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2.2. Ethnologische Wende

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Die Karriere der Ethnologie zur Leitwissenschaft der Mediävistik in den 1980/90er Jahren hat zwar sehr viel verändert und nicht zuletzt die intellektuellen Werkzeuge für die aktuelle Diskussion bereitgestellt. Aber sie hat in der Breite ihrer Rezeption nicht den Referenzrahmen für die Deutung des lateinischen Europas zwischen römischer Mittelmeerwelt und Moderne (wie er in unserem Epochendenken steckt) in Frage gestellt. Im Gegenteil – durch die Aneignung ethnologischer Deutungsmuster (von „Ritual“ über „Gabentausch“ bis „Reinheit“, „Ehre“, „Face-to-face“-Gesellschaften und so weiter), konnte man die Leitideen des herrschenden Deutungsrahmens, also die Alterität des „mittelalterlichen“ Europa (der Christenheit) gegenüber dem „neuzeitlichen“ Europa (der Staaten), noch pointierter herausarbeiten. Die Leitdeutung „Vom frühmittelalterlichen konkreten Denken in personalen Beziehungen zum spätmittelalterlichen abstrakten Denken von politischen Institutionen“ bekam durch die ethnologische Wende Futter. Vieles von dem, was man bei den Ethnologen gelernt hat, taugte zur Archaisierung der beobachteten Kultur und damit zur Stabilisierung der Denkfigur „Mittelalter“.

Allerdings hatte die ethnologische Wende viele Seiten. Sie hat zwar einerseits, wie inzwischen deutlich ist, der Archaisierung der als „mittelalterlich“ vorgestellten Kulturen Vorschub geleistet. Andererseits aber hat die ethnologische Wende neue Kategorien und Beobachtungsfelder geöffnet, so das Feld der Verwandtschaftssysteme.18 Auch hat sie den Denkrahmen der historischen Diskussion verändert; es ging nun auch in der „Mittelalter“-Forschung um den globalen Vergleich statt um das lateinische Europa.19 Insbesondere war die ethnologische Wende der deutlichste Ausdruck für die Transformation des Faches in eine kulturwissenschaftliche Disziplin. Sie war auch in besonders ausgeprägter Weise selbstreflexiv und hat so (trotz der skizzierten systemstabilisierenden Effekte) die Grundlagen gelegt, um nun die Arbeit am Deutungsrahmen für die Geschichte des nachrömischen Europas zu leisten: Wie fügen sich all die Auflösungsleistungen der letzten Jahrzehnte zusammen – die Suche nach der Konstruierungslogik von Zugehörigkeit („Identität“), die Erforschung der entagled history oder histoire croisée, die Aufwertung des Kulturvergleichs, die Integration der Migrationsforschung in alle Phasen der Geschichtswissenschaft (was nicht zuletzt zur Abschaffung der „Völkerwanderungen“ geführt hat),20 die Aneignung der Post-Imperial Studies für die Erforschung weit zurückliegender postimperialer Räume – etwa jener nach dem Verschwinden des römischen Imperiums im Westen. Noch ist nicht absehbar, wie diese vielen Auflösungsanstrengungen zu einem neuen makrohistorischen Deutungsrahmen zusammengeführt werden, wie jene neuen Deutungsmuster der lateineuropäischen Geschichte aussehen können, die auf die außereuropäische Kritik am eurozentrischen Geschichtsdenken der Weltgeschichte eingehen, ohne die Grundpfeiler der lateinischen Gesellschaften – besonders Pluralismus, Universalität der Menschenrechte, Trennung von Religion und Politik – preiszugeben. Zu ahnen ist allerdings, welch enormen Aufwand es erfordern wird, diese Anstrengung durchzuhalten – von den fest im Sinne der alten Aufklärer zementierten Denominationen der Professuren bis auf die Ebene der Hand- und Lehrbücher, schließlich – besonders wichtig – der Schulbücher.21

1 Vgl. Bernhard Jussen, „Richtig denken im falschen Rahmen? Warum das ‚Mittelalter‘ nicht in den Lehrplan gehört“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 67 (2016), Heft 7/8.

2 Das Hippodrom mit seinen Zirkusparteien blieb bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts ein zentraler sozialer Ort; vgl. Gilbert Dagron, L’hippodrome de Constantinople (Bibliothèque des histoires), Paris 2011.

3 Der Senat verschwand im 13. Jahrhundert; im Überblick vgl. Peter Schreiner, Art. „Senat II. (Byzanz)“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, München 1995, Sp. 1745f.

4 Vgl. John Hutchins Rosser, Historical dictionary of Byzantium (Historical dictionaries of ancient civilizations and historical eras), Lanham 22012, S. 1f.; zu den Bezeichnungen der Hauptstadt vgl. Demetrius John Georgacas, „The Names of Constantinople“, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 78 (1947), S. 347–367; zu den Namen „Neues/Zweites/Anderes Rom“ vgl. ebd. S. 354.

5 Christoph Arens/Wolfgang Benz, „Pegida Rhetorik. ‚Abendland‘ als Kampfbegriff gegen Byzanz und Islam“, in: DIE WELT, 7. Jan. 2015: 〈http://www.welt.de/geschichte/article136100030/Abendland-als-Kampfbegriff-gegen-Byzanz-und-Islam.html〉 (Zugriff 12.05.2016).

6 Axel Schildt, „Vorwort“, in: Dagmar Pöpping, Abendland. Christliche Akademiker und die Utopie der Antimoderne 1900–1945, Berlin 2002; zu den 1950er Jahren vgl. Ders., Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre (Ordnungssysteme 4), München 1999.

7 Vgl. Christopher Dawson, Die Gestaltung des Abendlandes. Eine Einführung in die Geschichte der abendländischen Einheit, Frankfurt am Main – Hamburg 1961(englische Originalausgabe: Ders., The Making of Europe. An Introduction to the History of European Unity, London 1932); vgl. ferner Bernhard Dietz, „Christliches Abendland gegen Pluralismus und Moderne. Die Europa-Konzeption von Christopher Dawson“, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 9 (2012), S. 491–497.

8 Vgl. Hartmut Leppin, „Christianisierungen im Römischen Reich: Überlegungen zum Begriff und zur Phasenbildung“, in: Zeitschrift für antikes Christentum 16 (2012), S. 245–276; vgl. dazu ferner das Leibniz-Projekt „Polyphonie des spätantiken Christentums“ unter Leitung von Hartmut Leppin (Projektstart Oktober 2015).

9 Vgl. Walter Pohl/Helmut Reimitz (Hg.), Strategies of Distinction. The Construction of Ethnic Communities, 300–800 (The Transformation of the Roman World 2), Leiden 1998; Gerda Heydemann/Walter Pohl (Hg.), Strategies of Identification. Ethnicity and Religion in Early Medieval Europe (Cultural encounters in Late Antiquity and the Middle Ages 13), Turnhout 2013; Andre Gingrich/Christina Lutter (Hg.), Visions of Community. Comparative Approaches to Medieval forms of Identity in Europe and Asia (History and anthropology Special issue 26), London 2015; Eirik Hovden/Christina Lutter/Walter Pohl (Hg.), Meanings of Community Across Medieval Eurasia. Comparative Approaches, Leiden – Boston 2016.

10 Zur Problematisierung vgl. Walter Pohl, „Spuren, Texte, Identitäten. Methodische Überlegungen zur interdisziplinären Erforschung frühmittelalterlicher Identitätsbildung“, in: Sebastian Brather (Hg.), Zwischen Spätantike und Frühmittelalter. Archäologie des 4. bis 7. Jahrhunderts im Westen, Berlin – New York 2008, S. 13–26; und Helmut Reimitz, History, Frankish Identity and the Framing of Western Ethnicity, Cambridge 2015, S. 550–850, hier bes. in der Einleitung die Abschnitte „Reflections on Frankish identity“, „Identity and processes of identification“ und „Ethnicity and ethnic identity“.

11 Vgl. Rogers Brubaker/Frederick Cooper, „Beyond ‚identity‘“, in: Theory and Society 29 (2000), S. 1–47; Rogers Brubaker, Ethnicity without groups, Cambridge (Mass.) 2004; Ders., Nationalism reframed. Nationhood and the national question in the New Europe, Cambridge 1996; Ders., Grounds for difference, Harvard 2015.

12 Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial thought and historical difference, Princeton New Jersey 2000 (überarb. 2008); zunächst als Aufsatz erschienen: Dipesh Chakrabarty, „Provincializing Europe. Postcoloniality and the critique of history“, in: Cultural Studies 6 (1992), S. 337–357; modifizierte deutsche Version: „Europa provinzialisieren. Postkolonialität und die Kritik der Geschichte“, in: Ders., Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung (Theorie und Gesellschaft 72), Frankfurt am Main 2010, S. 41–65.

13 Zitat aus der modifizierten deutschen Version „Europa provinzialisieren“, S. 42.

14 Vgl. Jussen, „Richtig denken im falschen Rahmen?“ (wie Anm. 1).

15 Vgl. Celia Martin Chazelle/Felice Lifshitz/Simon Doubleday/Amy G. Remensnyder (Hg.), Why the Middle Ages matter. Medieval light on modern injustice, London – New York 2012.

16 Verwiesen sei auf die jüngst von zwei „Mittelalter“-Spezialisten publizierte Annäherung an die Denkfigur „Vormoderne“ in einem Buch, das immer wieder zwischen der institutionalisierten Trias und dem titelgebenden, an kaum einer Universität institutionalisierten Deutungsmodell wechselt: Klaus Ridder/Steffen Patzold (Hg.), Die Aktualität der Vormoderne. Epochenentwürfe zwischen Alterität und Kontinuität (Europa im Mittelalter 23), Berlin 2013.

17 Otto Kallscheuer, „Die Provinzialisierung Europas. Schriften des indischen Historikers Dipesh Chakrabarty“, in: NEUE ZÜRCHER ZEITUNG, 30. März 2011: 〈http://www.nzz.ch/die-provinzialisierung-europas-1.10077489〉 (Zugriff 12.05.2015).

18 Zu der Diskussion der Thesen des Ethnologen Jack Goody in der Geschichtswissenschaft vgl. Bernhard Jussen, „Perspektiven der Verwandtschaftsforschung zwanzig Jahre nach Jack Goodys ‚Entwicklung von Ehe und Familie in Europa‘“, in: Karl-Heinz Spieß (Hg.), Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters (Vorträge und Forschungen), Ostfildern 2009, S. 275–324; Die erste Übertragung des neuen Bildes des lateineuropäischen Verwandtschaftssystems in das Format des Handbuchs bietet: Michael Mitterauer, „Geschichte der Familie. Mittelalter“, in: Andreas Gestrich/Jens-Uwe Krause/Michael Mitterauer (Hg.), Geschichte der Familie (Europäische Kulturgeschichte, Bd. 1), Stuttgart 2003, S. 160–236.

19 Als Beispiele seien – neben der Verwandtschaftsforschung (Anm. 18) – die Diskussion um die Gabenökonomie sowie die historisch-anthropologische Emotionenforschung genannt; zur Gaben ökonomie vgl. Gadi Algazi/Valentin Groebner/Bernhard Jussen (Hg.), Negotiating the gift. Premodern figurations of exchange (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 188), Göttingen 2003; zur historisch-anthropologischen Emotionenforschung vgl. den bahnbrechenden Band: Hans Medick/David Warren Sabean (Hg.), Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 75), Göttingen 1984.

20 Dies zeigt trotz des irreführenden Titels: Walter Pohl, Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration, Stuttgart – Berlin – Köln 2002.

21 Für eine ausführlichere Erörterung und Beispiele dafür, wie das etablierte historische Makromodell die Stoffstrukturierung und die Stoffauswahl steuert, vgl. Jussen, „Richtig denken im falschen Rahmen?“ (wie Anm. 1).

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