheit im Miteinander zu sichern.7

Eine wichtige Quelle von Aggressionsabbau bzw. Aggressionshemmung ist neben der Höflichkeit auch der Humor. Lliana Bird hatte die Offenheit sämtlicher Inhalte gegenüber „criticism and scorn“ gefordert. Nun kann man sich natürlich fragen, welchen Beitrag zum gedeihlichen Miteinander der Humor zu leisten vermag. Diese Frage ist insofern mit einem Grundanliegen von Toleranz verbunden, als Humor sowohl mit epistemischen Erwartungen, als auch mit sozialer Ordnung spielt und damit genau mit jenen Herausforderungen, die der Toleranzgedanke auferlegt. David Benatar hat in einem Beitrag auf die Bedeutung des Humors, auch in politischer Hinsicht (subversive Kraft des Humors) hingewiesen; in der Kritik an Formen von Humor werden häufig drei Aspekte falsch eingeschätzt: Der Nutzen und die Vorteile des Humors wird zu wenig beachtet; es werden kontextuelle Simplifizierungen im Sinne einer unverantwortlich vereinfachten „Wir“-gegen-„Sie“-Dichotomie vorgenommen; es wird dem Umstand von „offence“ (Kränkung, Beleidigung) zu viel Raum gegeben, kann doch der Umstand, dass jemand beleidigt ist, mehr mit seiner Lebensgeschichte und Persönlichkeit als mit der vorliegenden Situation zu tun haben.8 Die Satire mit ihren Momenten von Kritik, Ironie und Implizitheit hat, so könnte man argumentieren, eine feine Klinge, um auf subtile Weise die Funktion des Humors zu erfüllen. Kein Zweifel: Humor ist ein wichtiges Medium, das für Koexistenz und Kovivenz einen wichtigen Beitrag zu leisten vermag. Dennoch sei die Frage erlaubt: Bedeutet „Toleranz“ in einer pluralistischen Gesellschaft tatsächlich, dass es (etwa im Namen von Meinungsfreiheit und Kunst) weder öffentlich Heiliges noch öffentlichen Respekt vor religiösem Ehrgefühl geben dürfe?9

Flemming Rose, ein Herausgeber der dänischen Zeitung Jyllands-Posten, die am 30. September 2005 Karikaturen, die den Propheten Mohammed darstellten, abdruckte, hielt die Veröffentlichung der Karikaturen sogar für eine Inklusionsmaßnahme und Ausdruck von Respekt – die Karikaturen zeigten, „that we want to integrate Muslims into the European tradition of satire. Thereby we told them: You are not a weak minority of victims who require special consideration. We treat you as equals. And we expect neither more or less from you than from any other group in society. This is recognition, not exclusion.“10 Inklusion in den weltanschaulich neutralen öffentlichen Raum einer säkularisierten demokratischen Gesellschaft, so die These, bedeutet Aufnahme in die Gemeinschaft derjenigen, die Gegenstand von Äußerungen im Rahmen der Meinungsfreiheit wären. Hier dreht sich die Stoßrichtung von „Toleranz“ im folgenden Sinne: Es ist nun nicht die Mehrheit, die im Namen von Respekt Praktiken einer Minderheit toleriert, sondern es ist eine Minderheit, die im Namen von Inklusion Praktiken der Mehrheit zu tolerieren hat. Das ist ein bemerkenswertes Phänomen. Diese Inklusion erfolgt im Namen eines territorial weiter gesteckten Rahmens, der – wohl auch auf dem Hintergrund kulturübergreifender Wertansprüche – über einen nationalen Kontext hinausgeht: Der dänische Karikaturenstreit (wie wohl auch die Auseinandersetzungen um Charlie Hebdo) haben internationale und transnationale Ausmaße, die auch den europäischen Raum übersteigen und gerade deswegen nicht allein im Kontext europäischer Werte diskutiert werden können.11

In Roses Position zeigen sich neue Akzente in der Frage nach dem Verständnis von Toleranz. Toleranz wird hier als Zumutung nicht für diejenigen, die die Macht haben, gesellschafliche Spielregeln aufzustellen, sondern als Zumutung für diejenigen, die in das gesetzte Spiel integriert werden sollen, aufgefasst. Das wiederum führt zu einem interessanten Punkt in der Inklusionsdebatte: Ist Inklusion die Eingliederung in ein bestehendes Spiel oder die Veränderung dieses Spiels durch diejenigen, die „von außen“ hinzukommen? Jonathan Sacks, der frühere Chief Rabbi des Commonwealths, hat anhand von drei Bildern auf die Unterschiede in der Integrationspolitik aufmerksam gemacht12: Das Bild des Hotels, das Bild des Gästehauses, das Bild des Bauplatzes. Wenn Menschen in ein Dorf ziehen, kann ihnen, so das Szenario, das Sacks entwirft, entweder ein Hotel (X zahlt die Rechnung, hat keine Schulden, kann aber auch nichts verändern) oder ein Gästehaus (X wird „auf Zeit“ eingeladen, es erwächst eine Gastschuld, X kann nur bedingt gestalten) oder ein Bauplatz (X will bleiben, kann gestalten, muss aber Hand anlegen). Durch die Idee eines Neubaues verändert sich das Dorfbild, verändert sich der öffentliche Raum. „Inklusion“ ist dann nicht „Einschluss in Bestehendes, von dem das Eingeschlossene inkorporiert oder absorbiert wird“, sondern: „gemeinsam ausgehandelte Veränderung des Geteilten und Gemeinsamen“. Diese Idee von „Inklusion als soziale Innovation“ sieht sich in Roses Standpunkt nicht bestätigt. Verlangt Toleranz ausdrücklich den „Bauplatz“ oder reicht ein Gästehaus? Diese Frage deutet auf den Kern der eigentlichen Diskussion im Europa des 21. Jahrhunderts hin – es geht um die Aushandlung von Individuum, Pluralismus und öffentlichem Raum. Bevor wir dieser Frage nachgehen, soll zunächst eni grundlegender Blick auff den Toleranzbegriff geworfen werden.

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