Читать книгу Pluralistische Identität - Группа авторов - Страница 17

2. Makrokonzepte 2.1. „Provincializing Europe“

Оглавление

An sich hat sich herumgesprochen, was „Eurozentrismus“ ist, und dass es eine ebenso große wie notwendige Herausforderung ist, ihn aufzuspüren und auszutreiben. Doch dieser Eurozentrismus ist so fest institutionalisiert, dass er sich nicht ohne umfassende Reorganisation der historischen Entwürfe austreiben lässt. Das zentrale, inzwischen allgegenwärtige Stichwort, unter dem diese Aufgabe seit etwa der Jahrtausendwende neue Dringlichkeit bekommen hat, entstammt einem Buchtitel des in den USA lehrenden Inders Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe.12 Dabei geht es darum, die Position Europas im historischen Denken zu transformieren: vom theoretischen Maßstab der Weltgeschichte zu einer von vielen Weltprovinzen. Chakrabarty greift insbesondere das von den Aufklärern im 18. Jahrhundert etablierte, allein mit Blick auf die lateineuropäische Geschichte entwickelte, gleichwohl mit universalhistorischem Anspruch vorgetragene Makromodell „Antike–Mittelalter–Neuzeit“ an. Das Denkschema gilt ihm als Zeichen eines imperialen Gestus, da die (latein)europäische Geschichte durch dieses Dreierschema „im historischen Wissen als stillschweigender Maßstab fungiert“, und zwar für die gesamte Weltgeschichte. „Nur ‚Europa‘,“ so Chakrabartys inzwischen häufig zitierte Formel von 1992, „ist theoretisch erkennbar (das heißt kategorial, auf der Ebene der grundlegenden Kategorien, die das historische Denken prägen); alle anderen Geschichten sind Gegenstand der empirischen Forschung, die einem theoretischen Skelett, welches substantiell ‚Europa‘ ist, Fleisch und Blut verleiht.“13 Dieser inzwischen berühmte Satz fordert den gesamten Denkrahmen heraus, mit dem im Westen historische Deutungen strukturiert werden.

Es versteht sich zwar, dass die Geschichtswissenschaft permanent, in jeder Generation neu, mehr oder weniger fundamental die Deutungen verändert. Aber aus der Rückschau ergibt sich in der Regel der Eindruck, dass die Deutungsrahmen vergleichsweise stabil bleiben: die historischen Deutungen sind gefangen in einer Epochentrias, die vor 300 oder 200, auch noch vor 100 Jahren plausibel erschien. Mit Provincializing Europe aber wird dieser Deutungsrahmen, der vor sehr langer Zeit einmal plausibel war, selbst zum Dekonstruktionsziel intellektueller Anstrengungen.

Natürlich widerfährt dem alten Denkmodell aus den Tagen des Ancien Régime eine solche Attacke nicht zum ersten Mal. Spätestens seit den 1960er Jahren reiht sich eine Fundamentalkritik an die nächste.14 Aber diesmal sind die Stimmen gewichtiger, so dass die Karawane der europäischen Forschenden, der Handbuch-, Lehr- und Schulbuchproduzenten, vielleicht auch der publikumswirksamen Großausstellungsproduzenten, nicht einfach weiterziehen kann.

Warum sind die kritischen Stimmen diesmal gewichtiger? Erstens kommen sie nicht mehr aus dem Inneren des bisherigen Deutungsrahmens, also nicht mehr aus Westeuropa, sondern aus den Postcolonial und Subaltern Studies, initiiert von Vordenkern wie Edward Said und Gayatri Chakravorty Spivak in Columbia, Homi Bhabha in Harvard oder Dipesh Chakrabarty in Chicago. Diese nicht-westlichen Stimmen saßen und sitzen inzwischen auf den prominesten Professuren, die westliche Universitäten zu bieten haben. Und diese prominentesten Plätze sind nicht mehr in Europa. Der europäische akademische Betrieb kann also schon deshalb nicht einfach weitermachen wie bisher, weil sich das Zentrum der intellektuellen westlichen Produktivität aus Europa heraus über den Atlantik verschoben hat in die akademische Diskussionslandschaft der USA, die weit sensibler und offener ist für die Heterogenität kultureller Perspektiven als die europäische.

Was noch bis in die 1980er Jahre Frankreich gewesen sein mag, das sind heute die USA. Wenn dort, in den USA, die poströmischen, nordalpinen Kulturen im Einflussbereich der lateinischen Kirche vor Kolumbus überhaupt interessant sind, dann sicher nicht mehr lange unter ausgerechnet jenem Konzept „Mittelalter“, das die postkolonialen Intellektuellen zu Recht als imperial brandmarken. Diese externen Attacken mögen mehr Druck ausüben als die lange Reihe der westeuropäischen Fundamentalkritiker, die die Absurdität dieses universalhistorischen Makromodells oft genug – und weitgehend ohne Erfolg – vorgeführt haben. Es mag als Zeichen besorgter Hilflosigkeit gedeutet werden, wenn Mediävisten in Buchtiteln wie Why the Middle Ages matter die Relevanz der eigenen Zunft reklamieren.15

Anders gesagt: In den westlichen Diskussionen über die Konzeption von Geschichte sind die externen Stimmen, deren Argumente sich nicht wegdiskutieren lassen, inzwischen so prominent institutionalisiert, dass die deutsch- oder französischsprachige Geschichtswissenschaft in Europa nicht einfach mit ihrem alten universalhistorischen Makromodell „Antike–Mittelalter–Neuzeit“ weiterarbeiten kann. Absurd war dieses Festhalten an einem vor Jahrhunderten institutionalisierten Makromodell schon lange.

In den 1980er Jahren hat der heutige Erzbischof von Tamale in Ghana, Philip Naameh, in Münster studiert. Der Kirchenhistoriker Arnold Angenendt hat seinerzeit die Gelegenheit genutzt; er gab dem Studenten aus Ghana in jedem Semester Raum in der Vorlesung, um zu erzählen, durch welche Entscheidungsverfahren, als Philip Naameh ein kleiner Junge war, sein Stamm christlich geworden ist, wie die Missionare ihn, anders als seine Geschwister, für eine Schulbildung ausgesucht haben, was er in der Schule an westlichem historischen Standard erlernt hat, zum Beispiel zum „Westfälischen Frieden“, und wie enttäuschend der Friedenssaal in Münster viele Jahre später war. Geschichte war für diese Kinder eines gerade „bekehrten“ Stammes am Äquator ganz selbstverständlich europäische Geschichte – Peace of Westfalia und so weiter. Was den Studierenden der Kirchengeschichte in Münster einige Jahre lang in jedem Semester erneut exemplarisch vor Augen geführt wurde, ist heute längst kein zufälliger akademischer Erfahrungsbericht mehr; es ist ein deutlich artikulierter Stein des Anstoßes in der internationalen Geschichtswissenschaft.

Die sogenannte „Mittelalter“-Forschung arbeitet langsam, aber immerhin, daran, den Deutungsrahmen „Mittelalter“ abzulegen.16 Es versteht sich, dass dieser Versuch eine andere Art von Herausforderung ist als die Turns, die die historischen Wissenschaften in den letzten Jahrzehnten abgearbeitet haben. Denn ein Eingehen auf Provincializing Europe lässt sich nicht mehr integrieren in das institutionalisierte, dreiteilige Erzählmuster europäischer (und eben auch: globaler) Geschichte. Leicht noch ließen sich der linguistic, spacial, iconic, cultural usw. turn in das universalhistorische Makromodell der Aufklärer integrieren. Auch neue fundamentale Deutungskategorien wie gender oder die Emotionenforschung fanden ihren Platz im Rahmen des Epochendenkens. Die aktuelle Kritik aber, wie sie in der Formel Provincializing Europe gebündelt wird, wendet sich gegen den Rahmen als solchen. Die bisherigen turns waren politisch umkämpft, z.B. weil sie als marxistisch galten (linguistic), weil sie geltende Privilegien bedrohten (gender), weil sie das generell geteilte Postulat des Pluralismus einforderten (queer), weil sie die Hierarchie der Wichtigkeit von Wissen herausforderten (Emotionen).

Überdies ist die Forderung Provincializing Europe, an der die westliche Geschichtswissenschaft nicht vorbeikommt, zugleich eine Werte-Herausforderung, eine Herausforderung besonders für die Prinzipien des Pluralismus und die Vorstellung von der Universalität der Menschenrechte. Wie also können die historischen Geisteswissenschaften die Geschichte Europas provinzialisieren und zugleich ihre Prinzipien – besonders Pluralismus, Universalität der Menschenrechte – verteidigen? Hier geraten wiederum die disziplinären Kennerschaften in Unordnung. „Das moderne, zugleich imperialistische und universalistische Europa zur Provinz der Weltgeschichte zu degradieren, bedeute nicht, einem »kulturellen Relativismus« zu verfallen, betont Chakrabarty. Aber“, so hat Otto Kallscheuer das Problem formuliert, „wie soll das gehen? Nun, empirisch triftige und kulturell sensible Geschichtsschreibung der nachkolonialen Situation muss die Ambivalenzen zwischen Versprechungen des Fortschritts, religiösen Mythen, familiären Identitäten, sexuellen Stereotypen auch moralisch verstehen, statt sie als blosse Relikte einer (kapitalistischen, liberalen, aufklärerischen usw.) Prämoderne von der eigenen Gegenwart abzuspalten. – Da wird es allerdings schwierig, die reine Wissenschaft postkolonialer Geschichtsschreibung von den Identitätskonflikten ihrer Autoren zu trennen“.17 Die Aufgabe, diesen Spagat (auf den ersten Blick ein Dilemma) zu bewältigen, ist von grundsätzlicher Art.

Pluralistische Identität

Подняться наверх