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„Abendland“ – „Lateineuropa“ – „Provincializing Europe“: Bemerkungen zum poströmischen Europa zwischen alten und neuen Deutungsmustern BERNHARD JUSSEN

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„Christliches Abendland“ oder „pluralistische Identität“ – zwei antagonistische Formeln, die in diesem Buch als Ausgangspunkt dienen für ein Nachdenken über „Herkunft und Zukunft Europas“. Im Rahmen eines akademischen Diskurses bedeutet dies zunächst, dass die in den Formeln kondensierten Konzepte auf ihren Nutzen und ihre Funktion im akademischen Diskurs befragt werden müssen. Dabei versteht es sich, dass der akademische Diskurs in den Geisteswissenschaften immer und unausweichlich zugleich ein politischer Diskurs ist. Dennoch, auch dies ist selbstverständlich, unterscheiden sich die politischen Dimensionen des akademischen Diskurses von der Sprache und den Konzepten an Orten des unmittelbaren politischen Geschäfts, zum Beispiel des Parlaments. Auch wenn die Argumentation der Geisteswissenschaften notwendig politisch ist, so ist sie doch akademisch diszipliniert: Sprache und Konzepte der politischen Arenen – der Parlamente, Wahlkampfslogans oder Demonstrationszüge – sind für die akademische Diskussion zunächst einmal Beobachtungsgegenstände, nicht die eigene Sprache. Leitvokabeln wie „Abendland“ oder „Identität“ gehören eher zum Instrumentarium des unmittelbar politischen als des akademischen Geschäfts.

Meine Aufgabe als ein Historiker, dessen Kernbereich üblicherweise als „Mittelalter“ bezeichnet wird, ist von diesen politischen Diskussionen um „Abendland“, „Identität“ und „christlich“ zentral betroffen. Als akademische Vokabeln erzeugen sie Irritationen: „Abendland“ greift ausdrücklich über die sogenannte „Neuzeit“ zurück auch in jene rund eintausend Jahre des westlichen Europa, die als „Mittelalter“ von der „Neuzeit“ abgespalten werden (obgleich alle Fachleute wissen, dass das universalhistorische Makromodell „Antike–Mittelalter–Neuzeit“ ein Haupthindernis heutiger historischer Deutungen ist).1 Das Konzept liegt mithin quer zu dem fest institutionalisierten universalhistorischen Makromodell, das den tausend Jahren des „Mittelalters“ eine epochale Andersartigkeit – oder „Alterität“, wie man in den historischen Wissenschaften gerne sagt – gegenüber der „Neuzeit“ seit etwa 1500 nachsagt. „Christlich“ ist eine Vokabel, die mit Blick auf die Frage nach „Herkunft und Zukunft Europas“, wenig nützt; denn auch unter jenen Kulturen, die mit dem Konzept „Abendland“ ausgegrenzt werden, waren und sind christliche Kulturen. „Christlich“ ist mithin nicht das zentrale Distinktionsmerkmal von „Abendland“. Auch „Identität“ ist ein Schlüsselwort, das seinen alltäglichen Ort weniger in der akademischen als in der politischen Diskussion hat. In den Kulturwissenschaften der letzten zwei Dekaden ist es als Konzeptwort zunehmend aussortiert worden zugunsten von Umschreibungen wie „Identifikation“, „Strategien der Abgrenzung“, „Konstruktion von Gemeinschaft“ oder ähnlichem.

Ich werde im Folgenden zunächst diese konzeptuellen Minenfelder skizzieren und anschließend die konzeptuellen Probleme der makrohistorischen Modelle in den Blick nehmen.

Pluralistische Identität

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