Читать книгу Land unter dem Nordlicht - Группа авторов - Страница 21

Verschriftungskultur

Оглавление

Während der Kreuzzugszeit ging Finnland zur schriftlichen Kultur über – ein Prozess, der sich selbstredend nur sehr langsam vollzog. Nimmt man eine individuelle Lese- und Schreibfertigkeit, die in gewisser Weise die ganze Gesellschaft erfasst, in den Blick, wurde diese gar erst an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erreicht. Lese- und schreibkundig waren im mittelalterlichen Finnland natürlich die Schreiber, aber man kann annehmen, dass auch Geistliche, Predigtbrüder, Richter, Beamte und Stadtbürger, allen voran Kaufleute, lesen und schreiben konnten. Bei Frauen waren diese Fähigkeiten noch weniger ausgebildet als bei Männern. Immerhin setzte man bei den Nonnen im Kloster von Naantali, das seine Tätigkeit erst in den 1440er Jahren aufnahm, offenbar gewisse schriftliche Fertigkeiten voraus. Anfang des 16. Jahrhunderts schloss sich Kristina Magnusdotter, deren Onkel Paulus Scheel Erzdiakon und früher Dompropst von Turku war, der Klostergemeinschaft an. Ihr mit dem Onkel geführter Briefwechsel ist teilweise erhalten und bezeugt, dass Kristina nicht nur lesen und schreiben konnte, sondern sich auch sehr für Bücher interessierte, die sie vom Stammkloster Vadstena gekauft hatte.

Trotz der Überschaubarkeit der Kreise, die des Lesens und Schreibens kundig waren, ist festzuhalten, dass schon im 15. Jahrhundert fast alle Finnen, sogar die Einwohner in entlegenen Gegenden, Teil schriftlicher Kommunikation waren, wenn auch in den breiten Volksschichten alle Angelegenheiten vorwiegend noch mündlich abgewickelt wurden. Aber die Lehren und Regeln, die dem Volk in der Predigt und bei der Beichte vorgeschrieben wurden, gründeten auf gemeineuropäischem schriftlichem Erbe. Die weltliche Obrigkeit ihrerseits organisierte Verwaltung und Gerichtswesen nach ihren eigenen Gesetzen. Auch in Finnland erwartete man von den Bauern, dass sie an den einige Male im Jahr stattfindenden Gerichtsverhandlungen teilnahmen, bei denen ein Richter zusammen mit aus der Bauernschaft ausgewählten Schöffen nach schwedischem Gesetz Recht sprach. So wurde auch dem Volk die Sprache des Gesetzes vermittelt. Auf den Gerichtssitzungen wurden auch die im Namen des Königs oder seiner Staatsmänner verabschiedeten Statuten und Bestimmungen vorgelesen, wodurch schriftliche Texte mündlich Ausdruck fanden. Umgekehrt wurden mündlich vorgetragene gerichtliche Urteile schriftlich notiert, entweder als gesondertes Dokument oder in Urteilsverzeichnissen, sogenannten Gerichtsbüchern. Bei der Besteuerung des Volkes verwalteten die Krone und die Kirche noch im entferntesten Fleckchen des Landes die Bewohner ebenfalls schriftlich. Der interne Schriftwechsel von Vertretern der Obrigkeit konnte sich im Prinzip auf alle Finnen beziehen. Auf diese Weise blieben Analphabeten nicht außerhalb der schriftlichen Kultur und auch nicht bloß Objekt schriftlicher Kommunikation. Wer nicht lesen und schreiben konnte, trug dem Beamten sein Anliegen mündlich vor. Dann bekam die Sache – sei es eine eidesstattliche Erklärung oder die Bitte um einen Sicherheitsbrief – durch die Hand des Staatsvertreters oder dessen Schreibers schriftliche Form.

Die schriftliche Kultur ist jedoch als eine mannigfaltige Erscheinung zu verstehen. Das lateinische oder kyrillische Alphabet waren nicht die einzige Möglichkeit, sich im Ostseegebiet schriftlich zu verständigen. Die germanischen Völker gebrauchten seit antiker Zeit Runenzeichen, die wahrscheinlich nach etruskischen oder römischen Schriftzeichen kopiert waren. Runen wurden keineswegs nur in Stein geritzt, obwohl sie in dieser Form besser erhalten blieben als etwa auf Knochen oder Holz. Dank den im norwegischen Bergen aufgefundenen Runenhölzern weiß man, dass mithilfe von Runen noch im nordischen Mittelalter alltägliche Informationen ausgetauscht wurden. In Schweden nahm die Verwendung von Runenzeichen mit der Stabilisierung der lateinischen Schrift ab, aber in abgeschiedenen Gegenden lebte diese Kunst bis ins 18. Jahrhundert fort. Seit dem Mittelalter vertraten Runen in erster Linie die schriftliche Kultur der Bauern.

In welchem Umfang die Finnen Runen verwendeten, ist nur schwer zu klären. Man darf annehmen, dass spätestens die schwedischen Siedler die Runenschrift mitbrachten. Eine umfassende schwedische Besiedlung erfolgte in Finnland aber erst im 13. Jahrhundert, als das lateinische Schriftsystem die Runen schon verdrängte. Es wurden nur einige wenige als Runen interpretierte oder zumindest deutbare Inschriften auf Åland und in Ostbottnien gefunden. Für Finnland ist kein einziger Runenstein bekannt, lediglich ein Bruchstück, das 1997 an der Südküste im Meer aufgefunden wurde und vielleicht als Ballast auf einem Schiff benutzt worden war. Ferner ist in der Nähe von Turku bei Ausgrabungen eine Holzschachtel aus dem Ende des 14. Jahrhunderts aufgetaucht, in deren Boden der Anfang des Ave-Maria-Gebets in Runen eingeritzt ist; aber auch dies lässt sich als Importware erklären.

Der bedeutendste Nachweis für die Verwendung von Runen auf finnischem Boden sind die Merkzeichen und Runenstäbe oder -kalender der nicht schreibkundigen Bauern. Merkzeichen ersetzten die Unterschrift bis weit in die Neuzeit hinein. Mit ihren Runenkalendern wiederum verfolgten Bauern wie Pfaffen den Zeitverlauf, indem sie festhielten, wann ein Feiertag war und wann man diese oder jene Feldarbeit zu tun hatte. Auch diese Runenkalender wurden teilweise noch im 19. Jahrhundert benutzt. An manchen Merkzeichen sind Übereinstimmungen mit der Runenschrift zu bemerken. Auch in den Kalendern wurden Runen und runenähnliche Zeichen als Symbole eingeritzt. Es ist daher durchaus möglich, dass Runen in Finnland als Mittel volkstümlicher Kommunikation größere Bedeutung hatten, als man im Lichte der archäologischen Funde direkt erschließen kann.

Zum Zentrum der städtischen Hochkultur und der katholischen Kirche entwickelte sich im 13. Jahrhundert Turku, an dessen Stadtrand die Burg der schwedischen Krone erbaut wurde und wohin spätestens Ende des Jahrhunderts der Bischofssitz verlegt wurde. Die Dominikaner gründeten in der Stadt schon 1249 ihren Konvent und ab 1276 existierte eine Kathedralschule, an der Priester für die katholischen Gemeinden ausgebildet wurden.

Vom 13. Jahrhundert an bildete Turku das wichtigste Portal, durch das die westeuropäische Schriftkultur Eingang nach Finnland fand. Gefördert wurde die Verbreitung der Kultureinflüsse dadurch, dass die meisten Bischöfe keine gebürtigen Finnen waren. Zahlreiche Geistliche studierten auch im Ausland, und zwar bis zum Großen Schisma (1378–1417), dem Zerwürfnis der katholischen Welt, vor allem an der Universität Paris. Später zog auch die Universität Prag finnische Studenten an und ab Anfang des 15. Jahrhunderts standen die jungen deutschen Universitäten in der Gunst der künftigen Gelehrten aus Finnland.

Der größte Teil der im Mittelalter in Finnland gelesenen und produzierten Literatur wurde durch Feuerbrände, Kriege und die im 16. Jahrhundert einsetzende Reformation vernichtet. In dieser Zeit wurden katholische Schriften bewusst konfisziert und zerstört; die weltliche Obrigkeit führte Teile davon indes einer Zweitverwendung als Buchdeckel für ihre Kontobücher und andere Dokumente zu. Solche Fragmente erwiesen sich als nützlich in dem Bemühen, die schriftliche Kultur des Mittelalters zu rekonstruieren.

In der finnischen Nationalbibliothek zu Helsinki sind etwa 10.350 Pergamentblätter aufbewahrt, die Schätzungen zufolge von 1700 in Finnland geschriebenen oder nach Finnland verbrachten Handschriftensammlungen stammen. Die meisten Blätter scheinen zu in den Gemeinden benutzten liturgischen Werken gehört zu haben, von denen einige auch im Ganzen erhalten sind. Aus den Fragmenten wissen wir, dass in Finnland im Mittelalter die gleichen Schriften gelesen wurden, die im übrigen Europa bekannt waren, zum Beispiel die Legenda aurea genannte Sammlung von Heiligenviten des Jacobus de Voragine. Auch die Exemplum-Literatur, Sammlungen von moralischen Vorbildgeschichten, die für Predigten genutzt wurden, muss den Finnen bekannt gewesen sein. Die meisten der erhaltenen und rekonstruierten Texte waren zwar in lateinischer Sprache geschrieben, aber wahrscheinlich erreichte manches Werk doch auch Laien, die des Lateinischen nicht mächtig waren, wenn Priester die Texte etwa in ihren volkssprachlichen Predigten verarbeiteten und als Richtschnur für Anweisungen in der Beichte verwendeten. Man kennt die finnische Predigttradition des Mittelalters freilich so wenig, dass inhaltliche Analysen praktisch nicht durchführbar sind.

Obwohl der Großteil der aus den Fragmenten erschließbaren Texte verschiedene Arten geistlicher Literatur vertritt, finden sich darunter doch auch juristische Werke. Die meisten Schriften dürften Geistlichen gehört haben, ein Teil davon wurde sicherlich während des Studiums erworben. Das Kloster Naantali kaufte und lieh Bücher zum Kopieren vom Stammkloster Vadstena. Die Klosterregeln verboten prinzipiell Privatbesitz, aber offensichtlich besaßen die Klosterbewohner, auch Nonnen, eigene Bücher.

Die wichtigsten Produktionszentren geistlicher Literatur waren in Finnland das Domkapitel zu Turku, der Dominikaner- und der Franziskanerkonvent daselbst, das Kloster Naantali und in Karelien das Kloster Valamo. Auch weltliche Erzählliteratur wurde gelesen, was sich aber wohl vorwiegend auf Adels- und wohlhabendere Bürgerkreise beschränkte und nur vereinzelt in Bauernfamilien vorkam. Dabei handelte es sich größtenteils um Importe aus Schweden, Russland, Deutschland oder auch aus entfernteren Ländern. Offizielle weltliche „Prosa“ stellen die Gesetzestexte dar. Finnland erhielt nie ein eigenes Gesetzbuch, sondern in den von Schweden besetzten Gebieten galt das schwedische Recht: In der ersten Phase richtete man sich nach dem Provinzrecht von Hälsingland, ab Mitte des 14. Jahrhunderts nach dem Landesrecht. In den Städten befolgte man das Stadtrecht Schwedens, das ebenfalls Mitte des 14. Jahrhunderts abgefasst wurde. In ihrer Ganzheit wurden die Gesetze vermutlich nicht vor Mitte des 16. Jahrhunderts ins Finnische übersetzt. Frühere Untersuchungen gingen davon aus, eine mittelalterliche Version des schwedischen Rechts, der sogenannte Codex Aboensis, sei in Turku verfasst worden. Neuerdings konnte man allerdings aufzeigen, dass die Handschrift auf der westlichen Seite des Bottnischen Meerbusens angefertigt wurde.

Aus Landsitzen und Burgen sind keine belletristischen Werke erhalten. Wie aus in Schweden bekannten Auszügen zu entnehmen ist, wurden solche Werke aber zumindest in wohlhabenden adeligen Familien gelesen und gehört. Die einheimische Literatur war praktisch mündliche Kultur, die erst in neuerer Zeit schriftliche Form erhielt, als Gelehrte sie zur Bewahrung verschrifteten. Auf diese Weise haben sich die Erzählungen verändert, wenngleich die mittelalterlichen Elemente oft leicht zu erkennen sind. In die finnische Volksdichtung gingen auch Einflüsse aus dem Ausland ein, beispielsweise durch Kulturkontakte mit Personen aus anderen Ländern. In der skandinavischen Balladentradition sieht man die Widerspiegelung adlig-kontinentaler schriftlicher Überlieferung und manche Ballade eignete man sich auch als Teil der volkstümlichen mündlichen Tradition in Finnland an: Entweder hörte man sie auf Festen, bei denen Oberschicht und einfaches Volk zusammentrafen, oder es übermittelten sie die Mägde und Knechte, die auf den Burgen und Landgütern dienten, in ihre Heimatgegend und die eigene Gesellschaftsklasse.

Als Beispiele für lebendige Überlieferung mittelalterlicher Volksdichtung bis ins 19. Jahrhundert hinein seien die Lieder Inkerin virsi und Annikaisen virsi genannt. Das Lied von Inkeri ist die Variante einer skandinavischen, adligen Ballade und besingt das Ideal romantischer Liebe. Das Annikainen-Lied erzählt von einem jungen Mädchen aus Turku, das sein Schicksal beklagt: Es hat den ganzen Winter über einen deutschen Kaufmann unterhalten und verpflegt, der sie im Frühjahr gleichwohl verlassen und in seine Heimat zurücksegeln will. Die betrogene Annikainen ruft höhere Kräfte an, die einen Sturm aufkommen lassen, sodass der deutsche Händler mit Mann und Maus im Meer versinkt. Diese Erzählung, die von den Mädchen des Dorfes Ritvala noch im 19. Jahrhundert gesungen wurde, enthält also eine fremdenfeindliche Aussage – vielleicht wollte man damit junge Mädchen davor warnen, den Versprechungen Fremder zu trauen.

Von diesen und ähnlichen Liedern gab es jeweils viele Varianten, was für die mündliche Kultur typisch ist. Auch die übrigen in Finnland lebenden Sprachgruppen verfügten über eine reiche mündliche Erzähltradition, die sich aus einer Gegend in die andere und über politische Grenzen hinweg von einer Sprach- und Gesellschaftsgruppe zur anderen übertrug.

Land unter dem Nordlicht

Подняться наверх