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3. Europas Grenzen

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Wo eigentlich verlaufen die geographischen Grenzen Europas?17 Schon um das Jahr 430 vor Christus hatte der griechische Schriftsteller und Geograph Herodot den Begriff „Europa“ auf die Regionen nördlich des Mittelmeers sowie des Schwarzen Meers bezogen.18 In der Römerzeit und bis ins Mittelalter hinein war der Begriff geläufig, um einen von Asien und Afrika unterschiedenen dritten Erdteil zu bezeichnen. Doch erst im 17. Jahrhundert gewann „Europa“ eine dem heutigen Verständnis vergleichbare räumliche Bestimmtheit.19 Dabei orientierte sich die Ostgrenze Europas zunächst weitgehend am Einflussbereich der ehemals lateinischen, inzwischen konfessionell zersplitterten Kirchen des Westens. Als freilich Katharina die Große im Jahr 1762 dekretierte: „Russland ist ein europäisches Land“, verlegte sie damit nicht nur die geographische Grenze Europas vom Don an den Ural, sondern erklärte auch – gegen den Widerstand der russischen Slavophilen – die russisch-orthodoxe Tradition zu einem Teil europäischer Identität.20

Unterschieden hiervon blieb freilich der Begriff des „Abendlandes“. Dieser fußt auf der antiken und mittelalterlichen Vorstellung, wonach Europa jener Erdteil ist, welcher der untergehenden Abendsonne (occidens sol) am nächsten liegt. Erstmalig der reformierte Theologe und Historiker Kaspar Hedio (1494–1552) gebrauchte im Jahr 1529 das deutsche Wort „Abendländer“, und zwar als Gegenbegriff zu „Morgenland“, mit dem Luther das griechische Wort ἀνατολή in Mt 2,1 übersetzt hatte, aus dem nach neutestamentlicher Überlieferung die Magier kamen, um den neugeborenen König der Juden zu verehren.21 Bis ins 18. Jahrhundert hinein wurde „Abendland“ fast ausschließlich im Plural verwendet („Abendländer“), um den westlichen Teil Europas zu bezeichnen.

Der in den lateinischen Übersetzungen von Mt 2,1 gebrauchte Begriff occidens blieb im Mittelalter dem Einflussbereich der römisch-katholischen Kirche vorbehalten. Als „Patriarch des Abendlandes“ hob sich deren Oberhaupt, der Papst, von den vier Patriarchen des Orients ab; im Westen des ehemaligen Römischen Reiches etablierte er sich als oberste kirchliche und teils auch politische Autorität.22 In langfristiger Folge der beiden Reichsteilungen von 293 (Diokletian) und 395 (Theodosius I.) spaltete der Gegensatz zwischen der lateinisch-römischen Kirche des Westens und der griechisch-byzantinischen Kirche des Ostens Europa nicht nur kirchlich, sondern auch sprachlich und kulturell. Konflikte zwischen „Lateinern“ und „Orthodoxen“ entzündeten sich in Süditalien und auf dem Balkan, vor allem aber während des 4. Kreuzzuges, als im Jahr 1204 westliche Kreuzfahrer Konstantinopel eroberten und plünderten.

Nach dem Vordringen islamischer Truppen entlang der Küste Nordafrikas und auf die Iberische Halbinsel grenzte das lateinische „Abendland“ seit dem 7. Jahrhundert im Osten an den Herrschaftsbereich der orthodoxen Christenheit, im Süden an den Herrschaftsbereich des Islam.23 Erst seit dem Mauerfall 1989 und der Osterweiterung der Europäischen Union findet der Begriff „Abendland“ auch auf den orthodoxen Teil Ost- und Südosteuropas Anwendung – sofern er denn überhaupt noch verwendet wird.

Ungeachtet der Entscheidung Katharinas galt noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der orthodoxe Osten Europas nicht als Teil des „Abendlandes“. Dies zeigt sich bei Oswald Spengler (1880–1936). Kurz nach dem Ersten Weltkrieg vertrat dieser in seinem kulturphilosophischen Werk Der Untergang des Abendlandes (1918/20) die organologisch anmutende These, dass die okzidentale Kultur Westeuropas – zu der Spengler inzwischen auch Nordamerika zählte – gleich einer verblühenden Pflanze im Zerfall begriffen sei, und dass sie im 3. Jahrtausend durch die „russische Kultur“ abgelöst werde.24 Dieser Gedanke ist offenkundig nur solange konsistent, als Russland und das Abendland voneinander unterschieden werden.

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